68. Filmfestspiele Cannes 2015
Aus dem Halbschlaf erwacht – Halbzeit in Cannes |
||
Rooney Mara und Cate Blanchett in Todd Haynes Carol | ||
(Foto: DCM Film Distribution GmbH) |
Von Till Kadritzke
Allgemeine Unzufriedenheit mit dem Wettbewerb, das kennt man gemeinhin ja eher von der Berlinale, wo man sich bis auf ein paar Ausnahmen mehr pflichtbewusst im Festivalpalast versammelt, um danach auf Entdeckungsreise zu gehen, ins Forum oder in die Retrospektive.Zwar ist der diesjährige Wettbewerb von Cannes noch nicht vorbei, da fehlen etwa noch die Beiträge von Hou Hsiao-hsien oder Jacques Audiard. Doch auch hier waren in diesem Jahr die Nebensektionen so attraktiv besetzt wie wohl lange nicht mehr und machen dem Hauptprogramm Konkurrenz: europäische Prominenz in Gestalt von Phillipe Garrel und Miguel Gomes in der Quinzaine des Réalisateurs, asiatisches Autorenkino mit Apichatpong Weerasethakul und Brillante Mendoza in der größten Nebensektion Un Certain Régard.
+ + +
Mit neuen Filmen von Hirokazu Koreeda, Matteo Garrone, Yorgos Lanthimos und Nanni Moretti ist der Wettbewerb in den ersten Tagen eher schwer in Tritt gekommen. Sind diese Werke auch noch weit entfernt vom Berlinale-Durchschnitt – meine Hoffnung auf einen überraschenden, durch Originalität glänzenden Wettbewerb nährten sie erstmal nicht. Für Lanthimos gilt das noch am wenigstens, ist sein erster englischsprachiger Film The Lobster doch eigentlich überaus originell. Höchstens könnte man ihm vorwerfen, er sei viel zu originell. In einer Zukunft (oder in einer Parallelwelt, man weiß das nicht so genau) sind Singles nicht gern gesehen, und deshalb muss der von einem äußerst passend besetzten Colin Farrell gespielte David in ein sonderliches Hotel ziehen, deren Insassen regelmäßig auf Single-Jagd in den umliegenden Wäldern gehen, und in dem er innerhalb von
45 Tagen eine Partnerin finden muss – ansonsten wird er in ein Tier seiner Wahl verwandelt.
Das klingt erstmal wie ein eigenwilliges Best-of gesellschaftskritischer Zukunftsvisionen, aber der Vorwurf der Beliebigkeit läuft ein wenig ins Leere. Denn vielleicht geht es Lanthimos gar nicht um die klassische Zuspitzung gegenwärtiger Tendenzen zur Dystopie, vielleicht nicht mal um Entfremdung. Zwischen der Welt von The Lobster und unserer liegt nicht unbedingt eine zeitliche Distanz, vor deren Verschwinden zu warnen wäre, sondern vor allem Unterschiede in der Durchsetzungsweise von Normen und Konventionen – deren Tiefenstruktur aber wohl gar nicht mal so anders funktioniert als die unausgesprochenen Grundlagen unserer angeblich freien Entscheidungen. Bei uns geschieht das eben alles ein bisschen vermittelter und indirekter als in
Lanthimos’ schrägen, offen autoritär durchsetzten Mini-Gesellschaften. Und dass die Single-Rebellen in den Wäldern, zu denen David irgendwann flieht, mit einem Sex- und Liebesverbot arbeiten, dass ihre widerständige Politik also ebenso von mikro-faschistischen Tendenzen durchsetzt ist, das fand ich eine sehr schöne Idee, die beweist, dass Lanthimos weniger auf konkrete gesellschaftliche Tendenzen zielt als auf ein kollektives Unbewusstes.
+ + +
Und doch fühlt sich The Lobster zu wenig kohärent an, um als Film wirklich zu tragen. Habe ich mich an die Absurditäten einmal gewöhnt, warte ich irgendwann nur noch auf die nächste Idee. Ganz ähnlich geht es mir mit The Tale Of Tales von Matteo Garrone, ein Episodenfilm um drei Königreiche, der lose auf den Erzählungen des italienischen Schriftstellers aus dem 17. Jahrhundert Giambattista Basile basiert. Eine durchaus beeindruckende Riege internationaler Schauspielgrößen wirft sich hier in schicke Kostüme und bizarre Fabeln: John C. Reilly muss als erster König ein Seeungeheuer schlachten, damit seine von Salma Hayek gespielte Frau ein Kind gebären kann. Vincent Cassell verliebt sich als zweiter König in eine Stimme, die wider Erwarten nicht zu einer schönen Jungfrau, sondern zu einer alten Hexe gehört. Und schließlich ist da noch Toby Jones als dritter König, auf dessen Handfläche sich eines Tages ein kleiner Floh zeigt – der im Verlauf des Films auf eine beachtliche Größe anwächst. Garrone hat sichtlich Spaß damit, seine Monarchen in Fallen zu locken und mit den nicht vorhergesehenen Konsequenzen ihrer inneren Wünsche zu konfrontieren; und im letzten Teil darf sich eine Königstochter als Racheengel auszeichnen. Spätestens nach zwei Tagen aber ist Tale Of Tales aus meiner Erinnerung so ziemlich verschwunden und im Gedächtnis als hübsche, aber letztlich harmlose Spielerei abgespeichert.
+ + +
Koreeda und Moretti schließlich bieten das, was man von ihnen kennt, wenngleich auf hohem Niveau. Koreeda erzählt von drei Schwestern, die längst im heiratsfähigen Alter sind, aber noch zusammen wohnen, und die eine weitere Halbschwester bei sich aufnehmen, nachdem der gemeinsame Vater gestorben ist. Our Little Sister ist deutlich freier erzählt als Koreedas recht stringent geplotteter Like Father, Like Son, aber ihm fehlen ein wenig die Reibungsflächen, die den schönen, manchmal etwas kitschigen Momenten des gegenseitigen Verstehens zu einem Ausdruck jenseits bloßer Affirmation verholfen hätten. Moretti dagegen erweist sich erneut als Meister des Tragikomischen, wenn er seine Protagonistin, eine Regisseurin (sich auch in diese Hauptrolle noch selbst zu casten, war dann wohl selbst dem autobiografie-versessenen Moretti etwas zu viel), gleichzeitig mit dem schleichenden Verfall der herzkranken Mutter und den Launen eines US-amerikanischen Schauspielers konfrontiert, der ihr bald das Filmset zur H ölle macht.
+ + +
Die zwei großen Favoriten dürften bislang Carol von Todd Haynes und Mountains May Depart von Jia Zhang-ke sein. Letzterer ist eine über eine Zeitspanne von 25 Jahren bis in die Zukunft reichende angelegte Geschichte um eine chinesische Kleinfamilie, mit der Jia vor allem Fragen des kulturellen Wandels nachgeht. Als klassische Allegorie neigt der Film manchmal zum Durchkauen bekannter Motive wie dem Verlust von Traditionen und der globalisierenden Orientierung am Englischen. Umso stärker deshalb, wie sich hier nicht nur das Große im Kleinen spiegelt, sondern das Kleine im Großen. Wie wir das so tragisch wie notwendig entfremdete Verhältnis zwischen dem beim Vater aufgewachsenen Sohn (mit dem allzu bezeichnenden Namen Dollar) und der daheimgebliebenen Mutter nachvollziehen, schließlich die merkwürdige Zwischenwelt eines Menschen kennenlernen,, der mit 11 Jahren von China nach Australien zieht; zu früh, um das Alte mitzunehmen, zu spät, um sich das Neue gänzlich zu eigen zu machen. Denke ich nach den über zwei Stunden Laufzeit zurück an den ausgedehnten und – wenigstens am Ende eines langen Festivaltages – nicht unanstrengenden Prolog, in dem sich die Eltern von Dollar in knalligen 4:3-Videobildern und langen Dialogen kennenlernen, scheinen mir diese Szenen tatsächlich fast 25 Jahre her zu sein.
+ + +
Ein paar Tage zuvor hatte Carol bereits den Wettbewerb aus seinem Halbschlaf gerissen, und das obwohl Todd Haynes mit seinem neuen Film um eine lesbische Liebesbeziehung in den frühen 1950er Jahren stilistisch nicht gerade überrascht oder gar das Kino neu erfindet. Er erinnert uns vielmehr auf eine so altmodisch wie erfrischende Art und Weise an seine Kraft. Auch wenn Carol noch immer als ein großer Favorit auf die Goldene Palme gilt, lässt sich von einer ungetrübten Begeisterung innerhalb der Kritikergemeinde dann doch nicht sprechen. Die meisten der bislang vorgebrachten Vorbehalte gegen den Film kann ich kaum verstehen. Nicht weil ich den Film für unfehlbar halte, sondern vor allem, weil ich die meisten der ihm gemachten Vorwürfe für seine größten Stärken
halten. Das gilt für seine ausgestellte Künstlichkeit, die Betonung der Oberflächen gegenüber der Psychologie, des gleichgeschlechtlichen Begehrens gegenüber der sexuellen Identität. Nicht zuletzt gilt es für das Setting in den 1950er Jahren.
Dass der Regisseur von Dem Himmel so fern mit seinem ersten Kinofilm seit acht Jahren nun wieder in diese Zeit zurückkehrt, das hat jedenfalls
nichts mit Faulheit zu tun, nichts mit einer naiven Treue zur Vorlage von Patricia Highsmith („The Price of Salt“) – und auch nicht ausschließlich mit seinem Faible fürs klassische Hollywoodkino. Eine lesbische Affäre in der Gegenwart, sie ließe sich ebenso im melodramatischen Modus erzählen, müsste sich aber einer gänzlich anderen Logik der Blicke und Wünsche unterordnen. Die 1950er Jahre – oder besser gesagt: ihr pophistorisches Zerrbild – sind
konstitutiv für die erzählte Geschichte und für das Kino des Todd Haynes, weil sie seinem Blick auf menschliches Begehren zum Ausdruck verhelfen, das umso intensiver ist, je dichter der Raum ist, den es zu durchschreiten hat.
Denn Haynes interessieren die Fünfziger nicht, weil er die damalige Doppelmoral und den Konformismus anprangern will – seinem Kino geht es ja gerade nicht um Authentizität und Enthüllung, sondern um Künstlichkeit und Verhüllung. Vielmehr ist das
Bild dieser Zeit als starre, durchgerasterte Welt geeignetes Spielfeld, um dem Begehren in seinem Werden nachzuspüren, einem Werden, das nur in dem Maße ins Sichtbare, ins Kino, geholt werden kann, wie es quer zur herrschenden Norm verl äuft, wie es noch keine Identitäten kennt.
+ + +
Deshalb laufen für mich auch all die Hinweise auf einen Mangel an Schärfe in der Figurenzeichnung, auf die dramatische Verschleierung der eigentlichen Geschichte, ins Leere, weil Carol zwar ganz beiläufig auch von zwei Frauen anno 1952 erzählt, sich in seinem Kern aber für das interessiert, was zwischen ihnen entsteht; und dieses Zwischen ist auf die historische Verortung angewiesen,
nicht die konkrete erzählte Geschichte. Carol holt nicht die realen, sondern die filmischen Fünfziger ins Bild, um mit der Kamera in ihre Zwischenräume einzudringen. Um eine junge Frau nicht mit ihrer lesbischen »Neigung« zu konfrontieren, sondern erst einmal ganz und gar zu verwirren.
Für die Sehnsucht und die Abenteuerlust, den Sturz ins Ungewisse (und natürlich für Cate Blanchetts
Divenhaftigkeit, für die tollen Mützen, die Rooney Mara trägt, deren Figur eben nicht gezeichnet wurde, sondern »vom Himmel gefallen ist«, wie Carol einmal bemerkt), dafür braucht Todd Haynes die 1950er Jahre. Nicht, weil er dorthin zurück will; nicht, weil wir zum Reiz des damals Verbotenen zurückfinden könnten oder sollten; aber um diese Form des Begehrens im Hier und Jetzt zu beschwören. Deshalb mag sein Film mal wieder in der Vergangenheit spielen, ist aber doch ganz und gar Kino von
heute.