67. Filmfestspiele Cannes 2014
Blickwechsel zwischen Menschen und Tieren |
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Der Hund von Godard |
Von Nino Klingler
Jean-Luc Godard filmt seinen Hund. Im Wald, alleine, tollt er umher, kackt ins Gebüsch, rollt sich im Schnee, schnuppert durchs Unterholz. Doch dann – mehrfach wird diese Einstellung in Adieu au langage wiederkehren – wendet sich das Tier um, und blickt aus unermesslich dunklen Augen in Richtung uns. Das Bild friert ein, und Godard zitiert den Beginn aus Rilkes Achter Duineser Elegie: »Mit allen Augen sieht die Kreatur ins Offene«.
Just in seinem ersten 3D-Film, der alles Maschinenmögliche unternimmt, um uns Zuschauer die enormen technologischen Abstraktionsleistungen des Kinos körperlich spüren zu lassen, werden wir mit der Möglichkeit einer unverstellten Wahrnehmung konfrontiert. Man muss diese Situation, man muss den sich in ihr abzeichnenden Abstand, zu bemessen versuchen: Ein Hund, ohnehin kein primär optisch wahrnehmendes Tier, blickt auf im Wald und schaut in die zwei Linsen der billigen Consumer-3D-Kamera seines Herrchens, auf dass dieser in zwei übereinanderliegende Bilder verschobene Blick sich weiter bohrt, reflektiert über die Leinwand, zerlegt über die schwere stereoskopische Brille auf die beiden Zuschaueraugen, und dann, im Gehirn erneut vereint, anlangt als ein mythisches Gegenüber des Publikums. Das undenkbar Einfache versus das hinter allerlei mechanischen Arrangements Verschüttete.
Godard kehrt so auf verschlungenen Bahnen zu einem alten filmtheoretischen Traum zurück. Das mechanische Kameraauge galt oftmals schon als Korrektiv für die immer durch Interessen, Erinnerungen und Gefühle verzerrte Menschenwahrnehmung. Neutral, weil interesselos. Der bewusstseinsfreie Tierblick (eine diskussionswürdige Setzung, aber dazu später mehr) ist dem Objektiv daher vielleicht näher als der menschlichen Pupille. Es klingt paradox, aber gerade der technologische Tempel Kino könnte dafür geeignet sein, die Welt mit den Augen des Tieres wahrzunehmen.
Neben dem hochverdichteten Reflektionskristall Adieu au langage haben sich bei den 67. Filmfestspielen Cannes noch andere Filme dem Verhältnis des Menschen zu seiner tierischen Umwelt gewidmet. Meistens jedoch tauchte das Tier dort nicht in seiner Eigensinnigkeit, in seiner erkenntnistheoretischen Herausforderung fürs menschliche Bewusstsein, auf, sondern blieb metaphorisch in die humane Selbstbefragung mit eingemeindet.
Zum Beispiel in Nuri Bilge Ceylans Gewinnerfilm Winter Sleep, wo ein wildes Steppenpferd gebändigt und gefangen, in eine Höhle gesperrt und vom charakterlich langsam zerbröckelnden Hauptprotagonisten nächtens mehrfach besucht wird. Am Ende entlässt er das Tier in Freiheit, und muss sich gleichzeitig eingestehen, dass er alle Menschen um sich nicht minder mit Worten gefesselt hatte. In Saint Laurent (Bertrand Bonello) fällt der Mops des Modegottes den Drogen zum Opfer. Daraufhin wird er durch immer neue, äußerlich identische Hunde zu ersetzen versucht: Austauschbare Modeaccessoires, an denen sich das Drama der Oberflächlichkeiten abzeichnet, dem YSL ausgeliefert ist. Später, mit Drogen im Blut und am Rande des Wahns, wird er in Angstfantasien von Schlangen umkrochen. Die Schlange ist auch, jedoch auf strikt metaphorischer Ebene, in Oliver Assayas' Sils Maria ein Symbol der kriechenden Einsicht des Kontrollverlusts.
Le meraviglie (Alice Rohrwacher) setzt ebenfalls ganz massiv auf tierische Symbolik, wenn der Tochter eines Imkers als Zeichen ihrer beginnenden, den Familienfrieden gefährdenden Geschlechtsreife, eine Biene aus den Lippen kriecht. Als wolle er sie allegorisch trotzdem ans Kindsein fesseln, kauft ihr der aufbrausende Vater ein Kamel und bindet es im Bauernhof an einem Pflock fest. Und in Leviathan (Andrey Zvyagintsev) gerinnen die die Barentsee durchpflügenden Riesenwale zur Metapher für den alles plattwalzenden, korrupten russischen Staat: Der biblische Leviathan und derjenige Hobbes', das Ungetüm der Meere und das der Gesellschaft, werden eins.
In Abderrahmane Sissakos Timbuktu ist das Schicksl nomadischer Hirten und das ihrer Herden innig miteinander verwoben, und so führt der Mord an einer Kuh zum Mord an einem Menschen. In Bruno Dumonts grandioser Miniserie P'tit Quin'quin werden Mensch und Tier derweil auf groteske Weise eins: Im Anus einer toten Kuh werden menschliche Überreste geborgen. »La bete humaine«, kommentiert ein Polizist trocken.
Drei Filme jedoch gingen über diese im Bereich vertrauter Sinngebungsstrukturen zu verortenden, eher literarischen Bezüge auf das Tierische insofern hinaus, als dass sie die von der unseren radikal unterschiedene animalische Wahrnehmungweise formal als Herausforderung begriffen. Neben Godard waren dies der Un certain Regard-Gewinner White God (Kornél Mundruczó) sowie Pascale Ferrans Bird People (ebenfalls Un certain regard). Zwischen ihnen lässt sich ein Trialog dazu entspinnen, was der Mensch vom Tiere lernen könnte, wo er ihm unterlegen ist, und auch: welche moralische Verantwortung er der Tierwelt gegenüber trägt. »200 Jahre nach 1789 wurde die UN-Tierrechtskonvention verabschiedet«, grummelt Godard aus dem Off. 25 Jahre später ist es noch immer geboten, dass wir unsere Haltung zum Tier beständig hinterfragen. Vielleicht ist das Kino genau dafür geeignet. Weil es uns durch seine Fähigkeit, die gewöhnliche Wahrnehmung durch eine alternative zu ersetzen, sensibilisieren kann für einen Bezug zur Welt, der nicht der unsere ist.
Godard verfolgt bei seiner Konfrontation von Menschen- und Hundeblick strikt philosophische, genauer gesagt erkenntnistheoretische Interessen. Er stellt, da ist er ganz der alte Dialektiker, der vom Bewusstsein und damit Selbstbezogenheit korrumpierten Menschenwahrnehmung den enigmatischen, ins Offene ziehenden Tierblick gegenüber. Wie heißt es bei Rilke dazu: »[…] dass ein Tier / ein stummes, aufschaut, ruhig und durch uns durch. / Dieses heißt Schicksal: gegenüber sein / und nichts als das und immer gegenüber.« Eine Versöhnung zwischen beiden Standpunkten gibt es, wenn, dann nur in abstrakten Gefilden. Das ist so etwas wie die analytisch ernüchterte Variante von Werner Herzogs Blickwechsel mit dem Bär in Grizzly Man (2005), in dessen Augen der Postromantiker Herzog nichts als die ihn schaudern machende, ungerührte Bestie erkennen konnte.
Das Tier konfrontiert uns dabei immer auch mit der unerfüllbaren Sehnsucht, genau wie es in einer sensomotorischen Einheit mit allem um uns zu verschmelzen. Aber wir bleiben bei Godard weit weg, hinter Projektoren, stereoskopischen Brillen und Leinwand vergraben. Mit seinen physisch fordernden 3D-Experimenten strebt Adieu au langage somit sowohl zurück zu archaischen Kinoträumen nach Bewusstseinssuspension, wie er sie im Umkehrschluss durch ganz brecht'sche Verfremdungen (übereinander flimmernde Schriftzüge, Kopfweh induzierende Doppelbilder) immer wieder zerstört. Das macht die Ehrfurcht gebietende Aktualität seines jüngsten Streichs aus: Er stößt das Kino gleichzeitig in offene Zukünfte wie in verschüttete Vergangenheiten. Aber auf allem prangt das Zeichen des Scheiterns: »Und wir: Zuschauer, immer, überall, / dem allen zugewandt und nie hinaus! / Uns überfüllts. Wir ordnens. Es zerfällt. / Wir ordnens wieder und zerfallen selbst«, schreibt Rilke. Das könnte man fast als Zusammenfassung für Godards wunderbar kaputten Sehnsuchtsruf nach dem Unerreichbaren werten. Der Blick seines Hundes, er ist so fordernd wie unergründlich.
Bird People von Pascale Ferran ist da weniger gehemmt. Hier herrscht der Glaube vor, dass in der ästhetischen Situation des Filmsehens auch die Wahrnehmung befreit werden kann. Und das, wiederum, vermittels dem Blick des Tieres.
In der zweiten Hälfte ihrer insgesamt etwas naivlichen Romanze mit Flughafensetting gibt es eine magische Verwandlung. Das Zimmermädchen Audrey steigt auf das Dach ihres Hotels, und plötzlich sackt die Kamera herab. Es
folgen immer nähere Aufnahmen der betonen Dachumfriedung, bis kleinste Details – Kratzer, Risse, Bröckchen – zu erkennen sind. Dann sehen wir einen Spatz auf dem Boden sitzen, und Audreys Piepsestimme aus dem Off ruft: »Was ist passiert?«
Ungefähr eine halbe Stunde lang wird Audrey nun in Spatzenform über die nächtliche Pariser Peripherie flattern, und der Film gestaltet diese Passage als euphorische, außerkörperliche Extase – sogar David Bowies Major Tom darf lauthals nach der Ground Control rufen. Was erzählerisch von der emotionalen Befreiung einer verschlossenen, träumerischen Einzelgängerin erzählt, ist formal zuallererst eine, wenn auch mit Ängsten durchsetzte, Feier der Bewegungsmöglichkeiten der Kamera, durchaus im Sinne Vertovs. Noch einmal Rilke: »Und wie bestürzt ist eins, das fliegen muß / […] Wie vor sich selbst / erschreckt, durchzuckts die Luft, wie wenn ein Sprung / durch eine Tasse geht. So reißt die Spur / der Fledermaus durchs Porzellan des Abends.«
Für Ferran ist die »Vogelperspektive« eine Möglichkeit, die Abstände von Welt und Auge neu zu ordnen. Ganz weit oben am Himmel, ganz nah dran am Boden, so könnte man es zusammenfassen. Die Autobahnkreisel werden zu ornamentalen Formen, und der Körper eine schlafenden Mannes wird aus Makroperspektive nahezu unsichtbar: »Was ist das?« fragt Audreys Stimme aus dem Off. Immer seltener wird sie, die bei ihren ersten Flugversuchen noch hysterisch kicherte, zu hören
sein.
Gemeinsam mit Audrey werden wir angehalten, unsere Wahrnehmung allmählich animalisch zu verfremden. Lange Passagen sind aus ihrer vogelhaften Ego-Perspektive gedreht, damit sich zuallererst ein somatisches Gefühl für die unverbrauchten Bewegungsmöglichkeiten einstellen kann. Wenn später dann die Sonne aufgeht und Ferran im Stile gewöhnlicher Tierreportagen einer Gruppe Spatzen beim Körnerpicken und Formationsfliegen zuschauen, dann sind die Sinne bereits enorm
geschärft für das Erkennen mikroskopischer Interaktionen zwischen den Vögeln. Da gibt es Draufgänger und Mitflieger, und insgesamt herrscht fast anarchische Freude am puren Bewegen.
So ersetzt Bird People kinetmatopgraphisch unseren erdverbundenen Wahrnehmungsapparat und die damit verwobenen Körperempfindungen durch eine flatterhafte, auf und ab zischende Fremdwahrnehmung. Der Zuschauer wird für das Vogelhafte sensibilisiert, indem er ästhetisch für kurze Zeit dessen Platz einnimmt. Im Idealfall wird diese Erfahrung dann aus dem dunklen Saal in die Außenwelt schwappen: Die Möwen über dem azurnen (ja, die Küste trägt ihren Namen nicht zu Unrecht) Mittelmeer, man sieht sie nun anders.
White God geht da in die inszenatorisch entgegengesetzte Richtung: Wo Ferran viel auf subjektive Kameraeinstellungen setzt, da zieht uns Regisseur Kornél Mundruczó vor allem mit Mitteln klassischer Montagelehren in das Leben Budapester Straßenhunde. Er macht nicht unserer Wahrnehmung animalisch, sondern bereitet tierisches Leben antropomorph auf. Ganz ähnlich wie in Jean-Jaques Annauds Naturfilm-Melo Der Bär (1988) kommt es so zu einer beizeiten tränenseligen, aber emotional verwirrend tiefen Erzählung von einem ausgestoßenen Köter.
Nicht nur das Titel-Anagramm gemahnt dabei an Samuel Fullers Rassismus-Klassiker White Dog (1982), wo ein schneeweißer deutscher Schäferhund (weil er so trainiert wurde) blutige Jagd auf dunkelhäutige Amerikaner macht. White God erzählt demgegenüber vom Mischlingshund Hund Hagen, der in einem emotional komplett erkalteten Ungarn, wo auf Gemischtrassigkeit Strafe steht, von Hundefängern verfolgt und von einem diabolischen Trainer für den Hundekampf abgerichtet wird. Deutlich ist da eine Parabel auf den unter Victor Orbans Regierung wiedererstarkenden ungarischen Nationalismus und dessen faschistischen Stil zu erkennen, aber die allegorischen Verweise eliminieren mitnichten das Feld, über das sie hergestellt werden. White God bleibt eine stark emotionalisierende, anteilnehmende Geschichte von einem gedemütigten Hund in der menschlichen Gesellschaft.
Die beiden tierischen Hauptdarsteller (einer für die liebe, einer für die spätere brutale Kampfhundversion Hagens) schauspielern im engeren Sinne, wenn sie zwischen Zähnefletschen und traurigen Hundeaugen ständig wechseln und so den »inneren« Gewissenskonflikt, den Kampf zwischen Bestie und Kameraden, ausfechten. »Der Hund ist das einzige Geschöpf, dass den Anderen mehr liebt als sich selbst«, sagt Godard. Diese These stellt White God ziemlich radikal in Frage, ebenso wie den Gedanken Rilkes, das Tier sei aufgrund seines fehlenden Bewusstseins frei. Denn vielleicht ist es die richtige Strategie, den Tieren pro forma Bewusstsein zu unterstellen, um uns moralisch leichter ihnen gegenüber verorten zu können.
Ein Beispiel soll illustrieren, wie Mundruzcó seinem animalischen Helden filmisch mit Geist und Denkfähigkeit ausstattet: Hagen steht an einer Straße. Schnitt auf die rote Ampel, Schnitt zurück auf seine neugierig schauenden Augen. Die Ampel springt auf Grün, Hagen quert die Straße. Über derartige Kuleshow-Schnittfolgen werden filmische Sinngebungsverfahren und das tierische Welterleben miteinander verschaltet. Analog ist die ganze Geschichte organisiert: Hagen findet einen Terrier-Freund, wird von Macho-Straßenhunden verprügelt, flüchtet vor den Hundefängern. All diese Sequenzen sind nicht anders aufgelöst als klassisch geschnittene Action- und Coming-of-age-Filme. Bei der erbarmungslosen Zurichtung zum Kampfhund leiden wir mit Hagen mit, bei seinem anschließenden Rachefeldzug empfinden wir den gerechten Zorn des Vigilante. Gemeinsam mit hunderten von ihm aus dem Zwinger befreiten Schicksalsgenossen verursacht Hagen am Ende Chaos auf den Straßen Budapests, und wir Zuschauer sind ständig imaginär an seiner Seite.
Wo wir in Bird People dazu angehalten sind, unsere Körpererfahrung an den Spatzen abzutreten, da leihen wir den Hunden in White God quasi unser Bewusstsein. Mithilfe etablierter Montageregeln und Genrecodes lockt uns Mundruczó so zu einer solidarischen Identifikation mit den in Städten, in der modernen menschlichen Gesellschaft insgesamt ausgegrenzten Tieren. Der Effekt ist ein doppelter: Er kann über die Bande der Tierfabel die politische Situation seiner Heimat kritisieren, und andersherum – quasi der PETA-Move – unser Verhalten gegenüber Tieren mit faschistischen Methoden vergleichen.
Die Leichtigkeit, mit der das Kino tierische Standpunkt menschenzugänglich machen kann, ist sowohl bei Bird People als auch White God frappierend. Die von unserer Alltagswahrnehmung gefugten Verstrebungen zwischen sinnlicher Erfahrung und angenommener Konstitution der Welt können im Kino frei reorganisiert werden. Aber beide Filme scheuen die wirkliche, die tiefe Auseinandersetzung mit der tierischen Situation, die Godard so stark macht. Sie zehren vom filmischen Vermögen, andersartige Erfahrungsweisen zu inszenieren, während der Altmeister von einem prinzipiellen Unvermögen, von einer Inkommensurabilität der Standpunkte überzeugt scheint. Beides ist wichtig, und beides regt zu denken an. Und beides zeugt von einer ernsthaften, nicht-paternalistischen Auseinandersetzung mit der Situation der Tiere. Cannes im Jahre 2014 war also auch für sie ein gutes Festival.