Die Stars sind die Filmemacher |
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Reitz' Die andere Heimat – Begehren nach einer anderen Wahrheit. | ||
(Foto: Leonine Distribution GmbH) |
»Ich will nicht schlecht über euch reden, es ist ja doch nur primitiv/ Aber ich verabscheue euch wegen eurer Kleinkunst zutiefst«
(Tocotronic)
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Zwei Menschen stehen auf einem Staudamm herum. Sie sind allein, sonst ist keine Menschenseele zu sehen. Sie stehen da wie Statuen, unbeweglich, fast wie Untote. Die zwei, das ist nach wenigen Minuten klar, wollen den Staudamm sprengen, und wir schauen ihnen jetzt erstmal eine ganze Weile dabei zu, wie sie das anstellen.
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Sie scheinen sich schon etwas besser zu kennen, aber ein Paar sind sie nicht. Sie fahren durch South Dakota, sie halten in irgendeinem Camp von Ökoradikalen. Am Abend läuft ein Film, eine Dokumentation über böse Umweltverbrechen und den Untergang der Welt. Gegen Ende des Films heißt es aus dem Off eine »Army of individuals should stand up for the nature, for the people, for the planet.« Bei der anschließenden Diskussion verweigert sich die Regisseurin aber auf Nachfrage jedem Lösungsvorschlag – es gebe nicht »die« Lösung, sondern nur viele kleine. Das wird mit dem Blick der beiden Durchreisenden beschrieben, man teilt deren Spott, deren sarkastische Verachtung für Nichtstuer und Labersäcke.
Die zwei kaufen ein Motorboot, zahlen Cash. »Cash – the poor peoples money« heißt es. Das Boot heißt »Night Moves« und gibt Kelly Reichardts Film den Namen – das ist nicht nur mal ein schöner Name, sondern auch ein guter Einfall. Dana, die junge Frau ist deutlich klarer, cooler, härter als Josh. Das zeigt sich auch, als die beiden einen Dritten treffen, den Ex-Marine Harmon, und mit ihm Dünger kaufen, um daraus Sprengstoff zu machen. Das Boot wird dann damit
vollgestopft, es wird zu Wasser gelassen und nach einer knappen Filmstunde ist es endlich am Staudamm angelangt und der Zünder aktiviert. Puh!
Da hält ein Auto wegen einer Panne. Man schaut sich nervös an. Fährt dann zurück, um den Zünder wieder abzustellen.
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Geht’s noch? Was sind das denn für Terroristen? fragt sich der gemeine Zuschauer. Nur der Künstler, der ja von Natur aus besonders anteilnehmend ist, fragt sich das natürlich nicht. Der versteht den Terrorsoftie, wenn ihm plötzlich Skrupel kommen.
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Gottseidank ist alles rechtzeitig repariert und der Staudamm geht doch noch hoch. Unsere drei Supernasen fahren weg, durchqueren eine Polizeisperre – oh oh oh, das war aber knapp denkt jeder, der noch keinen Tatort gesehen hat, und weiß, dass es jetzt der Dramaturgie nicht zuträglich wäre, würden sie geschnappt. Dann trennt man sich. Wir folgen Josh, dem lahmarschigsten und nerdigsten der drei, der normalerweise auf einer Ökofarm Gemüse putzt.
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Der ist jetzt sehr nervös, immer wenn ein Auto kommt, obwohl da dann nur jemand drinsitzt, der Biosalat kaufen möchte. Und weil beim Staudammsprengen die Flutwelle irgendeinen Camper verschluckt hat, dessen Familie jetzt eine sympathische Webseite schaltet, werden unsere Möchtegern-Radikalen ganz traurig, und bekommen Gewissensbisse. Dana bekommt sogar einen schlimmen roten Hautausschlag, obwohl der auch von den Chemikalien stammen könnte, die sie gemischt hat. Die anfänglich halbwegs interessante, wenn auch lahm inszenierte Fallstudie mündet mit anderen Worten in Paranoia und ein unangenehm moralistisches Traktat, in die wohlbekannte amerikanische Schuld-Scheiße, die man in jedem zweiten US-Film irgendwann serviert bekommt.
Visuell symbolisiert das die Kamera, indem sie immer zu lange und zu bedeutungsvoll auf den Gesichtern steht, oder dann zurückfährt und sich nach oben schraubt, sodass wir irgendwann wie der liebe Gott, voller Güte aber auch sehr klar im Urteil auf die kleinen Sünderlein herabgucken.
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Die Menschen in Kelly Reichardts Filmen werden von Schauspielern wie Dakota Fanning und Jesse Eisenberg gespielt, sind aber scheinbar ungeschminkt (natürlich nicht wirklich, im Gegenteil ist es schwierig, sie so aussehen zu lassen), oft hässlich, ungewaschen, sie haben abgekaute Fingernägel, und die Maskenbildnerin hat ihnen gehörig Dreck auf die Hände geschmiert. Dieser heute leider viel zu häufige naturalistische Authentizitätsfetischismus macht Reichardts Filme so wenig besser, wie irgendwelche anderen. Nicht nur weil man den Maskenbildner als abwesend anwesend doch sieht. Sondern weil es die Konzentration des Zuschauers ablenkt vom Wesentlichen, gerade Distanz herstellt, wo es sie doch abbauen sollte. Night Moves könnte auch der Titel eines Film Noir aus den vierziger, fünfziger Jahren sein, und ganz ehrlich gesagt waren die Filme damals ja nicht schlechter, bloß weil es sich erkennbar um Studioproduktionen handelte.
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Hier muss es sich also um Kunst handeln – wenigstens dies ist bei Night Moves sofort klar, wenn auch sonst nichts, denn so vage, so ausdruckslos sind Menschen nur in einem bestimmten Typ von Kunstfilmen. Aufgeladene Banalität.
Das elegante kunstgewerbliche Verbergen des Eigentlichen, dieses ständige Wegschauen, immer wenn’s interessant wird, nervt am gegenwärtigen
Kunstkino zusehends. Die Form wird hier Ersatz für inhaltliche Leere, mehr aber noch für fehlende Haltung.
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Night Moves ist das Arty-Farty-Pendant zu The Company You Keep und The East. Irgendwie geht’s um Protest, Widerstand und – uiuiui – Terrorismus. Junge Junge. Und irgendwie auch nicht. Botschaften solle man mit der Post schicken labern solche Filmemacher dann gern, wenn man sie fragt, warum es nicht etwas klarer sein könnte, warum denn bitte alles vage gehalten werden müsse.
Im Presseheft behauptet die Regisseurin, der Film sei »a tale of suspense and a meditation on the consequences of political extremism. When do legitimate convictions truly demand illegal behaviors? What happens to a person’s political principles when they find their back against the wall?« Keine einzige dieser Fragen beantwortet der Film auch nur im Ansatz. Alles leere Behauptungen, aufgeblasene Banalität, Moralisieren.
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Interessant ist der Film nur insofern, als dass Reichardt indirekt zeigt, dass die ganzen Ökoaktivisten alles Loser sind, dass der Film klarmacht, warum es im Westen keine Revolution gibt.
»Das hätten wir besser gemacht« sagt auch Hans Hurch aus Wien, mit dem man so schön über Filme lästern kann, wie mit kaum einem anderen.
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Auch ansonsten zeitigt der Wettbewerb von Venedig in diesem Jahr bislang verhaltene Resultate. Die großen Höhepunkte bleiben ebenso aus, wie die totalen Reinfälle, wie die Filme, über die man sich streiten kann. Die bisher gezeigten Filme sind keine schlechten, aber auch nicht richtig gut. Inhaltlich sind es oft historische oder private Stoffe, kaum Filme, die sich mit unserer gemeinsamen Wirklichkeit oder der Politik auseinandersetzen, sich abarbeiten an der Gegenwart. Einzige Ausnahme eben Night Moves. Künstlerisch ist das Wettbewerbskino ein Kino der Aussparungen, des Verzichts, ästhetische Pädagogik, die insgesamt sehr asketisch und puritanisch wirkt – was natürlich auch etwas damit zu tun hat, dass hier viele Amerikaner laufen.
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Erwähnen muss man neben Reichardt zwei weitere US-amerikanische Produktionen: Parkland von Peter Landesmann, eine Rekonstruktion des Lebens von fünf Menschen an den vier Tagen um den Mord an John F. Kennedy in Dallas. as Ganze basiert auf einem Sachbuch, und der Film wirkt auch so – Reenactment mit bekannten Darstellern, von Tom Hanks produziert. Visuell lebt das vom »Mad Men«-Appeal der Sechziger-Ästhetik, mit Zigarettenrauch und Ledersesseln.
Politisch ist vieles falsch. Denn wenn man dem Film auch gern durchgehen lässt, dass er an der Mythologie des großen Kennedy und der Bedeutung des Tages von Dallas mitstrickt, dass er der Verselbständigung der Legenden nichts entgegensetzt, sie nicht relativiert, durchkreuzt, sondern durch Gravitas, Pathos und Musik noch auflädt, dann wird es doch zu blöde, und hier sehr kennzeichnend für unsere politisch-apathische, sozial-kindische Epoche, wenn alles auf eine denkbar banale privatistische Ebene heruntergebrochen wird, auf das sogenannte »menschliche Element«. Das ist natürlich Unsinn und Ideologie.
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Man kennt den Ausgang der Fahrt um die Ecke Elm Street/Huston Street. Das macht es dem Film nicht einfacher. Er verlegt sich auf die kleinen Anekdoten, die in ihrer Konkretheit im Einzelnen immer interessant sind. Aber völlig banal, fürs Große Ganze irrelevant. Oder was lernen wir, wie verändert es unseren Blick, wenn wir erfahren, wer eigentlich den Sarg von Oswald getragen hat. Dass man die Inneneinrichtung von Airforce One aufsägte, um den Sarg Kennedys hineinzubekommen, weil
der nicht im Gepäckfach transportiert werden sollte. Dass auf Kennedys Bauch, als er auf der Bahre ins Hospital fuhr Jackies rosa Chanel-Hütchen lag. Dass sich noch auf dem Rückflug auf dem blut besudelten Hals des einen Security-Typen Hirnspritzer Kennedys befanden. Wie der Secret-Service an den Zapruder-Film kam. Dass sich die Ärzte mit der CIA stritten, wo Kennedy obduziert wird. Dass Oswald im gleichen Hospital, dem Parkland, dass dem Film den Namen gibt, genau
einen Tag später lag, wie der Präsident, und vom gleichen Team operiert wurde.
Das wissen wir jetzt also alles. Was wir nicht wissen: Was bedeutet eigentlich »interessant«?
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Und dann Child of God vom Multitalent James Franco nach einer Novelle von Cormac McCarthy: Eine White-Trash-Studie in dessen Zentrum ein junger, tief gestörter Analphabet steht: Einsam und verwahrlost lebt er im Wald, und verliebt sich irgendwann in eine Leiche, mit bizarr schrecklichen Folgen. Wir müssen und werden über diesen Film noch länger schreiben, denn ganz schlecht ist der keineswegs. Es überwiegt aber alles die Frage, warum ein gebildeter studierter
bürgerlicher Mensch wie Franco sich für so einen Vollidioten interessiert, und warum es uns interessieren sollte, dem zwei Stunden auf den Fersen zu sei. Cormac McCarthy, klar. Francos letzter Film war eine Faulkner-Verfilmung.
Ähnlich wie Reichardt geht es hier um schöne Darstellung des Hässlichen; bei Franco ist alles aber viel viel ästhetisierter. Sein Blick aber auch viel mehr von oben herab.
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Sonnendurchstrahlt, schneebedeckt, blutbesudelt oder unschuldig scheinend – der Wald hat viele Gesichter und im deutschen Film noch einige mehr. Die ersten zwei Festival-Tage in Venedig standen im Zeichen dieses deutschen Kinos – gleich drei Filme von insgesamt fast neun Stunden Länge bildeten einen kleinen Marathon für sich, und für die Berichterstatter die berichten und die Förderer und Darsteller, die sich feiern lassen wollten. Besonders bemerkenswert war auch die
– neben den Waldbildern – zweite Gemeinsamkeit der deutschen Filme: Als drei kommen ohne einen einzigen Star aus, und verzichten fast völlig auf bekannte Gesichter – sieht man einmal von Marita Breuer ab, die in Edgar Reitz' Die andere Heimat die Mutter des Helden spielt, und so den Kreis zu ihrem Auftritt in der Hauptrolle von Reitz' erster Heimat vor 33
Jahren schließt, von Steffi Kühnert, die im gleichen Film eine Nervensäge von Schwiegermutter verkörpert, und von Jördis Triebel, die als Mutter zweier »Wolfskinder« in Rick Ostermanns gleichnamigem Debüt nach 15 Filmminuten einen kläglichen Tod stirbt.
Ansonsten unbekannte, aber spannend anzusehende Gesichter. Die Stars sind in Venedig die Filmemacher.
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»Die Dinge nehmen erst einen Sinn an, wenn sie zu Ende sind – denn dann beginnt die Geschichte.«
(Jean-Luc Godard)
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Kino sei zeigen, nicht nachher drüber reden, schrieb ich neulich. Da beginnt auch schon ein Irrtum unseres Freundes Philip Gröning, jedenfalls ein halber Irrtum. Denn der freute sich am Wochenende, dass nach der Premiere seines Films soviel darüber geredet worden sei, »und zwar über die richtigen Dinge«, also nicht darüber wieviel der Film gekostet habe, und wo gedreht wurde. Das ist natürlich schön, vor allem für einen Regisseur, und kann doch meiner Ansicht nach nicht der Hauptsinn der Sache sein. Die Stärke von Grönings Film, in dem selbst übrigens bemerkenswert wenig geredet wird, ist denn meiner Ansicht auch das was er zeigt, und wie, und nicht was man nachher drüber redet, wobei ich mich da ganz ausdrücklich einschließe. Denn erstmal stammelt man, sucht man einen Weg durch das, was man gesehen hat. Die Frau des Polizisten von Philip Gröning im Wettbewerb ist ein Film, der einen tagelang durchs Festival begleitet, mit dem man so schnell nicht fertig wird.
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»Anfang Kapitel 1« erklärt ein Insert. da ahnt man noch nicht, was kommt. Auch als nach knapp zwei Minuten ein zweites Insert erscheint, und erklärt »Ende Kapitel 1«, ist dies im Kino ein Lacher. Man glaubt an einen Gag des Regisseurs, aber spätestens bei Nummer 5 schleicht sich die Erkenntnis ein, dass das so weitergeht, und die Kapitel nur in Ausnahmefällen länger als 5 Minuten sind. 175 Filmminuten, da kommt man auf eine Menge Kapitel, und wenn man die Blenden mit den »Anfang« und »Ende« wegließe, wäre der Film bestimmt gut 20 Minuten kürzer. Muss das so sein? Eher nicht, aber es muss uns schon klar sein: Der Regisseur will sein Publikum erziehen und auch ein wenig nerven, freundlicher ausgedrückt in einen Zustand bringen.
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Das erste Kapitel zeigt einen Wald, den Blick durch Bäume hindurch, ein Tier, das such bewegt, und eine Schärfenverstellung. das erinnert uns gleich zu Beginn an unsere Situation: Wir sind Beobachter und in diesem Fall sollten wir es genau nehmen damit. Vielleicht geht es auch für uns vor allem darum, dass man die Dinge sehr unterschiedlich betrachten kann.
Im Kino wie überhaupt in der Kunst kann man die diejenigen, die handeln, nie genau von denjenigen unterscheiden, die die Anderen beim Handeln beobachten. Man weiß auch, dass Beobachtung selbst Handlung ist. Das gilt auch dann, wenn man sich selbst wie hier gewissermaßen beim Beobachten beobachtet, und wiederum weiß, dass man umgekehrt vom Film dabei beobachtet wird. Gröning bringt uns in die interessante, nicht gut erprobte Position, uns selbst als Beobachter zu beobachten, zugleich wie ein Profiler Indizien zu sammeln, Puzzlestücke zu ordnen.
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Auch der Film selbst glänzt vor allem mit genauer Beobachtungsgabe. In knapp 60 Kapiteln, im Wechsel der vier Jahreszeiten und auf einer Länge von fast drei Stunden, die die Geduld des Publikums ebenso strapazierte, wie sie sie immer wieder belohnt, erzählt Gröning von einer Kleinfamilie am Niederrhein nahe der holländischen Grenze. Der Vater ist Polizist, die Mutter kümmert sich liebevoll um die kleine Tochter. Mit Ostereiersuchen im Wald beginnt alles. Doch allmählich bekommt die Idylle sanfte Risse, die zu Abgründen werden: Der Vater ist gewalttätig, die Mutter hilflos – im Rückblick wirkt der Film als Vorgeschichte einer Tragödie, und zeigt Familie als »Terrorzusammenhang« (Alexander Kluge), als private Hölle. Die Familie wird zu Laborobjekten einer Versuchsanordnung. Konterkariert wird das durch Tiere und anderes Wilde, das immer wieder in das scheinbar geregelte Leben der Menschen einbricht.
Unerschrocken und elegant gelingt Gröning ein ebenso rätselhafter wie klarer Film über die Beobachtbarkeit der Welt, der den Zuschauer unerlöst entlässt.
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»Der Film handelt ja nicht nur von der häuslichen Gewalt, sondern er handelt auch, als Gegenpol von der Übertragung von Liebe zwischen Mutter und Kind, was natürlich auch ein universelles Phänomen ist, wie wir alle wissen, denn sonst würden wir gar nicht existieren.«
(Regisseur Philip Gröning über seinen Film)
Allerdings: ist der Film zu lang, und die Idee der Kapitel keine wirklich gute.
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Durch Komik und heitere Gelassenheit abgefangen wird die Tragik der Familiengeschichte in Edgar Reitz' Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht. Zum vierten Mal wendet sich Reitz seinem Lebenswerk zu: Der Reales und Fiktion mischenden Geschichte des Dorfes Schabbach in den Wäldern des Hunsrück. Nachdem er in den ersten drei Teilen das Wechselverhältnis zwischen Alltagshistorie und großer Weltgeschichte im 20.Jahrhundert bis zur Jahrtausendwende fortgesponnen hatte, geht Reitz nun zurück ins 19. Jahrhundert in die Zeit des Vormärz zwischen 1840 und 1847. Die Feudalherren versuchen die in den Revolutionen erkämpften Rechte der Bürger wieder zurückzuschrauben, während die Bauern hungern, von Missernten, Seuchen, hoher Kindersterblichkeit heimgesucht werden, wie auch Handwerksmeister wie die Schmiede-Familie Simon darben. Viele wanderten aus, Deutsche waren damals Migranten. Der jüngere Sohn, Jakob träumt vom Auswandern nach Amerika. Dazu wird es nicht kommen, doch bis das sicher ist, vergehen vier Filmstunden mit einer dichten, und ebenso leidenschaftlichen wie unsentimentalen Beschreibung eines Dorflebens vor 170 Jahren. Edgar Reitz hat eine einmalige Art Geschichten als epische Chronik zu erzählen, deren Ruhe und Schönheit – Schwarzweiße Bilder, die Gernot Roll filmte und die oft an niederländische Malerei erinnern – in Italien noch viel mehr gefeiert wird, als in Deutschland: Der proppevolle, mit erstaunlich jungem Publikum gefüllte Saal reagierte nach der Premiere mit minutenlangen standing ovations – sie waren verdient. Und der 81-jährige Reitz wirkte in seiner Freude mindestens 15 Jahre jünger.
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In die Heiterkeit der Feier mischt sich ein trauriger Gedanke: War das Reitz letzter Film? Wenn er in dem Tempo weitermacht, dann ist er das nächste Mal, bei Heimat 5 über 90. Damit ist gar nichts gegen das Tempo gesagt, im Gegenteil: Denn dieser engagierte Schwerarbeiter macht ja mit jeder Heimat-Folge immer zwei, drei Filme.
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Carlos hat Edgar Reitz interviewt und schwärmt: »Wie Marc Aurel – von Altersweisheit aufgeladen.«
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Was ist die Methode Reitz? Vielleicht ist es der Ort, der mich nach der Verwandtschaft zum Neorealismus fragen lässt. Auch bei Reitz haben die Figuren immer eine überaus präzise soziale Position. Das Geschehen zwischen Einzelnen und der Gruppe, die manchmal wie ein Chor wirkt, manchmal wie eine sozialer Körper für sich, ist immer verbunden. Beziehungen werden visuell hergestellt. Auch hier wieder hat der Regisseur in Jakob ein Alter Ego und er begibt sich auf Augenhöhe mit seiner Figur, seinen Protagonisten.
Wieder Schwarzweiß und zwischendurch wenig Farbe. Auf die hätte ich gut verzichten können, sie hebt zu betont hervor. Der Ansatz ist der einer Chronik. Mehr »und dann, und dann«, als der dramatische Bogen. In Schillers Gegensatzpaar des Naiven und des Sentimentalischen steht Reitz fürs Naive. Im Stilisierten, ist er anti-sentimental, kühl, und dabei voller einer Sehnsucht, Romantik. Das Symbolische und das Historische stehen bei ihm gleichberechtigt nebeneinander. Man denkt auch ein paarmal an Novecento.
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Eine Poesie, die in den Bildern genauso liegt, wie in schönen Sätzen: »Es ist der Menschen Natur, Ernst zu machen.« Und: »Freiheit ist nicht das Gegenteil von Gefangenschaft. Sondern etwas in uns.«
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Wie genau ist das Historische? Gut recherchiert in jedem Fall. Eine skeptische Gegenthese: Warum hat die Dritte Heimat damals nicht so gut funktioniert? Vielleicht, weil wir die Welt gut kannten, um die es da ging, selber in ihr lebten. Weil wir von ihr im Film nichts Neues entdecken konnten, weil wir es besser wissen. Weil das Bild der Gegenwart schief war.
Wie aber, wenn nun Reitz' Bild der Vergangenheit genauso schief wäre wie das der Gegenwart?
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Der Zufall möglicherweise. Er ist ein wichtiger Hauptdarsteller in Die Andere Heimat. Schon in früheren Teilen rückte der Regisseur die Zufälligkeit in Liebesdingen ins Zentrum. Wer zusammenfindet und glücklich zusammenlebt, ist nicht immer der, der zusammengehört, oder gar »füreinander bestimmt« war.
Ein anderer Hauptdarsteller ist die Neugier der Menschen. Die Weltentdeckung, der Aufbruch, der es schon bei den Argonauten in einem seiner ersten Filme im Zentrum stand. Das Begehren danach, eine andere Wahrheit zu suchen. Die Wissenschaft und hochfliegenden Träume werden in Schabbach immer konterkariert durch die Bodenständigkeit und Enge, auch durch den Ernst des Handelns. Richtig verspielt wirken Reitz Figuren selten.
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Demgegenüber wurde Wolfskinder in der Orrizonti-Sektion verhaltener aufgenommen. Rick Ostermann hat seinen Malick gesehen und erzählt in seinem Debüt ein spannendes Thema, auf den Spuren von Roberto Rossellinis Deutschland im Jahre Null: Es geht um einen Haufen verlorener, elternloser Kinder auf der Flucht in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Sie schlagen sich durch Blaubeer-Wälder und Insekten-Sümpfe durch, ohne Kontakt zur Erwachsenenwelt. Trotzdem nur selten märchenhaft. Im Überlebenskampf fallen sie wieder in einen tierhaft-primitiven Zustand zurück. Die Ungerührtheit der Kinder ist fantastisch. Tolle Kinderdarsteller ragten hervor in einem Film, der insgesamt mutig, aber unentschlossen wirkt, und sein Sujet bei allen ästhetischen Dezenz manchmal zu spekulativ und effekthascherisch und dabei zu brav behandelt.
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Beifall schon beim Logo von The Wind Rises. Hiyao Miyazaki gehört nach Venedig. Das einzige, was uns an Hiyao Miyazaki richtig unsympathisch ist: Er verwandelt Filmkritiker in Fanboys und manchmal in Vollidioten, »cretini« wie der Italiener sagt. Die Sympathie ändert nicht daran, verstärkt nur den Schmerz der Erkenntnis, dass The Wind Rises ein richtig schwacher langweiliger Film ist. Der Titel zitiert Paul Valerys berühmte Zeile »Le vent se leve ... il faut tenter de vivre.« Einmal mehr erzählt Miyazaki von Fliegerträumen, und von Fortschritt und Imperialismus, von den Träumen des 20.Jahrhunderts, von denen wir uns immer noch erholen müssen.
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Es beginnt 1918, ein kleiner Junge in Japan liest englische Zeitschriften, träumt vom Fliegen. Eine Idylle, die kleine Schwester bewundert den Bruder. Im Traum begegnet er Giovanni Battista Caproni, einem genialen Flugzeugingenieur. Im Traum reden sie miteinander. Der Kleine wird größer, studiert, wird Ingenieur bei den Mitsubishi-Flugzeugwerken, einer der besten. Er ist Jiro Horikoshi und hat wirklich gelebt, der Film ist ein Biopic, ganz ohne Geister und Transzendenz, wie sonst Miyazakis Filme. Auch fast ohne Apokalypse. Nur bei den Szenen, die das große Erdbeben von Tokio 1923 beschreiben, kommt es einmal zu der Verbindung aus Poesie und Abgrund, die Miyazakis Werk sonst so unnachahmlich macht.
Ansonsten ist das zunächst noch ganz interessant als halbdokumentarische Betrachtung der Fliegerei-Geschichte im frühen 20. Jahrhundert, der G 38 von Junkers, dem japanischen Blick auf Deutschland mit Schubert und Thomas Mann, einem Dessau ohne Bauhaus, einem Deutschland ohne Not und Nazis. Nur ein Emigrant sagt einmal düster ahnend »Japan wird hochgehen« (»blew up« in den Untertiteln).
Dann aber beginnt zu Mozarts Cosi Fan Tutte eine kitschige Liebesgeschichte, der Emigrant klimpert »Das gibt’s nur einmal, das kommt nie wieder, das Girl hat mit TB die romantischste aller Krankheiten, man schleppt sich aber so durch, und Held Jiro hat am ende endlich den Mitsubishi ›Zero‹-Jäger konstruiert, mit dem Japan dann Pearl Harbour angreifen und Kamikaze-Flüge fliegen wird.
Politisch hab ich dagegen wenig, solange der Film nicht wegguckt. Weil er
aber genau das tut, den Krieg einfach gar nicht zeigt, ist dieser Film nicht nur höllisch langweilig, sondern auch politisch die Hölle.
Entsprechend trotzig war am Ende der Beifall der Kritiker-Cretini.«
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Aber trotzdem bitte nichts gegen Japaner! Wie es geht und dass sie besser von Apokalypse erzählen können, beweist Shinji Aramakis Harlock – Space Pirate 3D. Eine epische Geschichte, im arg cleanen Look von »Final Fantasy«. Trotzdem spannend, schön, Matrix meets Star Wars – eine Geschichte über Freiheit jenseits des Gesetzes, über die Einsamkeit des Menschen, mit einer Ökomessage und viel Empfinden für Untergangsgefahren.