67. Filmfestspiele Cannes 2014
Der Heiligenschein oder: Hilary Swank |
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Wahnsinn trifft Western: The Homesman | ||
(Foto: Universum Film GmbH / 24 Bilder Film GmbH) |
»Three crazy women for five weeks is a lot more than I bargained for. You gonna meet three kinds of people around here: Those, who don’t wanna see crazy people. You gonna meet vagabonds, who will surely rape you. And then there are the Indians, who kill you.«
The Homesman
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Eigentlich kam es mir vor, als sei es fast gestern gewesen: Die Premiere von The Three Burials of Melquiades Estrada, der ersten eigenen Regiearbeit des des US-Schauspielers Tommy Lee Jones schien allenfalls fünf, sechs Jahre her zu sein. Tatsächlich aber war es schon 2005 gewesen. Erst jetzt präsentiert Jones seinen zweiten Film, einen der überraschendsten Beiträge und eine sehr ungewöhnliche Mischung aus gediegener Klassik, Genrestereotypen und ungewöhnlichen Herangehensweisen – einer der positiv überraschendsten Filme bislang.
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Eine Abfolge aus Tableaus menschenleerer Landschaften eröffnet den Film. Melancholische Country-Musik erklingt. Wir wissen, wir sind im Western-Country, irgendwann spätestens in den frühen 20er Jahren, eher noch ein paar Jahrzehnte zuvor, und schon verkündet ein Insert: Nebraska, 1855.
Dann sieht man Hilary Swank, ihr knochiges Gesicht in Großaufnahme, das sofort ganz aus der Epoche zu stammen scheint, was natürlich eine doppelte Illusion ist, weil man sich das Gesicht auch auf
einer Photographie aus der Großen Depression vorstellen könnte, und weil fast alle hier im Theatre Lumiere sowieso wissen, dass es sich um Hilary Swank handelt. Ich konnte mit dieser Darstellerin noch nie richtig viel anfangen, irgendetwas stößt mich an ihr – nicht nur ihren Rollen – ab, und spätestens seit Million Dollar Baby trägt Swank auch eine Meryl-Streep-hafte Bedeutsamkeit
vor sich her, einen Heiligenschein der eigenen großen Darstellungskunst, von der Swank selbst offenbar unbedingt überzeugt ist – und die bei Streep übrigens schon längst ironisch gebrochen ist, aber dazu kommen wir später.
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Swank also bei der Feldarbeit, und das sieht dann natürlich echter und glaubwürdiger aus, als wenn da jetzt Joan Crawford oder Lana Turner hacken und jäten würden, aber trotzdem eben wie eine Hollywood-Schauspielerin, die hackt und jätet. Natürlich ist sie (anders als Crawford oder Turner) so geschminkt, dass sie ungeschminkt aussieht, natürlich ist der Dreck besonders dreckig, der Wind sehr windig, und der Gaul vorm Pflug bockig. Und die Klamotten sehen aus, als würden sie am Leib richtig kratzen.
Wir sehen also Swank eine ganze Weile herumpflügen, und dann den Gaul in den Stall bringen. Der Film hat ganz offensichtlich schon mal sehr die Ruhe weg.
Dann kommt ein Nachbar vorbei, man redet worüber Menschen von heute glauben, dass man so geredet hat an den langen Abenden an der Frontier, ohne Fernsehen und Telefon, vom Internet ganz zu schweigen, man redet über den Pie – »its a really good pie« –, und was man so gemacht hat »in the East«. Irgendwann gibt
es Hausmusik. Pech nur, dass es kein Instrument gibt. Also »spielt« Swanks Figur auf einer Decke, in die eine Klaviertastatur eingehäkelt ist, und singt dazu. Der junge Mann, der ihr Gast ist, schläft dabei ein – nicht die erste Enttäuschung für die Frau, und nicht die letzte: Denn als sie wieder am Tisch sitzt, redet sich nicht lange um ihr Anliegen herum: »Marry me!« Sie kann gute praktische Gründe vorbringen, aber der Nachbar winkt ab, ebenso mit guten praktischen Gründen:
»You are very judgemental«. Und verlässt fluchtartig das Haus.
Da wissen wir schon, dass Swanks Figur Mary Bee Cuddy heißt, dass sie mit 31 noch (!) unverheiratet ist, und das nicht ganz ohne eigenes Zutun, und zu alldem Sperrigen, auch Unsympathischen, trotzdem Interessanten, passt diese Darstellerin schon mal wieder ganz gut.
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Der Wahnsinn trifft den Western in The Homesman, einer Literaturverfilmung, die in Nebraska zur Zeit der Indianerkriege angesiedelt ist. Denn die nächsten rasch aufeinanderfolgenden Bilder und Szenen sind apokalyptisch: Wir sehen eine kleine Farm, in der alle Tiere durch eine Seuche gestorben sind. Dann später trägt die Frau ihr jüngstes Kind, einen Knaben, apathisch im Arm zum Plumpsklo und wirft es in der Sickergrube. Eine zweite Frau beschimpft ihren Mann, dass er die Leiche der eben gestorben Mutter nicht im Haus lässt. Wir sehen, dass der Mann die Frau vergewaltigt, wir sehen ihr gefühlloses, brutales Zusammenleben ihre Verwahrlosung gepaart mit Aggressionen. Dann sehen wir eine dritte junge Frau, die völlig weggetreten scheint.
Die Dorfgemeinschaft des kleinen Siedlerstädtchens will die drei Frauen, die zur Arbeit nicht mehr taugen, und dem harten Leben nicht mehr gewachsen sind, entsorgen. Und Swanks unverheiratete Mary Bee, bekommt den schwierigen, gefährlichen Auftrag, die drei psychisch kranken Weibsbilder aus der Frontierregion zurück in zivilisiertere Gegenden und in die Obhut eines kirchlichen Irrenasyls zu bringen – in einer zum Gefängniswagen mit vergitterten Fenstern umgebauten Kutsche, in ein er wochenlangen Reise durchs Indianergebiet und Wüsten. Zu ihrem einzigen Helfer wird der Drifter Georges, ein Taugenichts und Einzelgänger (gespielt von Regisseur Jones selber), zwangsverpflichtet.
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Und so geht es im Schritttempo voran: Die Pferde heißen Grace und Redemption, aus der Kutsche erklingt während der Fahrt das Wehgeheuel der Frauen. Sie repräsentieren drei Typen von Verrücktheit: Die Apathische. Die Melancholisch-Depressive. Die Manisch-Exaltierte. Bei allen dreien hat der Wahnsinn etwas mit Kindern und Mütterlichkeit zu tun: Die eine hat drei Kinder verloren, die zweite eines umgebracht, die dritte keines bekommen.
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Der Film beginnt so, dass ich mich sehr langweilte und schnell rausgehen wollte. Ich blieb aber drin, denn er wurde besser und besser und entfaltete nach etwa einer halben Stunde einen seltsamen Sog. Es geht hier um das, worum es im Western immer auch geht: Um Zivilisation und Barbarei, auch die innere, die die Zivilisation infiziert. Um das Barbarische der Regeln und Gesetze. Es geht auch um religiösen Fanatismus, denn es sind hier vor allem die Wahnsinnigen, die von Gott reden: »God will strike you down«.
Genauso wahnsinnig wie die drei Frauen stellt sich aber Mary Bee heraus. Wer es nicht schon ahnte, als sie auf einer Häkeldecke Klavier spielte, dem wurde es klar, als sie zurückbleibt um ein unbekanntes Grab wieder zuzuschaufeln, dann die Schaufel vergisst und tagelang braucht, um die Kutsche wieder einzuholen. Sie bittet auch George um die Heirat, und als er sich verweigert, zwingt sie ihn geradezu zum Beischlaf. Als er am nächsten Morgen aufwacht, hat sie sich aufgehängt. Sie hängt sich auf, weil sie eigentlich genauso verrückt ist, wie die anderen.
Auch sonst sind eigentlich alle Frauen in diesem Film wahnsinnig: Am Schluß als die Kutsche glücklich über einen großen Fluß in Iowa angekommen ist, hat Meryl Streep einen kurzen Auftritt als frömmlerische Leiterin des Irrensayls – nur an einer anderen Form von Wahn leidend. Die einzig Normale ist eine 16-jährige, die Jones' George am Ende im Hotel bedient, und der er von seinem letzten Geld das erste Paar Schuhe schenkt.
Es gibt atemberaubende Momente – etwa eine Stadt, die nur in Form abgesteckter Grundstücke existiert. Ein Investorenprojekt. Das einzige Haus vor Ort ist ein luxuriöses Hotel, das auf potentielle Käufer wartet.
Als der Hotelbesitzer, das ist ein weiterer sehr starker Moment, der Frauenkutsche die Hilfe verweigert, rächt sich Jones' George, indem er nachts zurückkommt und das Hotel niederbrennt – und die Insassen gleich mit.
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Wahnsinn und Western also, mit einem Hauch von Cormac McCarthy-Apokalypse. The Homesman ist ein origineller Western, der dessen Klischees aufgreift, sie so originell wie schlüssig abwandelt und gelegentlich ad absurdum führt – zugleich ein streckenweise kluger Beitrag zum Thema Geschlechterbeziehungen, der auch der Jurypräsidentin und erklärten Feministin Jane Campion gefallen könnte – dann würde Tommy Lee Jones am Samstag als Frauenversteher belohnt werden.
Was will uns Tommy Lee Jones damit aber sagen will, ist unklar. Was ist die Botschaft am Ende? Das Amerika immer schon wahnsinnig war? Oder möchte er uns nur eine gute Geschichte erzählen?
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Um dem Wahnsinn zu begegnen, muss man in Cannes allerdings nicht ins Kino gehen. »I am not invisible!« ruft mir eine Amerikanerin zu, als ich drei Meter vor ihr über den Roten Teppich gehe. Offenbar fand sie ich hätte ihr irgendwie den Weg versperrt. Engin, Kritikerfreund aus der Türkei, der zum ersten Mal in Cannes ist – »a Cannes virgin« nennt das ein Freund – begegnete beim Türkischen Empfang einer Frau, die in einer Schüssel Essen vom Büffet einsammelte, offenbar um es mit nach Hause zu tragen, und die ihn dann ansprach: Sie sei Armenierin. Was Sie den im Leben so tue: »I live in Germany and I run the Berlin-Film-Festival.« Auf die gelbe (also rangniedrige) Farbe ihrer Akkreditierung hingewiesen: »Here I am for someone else.«
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Mads Mikkelsen, Eva Green, und der französische Ex-Fußballnationalheld Eric Cantona – das waren nur einige der internationalen Top-Stars des Kinos, die in einem zweiten Western zu sehen sind. Der kommt aus Dänemark: The Salvation von Kristian Levring zeigt außer Konkurrenz Mads Mikkelsen im Jahr nach Michael Kohlhaas als eine Art Kohlhaas des Wilden Westens: Ein Mann, der den Mord an Frau und Sohn und weitere Schicksalsschläge blutig rächt. The Salvation ist nach gutem Beginn am Ende nicht mehr als eine leere Genrevariation. Der Film ist etwas einfallslos und reicht nicht über sich hinaus.
Aber auch hier hält der Wahnsinn Einzug ins Land von John Ford und Howard Hawks, besonders in Eva Greens atemberaubender, zwischen Gut und Böse schillernden Figur einer von Indianern lebenslang gezeichneten Frau: Ihr wurde von Indianern die Zunge herausgeschnitten, weil sie ununterbrochen schrie, während sie die Ermordung ihrer Eltern mitansehen musste.