Cinema Moralia – Folge 95
Nachrichten aus der Konsensfabrik |
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Die Böhms – Architektur einer Familie | ||
(Foto: RFF Real Fiction Filmverleih eK) |
»Es gibt auch Hirn-Ebola«, sagte neulich die Redakteurin eines öffentlichen Fernsehsenders, und die das sagte, weiß bestimmt, wovon sie redet. Arthouse- und Titel-Ebola gibt’s auch. Wo das Kunstkino hingeht, wenn es vom Arthouse-Virus erfasst wird, das zeigt exemplarisch das aktuelle Programm des an sich verdienstvoller Labels »Good Movies!« Ein Auszug aus der Neuerscheinungsliste: Monsieur Claude und seine Töchter; Alois Nebel, Violette; Suzanne; Rosie. Diese Namensinflation ist die reine Ratlosigkeit.
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Ein echter Independent-Film und das Gegenteil von »Arthouse« ist Dragan Wende – West Berlin, der jetzt fast zwei Jahre nach seinem Sieg im Max-Ophüls-Dokumentarwettbewerb doch noch ins Kino kommt.
Lena Müller und Dragan von Petrovic erzählen in ihrem Debüt mit viel Ironie vom Leben von Jugoslawen, die im West-Berlin der 70er und 80er Jahre von Türstehern zu
kleinen Fürsten des Nachtlebens wurden. Der jugoslawische Pass war »der beste der Welt«, denn man konnte die Mauer in beide Richtungen unbehelligt überqueren. Es gab Frauen, Drogen und Champagner im Überfluss – aber ab 1990 war es mit dem Glück schnell vorbei. Heute arbeitet Dragan wieder als Türsteher in Wilmersdorfer Puffs, und ist froh, wenn das Geld für Bier und Wodka reicht – aber immer noch trägt er weiße Slipper zum leicht beschmuddelten weißen Anzug, hält die
Kippe lässig in der Linken; ein cooler Drifter »lost in transition«.
Dragan Wende – West Berlin ist eine spannende, sehr gelungene poetische Archäologie des vergessenen Berlins des Kalten Kriegs, und vergisst auch das Ost-Berliner Nachtleben nicht, wo sich die Transitgäste austobten...
Der Film läuft außer in Berlin (Sputnik, Kino Krokodil, B-Ware Ladenkino,
Filmrauschpalast) auch in Hannover, München, Saarbrücken, Magdeburg und Fürstenwalde.
Am Samstag, 8. November läuft er in einem Special Screening anlässlich des Mauerfall-Jubiläums im Kreuzberger Kiezkino Sputnik (17:45 Uhr; Karten-Reservierung nur direkt übers Kino) und am Sonntag, 9. November in einem Double Feature Special im Filmrauschpalast Moabit zusammen mit Pink Floyd The
Wall.
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Am Tisch mit einem Schauspieler auf einem Filmfestival: »Wann fährt mein Shuttle? Wie komme ich da zum Bahnhof? Ich hab für die Party später keine Einladung« (Btw: Es gibt gar keine Einladungen, aber seit zehn Minuten reden wir darüber, dass jeder reinkommt). »Ist das morgen eine richtige Pressekonferenz? Oder nur so nach dem Kino mit Publikum? Muss ich da da sein? Ach, wenn das nur ein so kleines Kino ist, dann bleib ich dafür nicht. Der Kurzfilm vor meinem Film, der ist ganz
schrecklich.«
Diese Selbstbezogenheit. Diese wahnwitzige Eitelkeit. Dieser grandiose Narzissmus. Warum nehmen sich viele Schauspieler so wichtig, und warum benehmen sie sich gleichzeitig wie Kleinkinder?
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Dokumentarfilme kommen erfreulicherweise ohne Schauspieler aus. Trotzdem hab' ich mich beim Leipziger Dok Fest erstmal geärgert. Gleich zur Ankunft bekommt da jeder Besucher ein Kärtchen in die Hand gedrückt, das auch überall rumliegt. »Filmkritik in 140 Zeichen« steht da, daneben »Und? Wie war der Film gerade?« Das soll kumpelig klingen, klingt anbiedernd, und ist die Aufforderung über Filme auch noch auf Twitter Meinungen in die Welt hinauszuschei.... zu schicken. Es ist alles Mögliche, letztendlich eine Landplage, nur eines ist es bestimmt nicht: Das ist keine Filmkritik. Es verdirbt aber den Begriff »Filmkritik« beim Publikum, das es leider bitternötig hat, einen klareren Begriff von Filmkritik zu bekommen.
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Auch wenn ich mich im Folgenden kurz halte: Mehr als 140 Zeichen müssen es sein. Die Böhms – Architektur einer Familie heißt ein Film, der im nächsten Frühjahr ins Kino kommt, und der zum Besten gehört, das ich beim Leipziger Dok-Fest gesehen habe. Sehr bürgerlich, sehr gediegen, ein Film über Geistiges und der Versuch Gedanken darzustellen, Kultur. Insofern das Gegenteil
der meisten Leipzig-Filme. Da passt er dann doch gut hin, weil es auch um die Dynamik der Familie des Architekten Gottfried Böhm (94) und seiner Söhne geht. Drei der vier Söhne sind ebenfalls Architekten. Der eine von ihnen hat übrigens den Neubau der HFF München (und der ägyptischen Sammlung nebendran im gleichen Bau) verantwortet.
Ein weiteres Highlight im Leipziger Programm war Meine Mutter, ein Krieg und ich von Tamara Trampe. Nicht die übliche
Familien-Eltern-Sinnsuche, sondern unsentimental, dadurch emotional. Die Geschichte von Trampes Mutter, die eine Soldatin der Roten Armee war, und ihr Kind – TT – im Krieg zur Welt brachte. Eine Hohelied auf alle antifaschistischen Soldatinnen, auf alle Kämpferinnen überhaupt. Und wieder einmal die Erfahrung, dass Trampe eine der besten deutschen Filmemacher ist – meilenweit unterschätzt.
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Mit der Goldenen Taube im Internationalen Wettbewerb Dokumentarfilm wurde Les règles du jeu (»Rules of the Game«) der Franzosen Claudine Bories und Patrice Chagnard ausgezeichnet. Das ist ein Film über drei Jugendliche aus bildungsfernen Milieus – sie heißen Lolita, Kevin und Hamid und werden in einer Arbeitsarchitektur gedrillt. Jargon und Verhaltensweisen, alles ist aussichtslos. Beste Absichten, aber wenn es nicht so traurig wäre, wär’s auch grotesk lustig.
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Weitere Lichtblicke: The Agreement über diplomatische Verhandlungen und ihre Akteure. Innenansichten der Politik. »The Auction House« – zwei Brüder in Indien und Vaters Firma. Familiensinn trifft auf Global Economy. Eine Kulturgeschichte des Stacheldrahts. So far, so good – alle diese Filme haben aber keine Preise gekriegt. Gute Jury halt. Jurys finden immer faule Kompromisse, erst recht wenn man sieht, wer da diesmal wieder drin
saß.
Eine der wenigen Ausnahmen war immerhin ein Nebenpreis: Thomas Heises Städtebewohner, der inhaltlich bedeutend ist, aber eben auch künstlerisch, ästhetisch etwas zu sagen hat.
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Das diesjährige Festival war das letzte des Leiters Claas Danielsen. Es war ein freiwilliger Abschied, selbstgewählt, es gab keinerlei Genörgel oder Kritik oder Querelen im Hintergrund. Der Abschied wird allgemein bedauert, man hätte ihn gern behalten. Und er wechselt auch nicht auf einen anderen Posten in gleicher Funktion. Das alles muss man betonen, denn das ist ja eine große Ausnahme im deutschen Kulturbetrieb, wo das Sesselkleben noch viel verbreiteter und viel
langfristiger ist, als schon in der Politik. Man verklärt das dann zwar als Nachhaltigkeit, aber gerade Filmfestivaldirektoren in Deutschland amtieren von zehn Jahre an aufwärts, und wollen offenbar alle warten, bis man sie 'rausträgt – Beispiel Dieter Kosslick in der Berlinale, wo es seit Jahren viel Kritik gibt, der Direktor aber immun ist.
Danielsen ist das positive Gegenbeispiel. Er hat viel bewirkt, hat Leipzig ausgebaut, aus der Enge seiner eigenen Geschichte
herausgeführt, erweitert, den Ruf verbessert, Presse und Industrie nach Leipzig geholt, und das Leipziger Festival zu einem der wichtigsten auf der deutschen Festivallandkarte gemacht. Die Zuschauerzahlen auch gesteigert – auch wenn das nicht die Hauptsache ist. Aber er hat wohl auch gemerkt, dass er da nicht mehr zuzusetzen hat, dass er alles umgesetzt hat, was er machen wollte.
Er hat die Machtergreifung des Fernsehens und der Fernsehästhetik über das Kino immer
beklagt, andererseits selbst doch auch einiges dafür getan im Programm.
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Lena Pasanen, bisher Redakteurin bei Yle in Finnland, ist seine Nachfolgerin, eine der wenigen Frauen in der Männerdomäne Festivalleitung, dann noch Ausländerin, das wird ihr auch Probleme bereiten, aber eben auch spannend sein. Sie wird einen neuen Kurs gehen müssen, in Leipzig eine Neuausrichtung vornehmen, denn derartige Kulturinstitutionen sind heute gezwungen, sich permanent neu zu erfinden.
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2014 war kein richtig starker Jahrgang – eher einer der schwächsten in Danielsens Amtszeit in meiner Erinnerung. Denn es fehlte jede Vielfalt und Diversität der Perspektiven. Man hatte vielmehr den Eindruck, dass die Auswahlkommission auch weiß, dass sie unter der neuen Leiterin zumindest zum Teil ausgewechselt werden wird, und darum noch einmal in die Vollen greift, noch einmal zeigen will, wofür man steht, wie Leipzig sein soll, was man kann, und das heißt dann auch: was man nicht kann.
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Am Schlimmsten wiegt, wie ungemein berechenbar das Programm in diesem Jahr ganz überwiegend war. Und wie langweilig in seiner Berechenbarkeit. Wir sehen gleich zweimal Zigeuner (sie nennen sich selbst so, also bitte keine Mails wegen des Wortes), wir sehen Wahnsinnige, sehen Arbeitslose, wir sehen die cleane Menschenverachtung von Ulrich Seidl, wir sehen Kinder die leiden, Staublungen, Obdachlose, Hinrichtungen in den USA, Weinernte in Frankreich kombiniert mit der
Ausbeutung armer Zeitarbeiter, wir sehen Fischer in Barcelona, kombiniert mit Fischsterben im Mittelmeer. Wir sehen zurückgeschickte Flüchtlinge in Afrika, Bildungsmisere im Kongo, Bildung in Kenia, Umweltmisere im Senegal, Minenarbeiter in Kolumbien, Subkultur in Djakarta. Der Israel-Palästina-Konflikt darf natürlich auch nicht fehlen. Der tunesische Aufstand. Der syrische Bürgerkrieg (gleich zweimal). Die ägyptische Revolution (auch zweimal). Der Bürgerkrieg in der
Ukraine dagegen schon, dafür gibts zweimal Maidan, staatstragend von Losnitza, aufregend perspektivisch und divers All things Ablaze von drei Regisseuren, der zeigt, warum der Mythos Maidan und die Verklärung der Ukraine-Unabhängigkeit unsinnig ist.
Wir sehen Opposition in Russland. Aber natürlich nicht die Anhänger Putins, von denen es doch wohl auch noch irgendwo ein paar gibt.
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Und so weiter. Das nervt alles. Nicht im Einzelnen, aber in der Masse. Weil es so extrem erwartbar ist. Es nervt, weniger durch das, was erzählt wird, als durch alles, was fehlt, was aber auch erzählt werden müsste. Es nervt durch seinen prinzipiellen Miserabilismus, durch die Konventionen des Arthouse-Wellness-Dokumentarfilms, der immer weiß, wo er steht, wo alle stehen sollte, was richtig ist und gut, und was böse und falsch, der immer extrem cheesy und allgemein das Wahre und
Gute und Hässliche verteidigt. Könnte doch sein, dass man in der gegenwärtigen Lage im Bürgerkrieg in Syrien nicht gegen Assad sein muss. Dass man für Israel sein kann. Dass die Hamas böse ist.
Könnte aber vor allem sein, dass das die falschen Kategorien sind, dass es nicht um Gut und Böse geht, nicht um Antworten, sondern um Fragen. Diese Filme stellen überwiegend zu wenig oder gar keine Fragen und geben zu viele Antworten.
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In seiner Pauschalität ist der Satz aber natürlich auch falsch. Also sage ich’s nochmal anders: Die Leipziger Filme in diesem Jahr hatten für mich nichts Überraschendes. Sie hatten keinen Überschuss. Ich will auch mal Reiche in Indonesien sehen, Models in Afrika, und ohne dass die dann böse sind oder vergewaltigt werden. Auch das erzählt mir etwas.
Dafür: Plumpe Parteinahmen, Gutmenschenkino, Filme, die immer genau wissen, wo sie stehen. Das ist aber keine Tugend. Es
fehlt die Form, die Ästhetik. Es fehlt die überraschende Story. Es fehlt die überraschende Bewertung der bekannten Story.
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Bemerkbar ist ein fast völliges Desinteresse für Geschichte, Filmgeschichte sowieso, sieht man mal von der Retro ab, aber auch für Realgeschichte, wenn es nicht gerade die der DDR ist. Da sah man dann auch wieder erwartbar: DDR-Punk und Ost-West-Liebe. Geschenkt Freunde. Aber es war ja nicht alles Punk und Liebe in der DDR, oder doch?
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Dagegen kaum Asien – wohl, weil sich das nicht ins Leipziger Betroffenheitsschema fügt. Ganz wenige Ausnahmen handeln davon, worum es wirklich geht im Leben, in unserem Leben. Ja wohl nicht nur darum, die Not zu tilgen, nur darum, dass wir alle gleich sind? Kino ist auch Voyeurismus, klar. Aber man müsste Filme zeigen, die sich nicht mit Elendstourismus verwechseln lassen.
(To be continued)
Unter dem Titel »Cinema Moralia« sind hier in loser Folge Notizen zum Kino zu finden, aktuelle Beobachtungen, Kurzkritiken, Klatsch und Filmpolitik, sowie Hinweise. Eine Art Tagebuch eines Kinogehers.