21.05.2015
68. Filmfestspiele Cannes 2015

Aus dem Halb­schlaf erwacht – Halbzeit in Cannes

Rooney Mara und Cate Blanchett in Todd Haynes CAROL
Rooney Mara und Cate Blanchett in Todd Haynes Carol
(Foto: DCM Film Distribution GmbH)

Die neuen Filme von Todd Haynes und Jia Zhang-ke sind die bisherigen Highlights eines Wettbewerbs, der erst spät so richtig in die Gänge kommt.

Von Till Kadritzke

Allge­meine Unzu­frie­den­heit mit dem Wett­be­werb, das kennt man gemeinhin ja eher von der Berlinale, wo man sich bis auf ein paar Ausnahmen mehr pflicht­be­wusst im Festi­val­pa­last versam­melt, um danach auf Entde­ckungs­reise zu gehen, ins Forum oder in die Retro­spek­tive.Zwar ist der dies­jäh­rige Wett­be­werb von Cannes noch nicht vorbei, da fehlen etwa noch die Beiträge von Hou Hsiao-hsien oder Jacques Audiard. Doch auch hier waren in diesem Jahr die Nebensek­tionen so attraktiv besetzt wie wohl lange nicht mehr und machen dem Haupt­pro­gramm Konkur­renz: europäi­sche Prominenz in Gestalt von Phillipe Garrel und Miguel Gomes in der Quinzaine des Réali­sa­teurs, asia­ti­sches Autoren­kino mit Apichat­pong Weer­a­set­hakul und Brillante Mendoza in der größten Nebensek­tion Un Certain Régard.

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Mit neuen Filmen von Hirokazu Koreeda, Matteo Garrone, Yorgos Lanthimos und Nanni Moretti ist der Wett­be­werb in den ersten Tagen eher schwer in Tritt gekommen. Sind diese Werke auch noch weit entfernt vom Berlinale-Durch­schnitt – meine Hoffnung auf einen über­ra­schenden, durch Origi­na­lität glän­zenden Wett­be­werb nährten sie erstmal nicht. Für Lanthimos gilt das noch am wenigs­tens, ist sein erster englisch­spra­chiger Film The Lobster doch eigent­lich überaus originell. Höchstens könnte man ihm vorwerfen, er sei viel zu originell. In einer Zukunft (oder in einer Paral­lel­welt, man weiß das nicht so genau) sind Singles nicht gern gesehen, und deshalb muss der von einem äußerst passend besetzten Colin Farrell gespielte David in ein sonder­li­ches Hotel ziehen, deren Insassen regel­mäßig auf Single-Jagd in den umlie­genden Wäldern gehen, und in dem er innerhalb von 45 Tagen eine Partnerin finden muss – ansonsten wird er in ein Tier seiner Wahl verwan­delt.
Das klingt erstmal wie ein eigen­wil­liges Best-of gesell­schafts­kri­ti­scher Zukunfts­vi­sionen, aber der Vorwurf der Belie­big­keit läuft ein wenig ins Leere. Denn viel­leicht geht es Lanthimos gar nicht um die klas­si­sche Zuspit­zung gegen­wär­tiger Tendenzen zur Dystopie, viel­leicht nicht mal um Entfrem­dung. Zwischen der Welt von The Lobster und unserer liegt nicht unbedingt eine zeitliche Distanz, vor deren Verschwinden zu warnen wäre, sondern vor allem Unter­schiede in der Durch­set­zungs­weise von Normen und Konven­tionen – deren Tiefen­struktur aber wohl gar nicht mal so anders funk­tio­niert als die unaus­ge­spro­chenen Grund­lagen unserer angeblich freien Entschei­dungen. Bei uns geschieht das eben alles ein bisschen vermit­telter und indi­rekter als in Lanthimos’ schrägen, offen autoritär durch­setzten Mini-Gesell­schaften. Und dass die Single-Rebellen in den Wäldern, zu denen David irgend­wann flieht, mit einem Sex- und Liebes­verbot arbeiten, dass ihre wider­s­tän­dige Politik also ebenso von mikro-faschis­ti­schen Tendenzen durch­setzt ist, das fand ich eine sehr schöne Idee, die beweist, dass Lanthimos weniger auf konkrete gesell­schaft­liche Tendenzen zielt als auf ein kollek­tives Unbe­wusstes.

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Und doch fühlt sich The Lobster zu wenig kohärent an, um als Film wirklich zu tragen. Habe ich mich an die Absur­di­täten einmal gewöhnt, warte ich irgend­wann nur noch auf die nächste Idee. Ganz ähnlich geht es mir mit The Tale Of Tales von Matteo Garrone, ein Episo­den­film um drei König­reiche, der lose auf den Erzäh­lungen des italie­ni­schen Schrift­stel­lers aus dem 17. Jahr­hun­dert Giam­bat­tista Basile basiert. Eine durchaus beein­dru­ckende Riege inter­na­tio­naler Schau­spiel­größen wirft sich hier in schicke Kostüme und bizarre Fabeln: John C. Reilly muss als erster König ein Seeunge­heuer schlachten, damit seine von Salma Hayek gespielte Frau ein Kind gebären kann. Vincent Cassell verliebt sich als zweiter König in eine Stimme, die wider Erwarten nicht zu einer schönen Jungfrau, sondern zu einer alten Hexe gehört. Und schließ­lich ist da noch Toby Jones als dritter König, auf dessen Hand­fläche sich eines Tages ein kleiner Floh zeigt – der im Verlauf des Films auf eine beacht­liche Größe anwächst. Garrone hat sichtlich Spaß damit, seine Monarchen in Fallen zu locken und mit den nicht vorher­ge­se­henen Konse­quenzen ihrer inneren Wünsche zu konfron­tieren; und im letzten Teil darf sich eine Königs­tochter als Rache­engel auszeichnen. Spätes­tens nach zwei Tagen aber ist Tale Of Tales aus meiner Erin­ne­rung so ziemlich verschwunden und im Gedächtnis als hübsche, aber letztlich harmlose Spielerei abge­spei­chert.

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Koreeda und Moretti schließ­lich bieten das, was man von ihnen kennt, wenn­gleich auf hohem Niveau. Koreeda erzählt von drei Schwes­tern, die längst im heirats­fähigen Alter sind, aber noch zusammen wohnen, und die eine weitere Halb­schwester bei sich aufnehmen, nachdem der gemein­same Vater gestorben ist. Our Little Sister ist deutlich freier erzählt als Koreedas recht stringent geplot­teter Like Father, Like Son, aber ihm fehlen ein wenig die Reibungs­flächen, die den schönen, manchmal etwas kitschigen Momenten des gegen­sei­tigen Verste­hens zu einem Ausdruck jenseits bloßer Affir­ma­tion verholfen hätten. Moretti dagegen erweist sich erneut als Meister des Tragi­ko­mi­schen, wenn er seine Prot­ago­nistin, eine Regis­seurin (sich auch in diese Haupt­rolle noch selbst zu casten, war dann wohl selbst dem auto­bio­grafie-verses­senen Moretti etwas zu viel), gleich­zeitig mit dem schlei­chenden Verfall der herz­kranken Mutter und den Launen eines US-ameri­ka­ni­schen Schau­spie­lers konfron­tiert, der ihr bald das Filmset zur H ölle macht.

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Die zwei großen Favoriten dürften bislang Carol von Todd Haynes und Mountains May Depart von Jia Zhang-ke sein. Letzterer ist eine über eine Zeit­spanne von 25 Jahren bis in die Zukunft reichende angelegte Geschichte um eine chine­si­sche Klein­fa­milie, mit der Jia vor allem Fragen des kultu­rellen Wandels nachgeht. Als klas­si­sche Allegorie neigt der Film manchmal zum Durch­kauen bekannter Motive wie dem Verlust von Tradi­tionen und der globa­li­sie­renden Orien­tie­rung am Engli­schen. Umso stärker deshalb, wie sich hier nicht nur das Große im Kleinen spiegelt, sondern das Kleine im Großen. Wie wir das so tragisch wie notwendig entfrem­dete Verhältnis zwischen dem beim Vater aufge­wach­senen Sohn (mit dem allzu bezeich­nenden Namen Dollar) und der daheim­ge­blie­benen Mutter nach­voll­ziehen, schließ­lich die merk­wür­dige Zwischen­welt eines Menschen kennen­lernen,, der mit 11 Jahren von China nach Austra­lien zieht; zu früh, um das Alte mitzu­nehmen, zu spät, um sich das Neue gänzlich zu eigen zu machen. Denke ich nach den über zwei Stunden Laufzeit zurück an den ausge­dehnten und – wenigs­tens am Ende eines langen Festi­val­tages – nicht unan­stren­genden Prolog, in dem sich die Eltern von Dollar in knalligen 4:3-Video­bil­dern und langen Dialogen kennen­lernen, scheinen mir diese Szenen tatsäch­lich fast 25 Jahre her zu sein.

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Ein paar Tage zuvor hatte Carol bereits den Wett­be­werb aus seinem Halb­schlaf gerissen, und das obwohl Todd Haynes mit seinem neuen Film um eine lesbische Liebes­be­zie­hung in den frühen 1950er Jahren stilis­tisch nicht gerade über­rascht oder gar das Kino neu erfindet. Er erinnert uns vielmehr auf eine so altmo­disch wie erfri­schende Art und Weise an seine Kraft. Auch wenn Carol noch immer als ein großer Favorit auf die Goldene Palme gilt, lässt sich von einer unge­trübten Begeis­te­rung innerhalb der Kriti­ker­ge­meinde dann doch nicht sprechen. Die meisten der bislang vorge­brachten Vorbe­halte gegen den Film kann ich kaum verstehen. Nicht weil ich den Film für unfehlbar halte, sondern vor allem, weil ich die meisten der ihm gemachten Vorwürfe für seine größten Stärken halten. Das gilt für seine ausge­stellte Künst­lich­keit, die Betonung der Ober­flächen gegenüber der Psycho­logie, des gleich­ge­schlecht­li­chen Begehrens gegenüber der sexuellen Identität. Nicht zuletzt gilt es für das Setting in den 1950er Jahren.
Dass der Regisseur von Dem Himmel so fern mit seinem ersten Kinofilm seit acht Jahren nun wieder in diese Zeit zurück­kehrt, das hat jeden­falls nichts mit Faulheit zu tun, nichts mit einer naiven Treue zur Vorlage von Patricia Highsmith („The Price of Salt“) – und auch nicht ausschließ­lich mit seinem Faible fürs klas­si­sche Holly­wood­kino. Eine lesbische Affäre in der Gegenwart, sie ließe sich ebenso im melo­dra­ma­ti­schen Modus erzählen, müsste sich aber einer gänzlich anderen Logik der Blicke und Wünsche unter­ordnen. Die 1950er Jahre – oder besser gesagt: ihr pophis­to­ri­sches Zerrbild – sind konsti­tutiv für die erzählte Geschichte und für das Kino des Todd Haynes, weil sie seinem Blick auf mensch­li­ches Begehren zum Ausdruck verhelfen, das umso inten­siver ist, je dichter der Raum ist, den es zu durch­schreiten hat.
Denn Haynes inter­es­sieren die Fünfziger nicht, weil er die damalige Doppel­moral und den Konfor­mismus anpran­gern will – seinem Kino geht es ja gerade nicht um Authen­ti­zität und Enthül­lung, sondern um Künst­lich­keit und Verhül­lung. Vielmehr ist das Bild dieser Zeit als starre, durch­ge­ras­terte Welt geeig­netes Spielfeld, um dem Begehren in seinem Werden nach­zu­spüren, einem Werden, das nur in dem Maße ins Sichtbare, ins Kino, geholt werden kann, wie es quer zur herr­schenden Norm verl äuft, wie es noch keine Iden­ti­täten kennt.

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Deshalb laufen für mich auch all die Hinweise auf einen Mangel an Schärfe in der Figu­ren­zeich­nung, auf die drama­ti­sche Verschleie­rung der eigent­li­chen Geschichte, ins Leere, weil Carol zwar ganz beiläufig auch von zwei Frauen anno 1952 erzählt, sich in seinem Kern aber für das inter­es­siert, was zwischen ihnen entsteht; und dieses Zwischen ist auf die histo­ri­sche Verortung ange­wiesen, nicht die konkrete erzählte Geschichte. Carol holt nicht die realen, sondern die filmi­schen Fünfziger ins Bild, um mit der Kamera in ihre Zwischen­räume einzu­dringen. Um eine junge Frau nicht mit ihrer lesbi­schen »Neigung« zu konfron­tieren, sondern erst einmal ganz und gar zu verwirren.
Für die Sehnsucht und die Aben­teu­er­lust, den Sturz ins Ungewisse (und natürlich für Cate Blan­chetts Diven­haf­tig­keit, für die tollen Mützen, die Rooney Mara trägt, deren Figur eben nicht gezeichnet wurde, sondern »vom Himmel gefallen ist«, wie Carol einmal bemerkt), dafür braucht Todd Haynes die 1950er Jahre. Nicht, weil er dorthin zurück will; nicht, weil wir zum Reiz des damals Verbo­tenen zurück­finden könnten oder sollten; aber um diese Form des Begehrens im Hier und Jetzt zu beschwören. Deshalb mag sein Film mal wieder in der Vergan­gen­heit spielen, ist aber doch ganz und gar Kino von heute.