06.11.2014
Cinema Moralia – Folge 95

Nach­richten aus der Konsens­fa­brik

Die Böhms - Architektur einer Familie
Die Böhms – Architektur einer Familie
(Foto: RFF Real Fiction Filmverleih eK)

»Filmkritik in 140 Zeichen«, Staublungen und anderes aus der bösen Welt und dem Leipziger Dokumentarfilmfestival – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 95. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Es gibt auch Hirn-Ebola«, sagte neulich die Redak­teurin eines öffent­li­chen Fern­seh­sen­ders, und die das sagte, weiß bestimmt, wovon sie redet. Arthouse- und Titel-Ebola gibt’s auch. Wo das Kunstkino hingeht, wenn es vom Arthouse-Virus erfasst wird, das zeigt exem­pla­risch das aktuelle Programm des an sich verdienst­voller Labels »Good Movies!« Ein Auszug aus der Neuer­schei­nungs­liste: Monsieur Claude und seine Töchter; Alois Nebel,  Violette; Suzanne; Rosie. Diese Namen­sin­fla­tion ist die reine Ratlo­sig­keit.

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Ein echter Inde­pen­dent-Film und das Gegenteil von »Arthouse« ist Dragan Wende – West Berlin, der jetzt fast zwei Jahre nach seinem Sieg im Max-Ophüls-Doku­men­tar­wett­be­werb doch noch ins Kino kommt.
Lena Müller und Dragan von Petrovic erzählen in ihrem Debüt mit viel Ironie vom Leben von Jugo­slawen, die im West-Berlin der 70er und 80er Jahre von Türste­hern zu kleinen Fürsten des Nacht­le­bens wurden. Der jugo­sla­wi­sche Pass war »der beste der Welt«, denn man konnte die Mauer in beide Rich­tungen unbe­hel­ligt über­queren. Es gab Frauen, Drogen und Cham­pa­gner im Überfluss – aber ab 1990 war es mit dem Glück schnell vorbei. Heute arbeitet Dragan wieder als Türsteher in Wilmers­dorfer Puffs, und ist froh, wenn das Geld für Bier und Wodka reicht – aber immer noch trägt er weiße Slipper zum leicht beschmud­delten weißen Anzug, hält die Kippe lässig in der Linken; ein cooler Drifter »lost in tran­si­tion«.
Dragan Wende – West Berlin ist eine spannende, sehr gelungene poetische Archäo­logie des verges­senen Berlins des Kalten Kriegs, und vergisst auch das Ost-Berliner Nacht­leben nicht, wo sich die Tran­sit­gäste austobten...
Der Film läuft außer in Berlin (Sputnik, Kino Krokodil, B-Ware Ladenkino, Film­rausch­pa­last) auch in Hannover, München, Saar­brü­cken, Magdeburg und Fürs­ten­walde.
Am Samstag, 8. November läuft er in einem Special Screening anläss­lich des Mauerfall-Jubiläums im Kreuz­berger Kiezkino Sputnik (17:45 Uhr; Karten-Reser­vie­rung nur direkt übers Kino) und am Sonntag, 9. November in einem Double Feature Special im Film­rausch­pa­last Moabit zusammen mit Pink Floyd The Wall.

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Am Tisch mit einem Schau­spieler auf einem Film­fes­tival: »Wann fährt mein Shuttle? Wie komme ich da zum Bahnhof? Ich hab für die Party später keine Einladung« (Btw: Es gibt gar keine Einla­dungen, aber seit zehn Minuten reden wir darüber, dass jeder reinkommt). »Ist das morgen eine richtige Pres­se­kon­fe­renz? Oder nur so nach dem Kino mit Publikum? Muss ich da da sein? Ach, wenn das nur ein so kleines Kino ist, dann bleib ich dafür nicht. Der Kurzfilm vor meinem Film, der ist ganz schreck­lich.«
Diese Selbst­be­zo­gen­heit. Diese wahn­wit­zige Eitelkeit. Dieser grandiose Narzissmus. Warum nehmen sich viele Schau­spieler so wichtig, und warum benehmen sie sich gleich­zeitig wie Klein­kinder?

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Doku­men­tar­filme kommen erfreu­li­cher­weise ohne Schau­spieler aus. Trotzdem hab' ich mich beim Leipziger Dok Fest erstmal geärgert. Gleich zur Ankunft bekommt da jeder Besucher ein Kärtchen in die Hand gedrückt, das auch überall rumliegt. »Film­kritik in 140 Zeichen« steht da, daneben »Und? Wie war der Film gerade?« Das soll kumpelig klingen, klingt anbie­dernd, und ist die Auffor­de­rung über Filme auch noch auf Twitter Meinungen in die Welt hinaus­zu­schei.... zu schicken. Es ist alles Mögliche, letzt­end­lich eine Landplage, nur eines ist es bestimmt nicht: Das ist keine Film­kritik. Es verdirbt aber den Begriff »Film­kritik« beim Publikum, das es leider bitternötig hat, einen klareren Begriff von Film­kritik zu bekommen.

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Auch wenn ich mich im Folgenden kurz halte: Mehr als 140 Zeichen müssen es sein. Die Böhms – Archi­tektur einer Familie heißt ein Film, der im nächsten Frühjahr ins Kino kommt, und der zum Besten gehört, das ich beim Leipziger Dok-Fest gesehen habe. Sehr bürger­lich, sehr gediegen, ein Film über Geistiges und der Versuch Gedanken darzu­stellen, Kultur. Insofern das Gegenteil der meisten Leipzig-Filme. Da passt er dann doch gut hin, weil es auch um die Dynamik der Familie des Archi­tekten Gottfried Böhm (94) und seiner Söhne geht. Drei der vier Söhne sind ebenfalls Archi­tekten. Der eine von ihnen hat übrigens den Neubau der HFF München (und der ägyp­ti­schen Sammlung nebendran im gleichen Bau) verant­wortet.
Ein weiteres Highlight im Leipziger Programm war Meine Mutter, ein Krieg und ich von Tamara Trampe. Nicht die übliche Familien-Eltern-Sinnsuche, sondern unsen­ti­mental, dadurch emotional. Die Geschichte von Trampes Mutter, die eine Soldatin der Roten Armee war, und ihr Kind – TT – im Krieg zur Welt brachte. Eine Hohelied auf alle anti­fa­schis­ti­schen Solda­tinnen, auf alle Kämp­fe­rinnen überhaupt. Und wieder einmal die Erfahrung, dass Trampe eine der besten deutschen Filme­ma­cher ist – meilen­weit unter­schätzt.

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Mit der Goldenen Taube im Inter­na­tio­nalen Wett­be­werb Doku­men­tar­film wurde Les règles du jeu (»Rules of the Game«) der Franzosen Claudine Bories und Patrice Chagnard ausge­zeichnet. Das ist ein Film über drei Jugend­liche aus bildungs­fernen Milieus – sie heißen Lolita, Kevin und Hamid und werden in einer Arbeits­ar­chi­tektur gedrillt. Jargon und Verhal­tens­weisen, alles ist aussichtslos. Beste Absichten, aber wenn es nicht so traurig wäre, wär’s auch grotesk lustig.

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Weitere Licht­blicke: The Agreement über diplo­ma­ti­sche Verhand­lungen und ihre Akteure. Innen­an­sichten der Politik. »The Auction House« – zwei Brüder in Indien und Vaters Firma. Fami­li­en­sinn trifft auf Global Economy. Eine Kultur­ge­schichte des Stachel­drahts. So far, so good – alle diese Filme haben aber keine Preise gekriegt. Gute Jury halt. Jurys finden immer faule Kompro­misse, erst recht wenn man sieht, wer da diesmal wieder drin saß.
Eine der wenigen Ausnahmen war immerhin ein Neben­preis: Thomas Heises Städ­te­be­wohner, der inhalt­lich bedeutend ist, aber eben auch künst­le­risch, ästhe­tisch etwas zu sagen hat.

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Das dies­jäh­rige Festival war das letzte des Leiters Claas Danielsen. Es war ein frei­wil­liger Abschied, selbst­ge­wählt, es gab keinerlei Genörgel oder Kritik oder Querelen im Hinter­grund. Der Abschied wird allgemein bedauert, man hätte ihn gern behalten. Und er wechselt auch nicht auf einen anderen Posten in gleicher Funktion. Das alles muss man betonen, denn das ist ja eine große Ausnahme im deutschen Kultur­be­trieb, wo das Sessel­kleben noch viel verbrei­teter und viel lang­fris­tiger ist, als schon in der Politik. Man verklärt das dann zwar als Nach­hal­tig­keit, aber gerade Film­fes­ti­val­di­rek­toren in Deutsch­land amtieren von zehn Jahre an aufwärts, und wollen offenbar alle warten, bis man sie 'rausträgt – Beispiel Dieter Kosslick in der Berlinale, wo es seit Jahren viel Kritik gibt, der Direktor aber immun ist.
Danielsen ist das positive Gegen­bei­spiel. Er hat viel bewirkt, hat Leipzig ausgebaut, aus der Enge seiner eigenen Geschichte heraus­ge­führt, erweitert, den Ruf verbes­sert, Presse und Industrie nach Leipzig geholt, und das Leipziger Festival zu einem der wich­tigsten auf der deutschen Festi­valland­karte gemacht. Die Zuschau­er­zahlen auch gestei­gert – auch wenn das nicht die Haupt­sache ist. Aber er hat wohl auch gemerkt, dass er da nicht mehr zuzu­setzen hat, dass er alles umgesetzt hat, was er machen wollte.
Er hat die Mach­ter­grei­fung des Fern­se­hens und der Fern­sehäs­thetik über das Kino immer beklagt, ande­rer­seits selbst doch auch einiges dafür getan im Programm.

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Lena Pasanen, bisher Redak­teurin bei Yle in Finnland, ist seine Nach­fol­gerin, eine der wenigen Frauen in der Männer­domäne Festi­val­lei­tung, dann noch Auslän­derin, das wird ihr auch Probleme bereiten, aber eben auch spannend sein. Sie wird einen neuen Kurs gehen müssen, in Leipzig eine Neuaus­rich­tung vornehmen, denn derartige Kultur­in­sti­tu­tionen sind heute gezwungen, sich permanent neu zu erfinden.

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2014 war kein richtig starker Jahrgang – eher einer der schwächsten in Dani­el­sens Amtszeit in meiner Erin­ne­rung. Denn es fehlte jede Vielfalt und Diver­sität der Perspek­tiven. Man hatte vielmehr den Eindruck, dass die Auswahl­kom­mis­sion auch weiß, dass sie unter der neuen Leiterin zumindest zum Teil ausge­wech­selt werden wird, und darum noch einmal in die Vollen greift, noch einmal zeigen will, wofür man steht, wie Leipzig sein soll, was man kann, und das heißt dann auch: was man nicht kann.

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Am Schlimmsten wiegt, wie ungemein bere­chenbar das Programm in diesem Jahr ganz über­wie­gend war. Und wie lang­weilig in seiner Bere­chen­bar­keit. Wir sehen gleich zweimal Zigeuner (sie nennen sich selbst so, also bitte keine Mails wegen des Wortes), wir sehen Wahn­sin­nige, sehen Arbeits­lose, wir sehen die cleane Menschen­ver­ach­tung von Ulrich Seidl, wir sehen Kinder die leiden, Staub­lungen, Obdach­lose, Hinrich­tungen in den USA, Weinernte in Frank­reich kombi­niert mit der Ausbeu­tung armer Zeit­ar­beiter, wir sehen Fischer in Barcelona, kombi­niert mit Fisch­sterben im Mittel­meer. Wir sehen zurück­ge­schickte Flücht­linge in Afrika, Bildungs­mi­sere im Kongo, Bildung in Kenia, Umwelt­mi­sere im Senegal, Minen­ar­beiter in Kolumbien, Subkultur in Djakarta. Der Israel-Palästina-Konflikt darf natürlich auch nicht fehlen. Der tune­si­sche Aufstand. Der syrische Bürger­krieg (gleich zweimal). Die ägyp­ti­sche Revo­lu­tion (auch zweimal). Der Bürger­krieg in der Ukraine dagegen schon, dafür gibts zweimal Maidan, staats­tra­gend von Losnitza, aufregend perspek­ti­visch und divers All things Ablaze von drei Regis­seuren, der zeigt, warum der Mythos Maidan und die Verklärung der Ukraine-Unab­hän­gig­keit unsinnig ist.
Wir sehen Oppo­si­tion in Russland. Aber natürlich nicht die Anhänger Putins, von denen es doch wohl auch noch irgendwo ein paar gibt.

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Und so weiter. Das nervt alles. Nicht im Einzelnen, aber in der Masse. Weil es so extrem erwartbar ist. Es nervt, weniger durch das, was erzählt wird, als durch alles, was fehlt, was aber auch erzählt werden müsste. Es nervt durch seinen prin­zi­pi­ellen Misera­bi­lismus, durch die Konven­tionen des Arthouse-Wellness-Doku­men­tar­films, der immer weiß, wo er steht, wo alle stehen sollte, was richtig ist und gut, und was böse und falsch, der immer extrem cheesy und allgemein das Wahre und Gute und Hässliche vertei­digt. Könnte doch sein, dass man in der gegen­wär­tigen Lage im Bürger­krieg in Syrien nicht gegen Assad sein muss. Dass man für Israel sein kann. Dass die Hamas böse ist.
Könnte aber vor allem sein, dass das die falschen Kate­go­rien sind, dass es nicht um Gut und Böse geht, nicht um Antworten, sondern um Fragen. Diese Filme stellen über­wie­gend zu wenig oder gar keine Fragen und geben zu viele Antworten.

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In seiner Pauscha­lität ist der Satz aber natürlich auch falsch. Also sage ich’s nochmal anders: Die Leipziger Filme in diesem Jahr hatten für mich nichts Über­ra­schendes. Sie hatten keinen Über­schuss. Ich will auch mal Reiche in Indo­ne­sien sehen, Models in Afrika, und ohne dass die dann böse sind oder verge­wal­tigt werden. Auch das erzählt mir etwas.
Dafür: Plumpe Part­ei­nahmen, Gutmen­schen­kino, Filme, die immer genau wissen, wo sie stehen. Das ist aber keine Tugend. Es fehlt die Form, die Ästhetik. Es fehlt die über­ra­schende Story. Es fehlt die über­ra­schende Bewertung der bekannten Story.

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Bemerkbar ist ein fast völliges Desin­ter­esse für Geschichte, Film­ge­schichte sowieso, sieht man mal von der Retro ab, aber auch für Real­ge­schichte, wenn es nicht gerade die der DDR ist. Da sah man dann auch wieder erwartbar: DDR-Punk und Ost-West-Liebe. Geschenkt Freunde. Aber es war ja nicht alles Punk und Liebe in der DDR, oder doch?

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Dagegen kaum Asien – wohl, weil sich das nicht ins Leipziger Betrof­fen­heits­schema fügt. Ganz wenige Ausnahmen handeln davon, worum es wirklich geht im Leben, in unserem Leben. Ja wohl nicht nur darum, die Not zu tilgen, nur darum, dass wir alle gleich sind? Kino ist auch Voyeu­rismus, klar. Aber man müsste Filme zeigen, die sich nicht mit Elends­tou­rismus verwech­seln lassen.

(To be continued)

Unter dem Titel »Cinema Moralia« sind hier in loser Folge Notizen zum Kino zu finden, aktuelle Beob­ach­tungen, Kurz­kri­tiken, Klatsch und Film­po­litik, sowie Hinweise. Eine Art Tagebuch eines Kino­ge­hers.