67. Filmfestspiele Cannes 2014
Formen der Gewalt |
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Bruno Dumonts P'tit Quinquin | ||
(Foto: ndm International) |
Von Dieter Wieczorek
Eigentlich ist die »Quinzaine« trotz ihrer nur dritten Position in der Cannes-Sektions-Hierarchien ein Ort, um Neuentdeckungen zu machen und sich überraschen zu lassen. 2014 war angesichts der nur geringen Anzahl von überzeugenden Filmen nicht gerade ein Spitzenjahrgang. Die Öffnung zum Gengrefilm tut der Sektion kaum gut.
Glücklicherweise bietet das Pariser »Forum des Images« dem Publikum die Möglichkeit, die gesamte Quinzaine-Filmauswahl bereits eine Woche nach Cannes noch einmal sehen zu können, und unter wesentlich konzentrierten Umständen als während des Cannes-Stresses.
Gleich zwei der für ein abschließendes Dossier über Cannes 2014 wirklich zu nennenden Filme kamen aus Israel, die weder auf das ewig gleiche Schemata von Erwartungserzeugung und Erfüllung zurückfallen, noch sich begnügen, die üblichen Mechanismen der Spannungs- und Emotionserzeugung zu perpetuieren.
At li layla (Next to her) von Asaf Korman (*1982) beschreibt das ebenso schwierige wie glückserfüllende Zusammenleben zweier Schwestern, deren eine, Gabby, geistig behindert ist. Chelli opfert viel Zeit und Energie für sie. Sie folgt all ihren Wünschen und Bedürfnissen. Dann lernt sie einen jungen Mann kennen, der mit großer Sensibilität sich in dieser Umgebung spezifischer Riten und Gepflogenheiten einfügt. Vorsichtig versucht er, Celli von ihrer an Selbstaufopferung reichenden übermassigen Fürsorge abzuringen. Kormans erster Spielfilm hat nicht zuletzt den Verdienst, aufzuzeigen, wie schwer es ist, wirklich die Empfindungen von Gehandikapten zu antizipieren. Die Konstellation dieser drei ungleichen Persönlichkeiten gerät in eine schwere Krise, als Gabby plötzlich schwanger ist. Kormans besticht durch seine überaus subtilen Beobachtungen. Der Autor mehrerer Kurzfilms war bereits 2007 mit seinem Film Mata shel Shulas (Der Tod Shulas) zu Gast in der »Quinzaine«. Hier begleitete er einen älteren Mann auf seiner letzten Fahrt mit seinem eingeschläferten Hund. Seine Sensibilität für spezifische Situationen war bereits hier evident.
Erneut zeigen Ronit und Shlomi Elkabetz in ihrem Film Gett, The Trial of Viviana Amsalem den Irrsinn der Eheriten und der anachronistischen Jurisprudenz in Israel auf, in einem Situationspotpourri, das zwischen Groteske und Tragödie hin und her oszilliert. Vergeblich kämpft eine Frau von einem Gerichtstermin zum nächsten über Jahre hinweg um ihre Scheidung, die ihr Mann ihr verweigert, wie sich langsam herauskristallisiert aus offensichtlich sadistischen (und masochistischen) Gründen. Er weigert sich, seiner Frau Lebenslust und Lebensfreude zuzugestehen, lebenslang. Das Regie-Geschwisterpaar kredenzt die gesamte Hypokrisie und Scheintoleranz des patriarchalisch-orthodoxen Israel mit seiner am Talmud orientierten Rechtssprechung, von der keine Spur abgewichen wird, koste es, was es wolle. Die Ehemänner können auf physische Gewalt verzichten. Der Gesetzapparat arrangiert für sie die Applikation psychischer Gewalt mit dem Ziel der Unterwerfung der Frau. In ihrem letzten gemeinsamen Film Shiva (2008) behandelten die Elkabetzes eine Familiendramaturgie sadistischer Abrechnungen. Doch bereits 2004 stand eine Ehefrau im Zentrum, die sich vergeblich aus ihrer Ehe zu befreien versucht (Ve' Lakta Lehe Isha). Die Elkabetzes offerieren in schonungsloser Weise eine stagnierende Gesellschaft, unfähig zu jeder inneren, wenn auch noch so notwendigen Dynamik. Gewiss, eine Auflehnung ist möglich, aber nur um den Preis der Ausschliessung.
Die Ehe aus der Sicht physischer Gewalt bringt dagegen Diego Lerman in Refugiado auf die Leinwand. Die argentinische Produktion zeigt eine Frau mit ihrem Sohn auf der Flucht vor einem bipolaren Mann, der zwischen Gewaltkaskaden und Phasen der Reue und Zuneigung hin und her pendelt. Seine Identitätsschwankungen erschweren der Frau, und weit mehr noch dem gemeinsamen Sohn, Abstand zu nehmen und eine endgültige Entscheidung zu treffen. Der Film, ganz gedreht aus der weiblichen Perspektiv, zeigt ihre panische Flucht aus dem gemeinsamen Wohnung, ihre weitere Flucht aus einem Asyl ohne jede Perspektive, hin zu einer Verwandten aufs Land. Doch auch dahin dringen die Telefonanrufe des Ehemanns. Lermans einfühlbare Weise, zugleich die Gefühlsambivalenz der Frau und die emotionalen Schwankungen des Sohnes auszuloten machen seinen Film so sehenswert. Der Ehekonflikt transformiert sich zu einem weiteren zwischen Mutter und Sohn. Der Schüler wird gezwungen, sein gesamten Freundeskreis hinter sich zu lassen, angesichts einer lediglich antizipierten Gefahr. Die Solidarität mit seiner Mutter hat ihre Grenzen...
Einen überaus Eigenwilligen, selten seltsamen Film brachte Bruno Dumont mit P'tit Quinquin nach Cannes. Er verblüfft über seine immerhin 200 Minuten Spielzeit immer wieder aufs Neue. Die Länge wird kaum spürbar. Seine besondere Kunst ist, glaubwürdig skurrile Charaktere nahezu serienweise vor den Augen der Zuschauer zu erschaffen. Mit Genuss huldigt er der wilden Anarchie der Provinz, wo Inkompetenz, Dümmlichkeit, Anmassung, Bizarres, Gefährliches und viele schräge Freuden in ständigem Reigen eine beeindruckende Situationschoreographie schaffen. Dumont verzichtet diesmal gänzlich auf Dämonisches und Transzendentes, die seinen Film Hors Satan (2011) noch kennzeichneten. Gewaltszenerien und die Entgrenzung des Funktionellen, wie ebenso sein in langen Einstellungen sich manifestierende insistierende Blick auf die einzelne Figur, alles bereits Charakteristika in L’Humanité (1999), kehren hier wieder, doch in überraschend scherzhafter, leichter Form. Dumonts Film ist eine Liebesbezeugung an die »Loser« und ihre Freuden, an die Unzivilisiertheit und Lebenslust der Provinz, an eine Welt, in der Überwachungskameras noch nicht installiert sind.
Bereits in dem einflussreichen Sundance Festival gewann Damien Chazelles Whiplash nicht nur den Hauptpreis, sondern auch den Publikumspreis. Der US-amerikanische Film brilliert durch seine eindringliche Darstellung eines Schüler-Lehrer-Verhältnisses, das man mit psychologischer Terminologie als sadomasochistisch beschreiben könnte. Doch oft greift Psychologie zu kurz. Dies zu zeigen ist nicht mindestes Verdienst des Filmes Chazelles. Worum es eigentlich geht, ist Selbstüberschreitung und Meisterschaft. Diese ist ohne Leiden nicht zu haben. Das Aufeinandertreffen der Wertsysteme – Glück und leichte Bestätigung hier, Meisterschaft dort – in Szenen zu kristallisieren, ist die eigentliche Leistung Chazelles. Ein erfolgsverwöhnter Jazzensemble-Lehrer fordert alles von seinen talentierten Studenten. Besonders ein junger Schlagzeuger fällt ihm auf, der zu Anfang nur Notenblätter umdrehen darf. Dann beginnt der lange Weg seiner Bewährungsgeschichte. Der Lehrer nutzt ein weites Panorama zwischen Zuckerbrot und Peitsche, um zu seinem Ziel zu kommen. Immer wieder provoziert, verunsichert, entwürdigt und demütigt er seinen Schüler. Der junge Mann pendelt zwischen Bewährungslust und Aufgabe. An einer Stelle droht das Tableau zu kippen. Der Lehrer verliert seinen Job, der Schüler gibt verunsichert sein Spiel auf. Doch die beiden begegnen sich erneut, eine neue Runde der Herausforderung beginnt, auf einem nun noch einmal erhöhten Reflexionsniveau. Es braucht nicht betont werden, dass Jazzenthusiasten in Whiplash auf ihre Kosten kommen. Mindestens die Hälfte des Szenarios ist im Probe- oder Konzertsaal situiert. Doch die eigentliche Pointe ist und bleibt zu zeigen, welch existenzieller Preis zu zahlen ist, will man sich einschreiben in die Geschichte der Meisterschaft, welchen Metiers auch immer. Die letzte Szene bleibt unvergesslich und wird in die Geschichte des Musikfilmes eingehen. Ja, es ist ein Happy End, doch hier verzeihbar und konsequent.