68. Filmfestspiele Cannes 2015
Die Kritikerliste – Blick nach Cannes V |
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The Lobster von Yorgos Lanthimos rangiert relativ ganz vorne | ||
(Foto: Haut et Court (France)) |
Von Dunja Bialas
Hier also meine zerknirschte Auseinandersetzung mit dem Kritikerspiegel, nachdem mich Christoph Hochhäusler zurückgepfiffen hat. Vielleicht nicht: Fakten, Fakten, Fakten (Kritiker verbreiten keine Fakten), aber: Listen, Listen, Listen. Jetzt hat das Rennen um den besten Film begonnen. Nur einer! kann Cannes' Goldene Palme gewinnen.
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Der letzte Blick nach Cannes war wohl zu flüchtig. Oder ließ sich blenden durch erste euphorische Stimmen, die von Valérie Donzellis Marguerite & Julien schwärmten. Ich danke auf jedem Fall an dieser Stelle Christoph Hochhäusler von »Revolver« und seiner Berichtigung. Angesichts meiner sehr bedauernswerten Fehleinschätzung, wie denn der zweite Wettbewerbsfilm einer Frau aufgenommen wurde, ist es angebracht, sich hier einmal den ganz harten Fakten zuzuwenden, die im Internet in puristischen Listen veröffentlicht werden. Das Cannes Critic’s Rating trägt tagtäglich zusammen, wie Filme beurteilt werden. Sieben Kritiker-Bewertungslisten sind dabei, wie die umfassende Liste aus Argentien Todas las criticas, Ioncinema, Le Cinéma français, der Kritikenspiegel von Critic.de, sowie Indiewire, Einzelkritiken und Printveröffentlichungen.
Sehr umfassend also. Darauf ist zu vertrauen. Wir fassen die heutige Liste zusammen, und machen das, wie zu Formel-1-Charts-Zeiten, von hinten. Abgeschlagen, knapp vor dem letzten Platz, den Gus Van Sant belegt (der 2003 mit Elephant die Goldene Palme gewann), befindet sich dort tatsächlich der Film von Valérie Donzelli, auf Platz 15. Maïwenn geht es nicht besser. Ihr Film schafft gerade mal Rang 14, 2011 gewann sie mit Poliezei den Preis der Jury. Das ist schade, ihrem Film galt aus der Ferne viel Sympathie. Fast genauso schlecht schneidet Matteo Garrone ab. Er hatte 2008 (Gomorrha) und 2012 (Reality) den Großen Preis der Jury gewonnen. Aber auch Kore-eda Hirokazu, der vor zwei Jahren für Like Father, Like Son den Preis der Jury gewann, schneidet nicht gut ab. Our Little Sister heißt sein Film über den Versuch, eine Halbschwester in eine Familie zu integrieren, deren Mutter die Frau ist, mit dem der Vater Ehebruch begangen und die Kernfamilie zerstört hat: ein moralisches Lehrstück. Platz 9.
Preis der Jury, Großer Preis der Jury: Eine Rangfolge nicht nur in den Filmen, sondern eben auch in den Preisen, man ahnt es schon. Der Preis der Jury, geht anders als der Große Preis, an einen Film, der der Jury, so lautet die vage Formulierung, in »besonderer« Weise gefallen hat. Früher hieß er mal Spezialpreis der Jury, den es heute zusätzlich gibt, der aber nicht vergeben werden muss. Der Große Preis der Jury soll einem Film verliehen werden, dem eine gewisse »Originalität« zufällt. Was auch immer das genau heißen mag. Und dann gibt es noch die Goldene Palme für den Besten Film, um die oder den sich hier alles dreht. Die Juryzusammensetzung ist dabei natürlich entscheidend, und besteht traditionell aus Filmschaffenden. Dieses Jahr gruppieren sich neben den Regisseuren Xavier Dolan (Mommy, 2014: Preis der Jury) und Guillermo del Toro (Pans Labyrinth, Wettbewerb 2006) ausschließlich Schauspielerinnen und Schauspieler um die Juryvorsitzenden Joel & Ethan Coen (Barton Fink, 1991: Goldene Palme) – eine Sängerin ist auch noch dabei, Rokia Traoré aus Mali. Ohne Cannes-Referenzen.
Es geht also um die vorderen Plätze. Richtig sportlich wird es, wenn Wetten auf den Gewinner der Goldenen Palme geschlossen werden, bevor die Filme überhaupt zu sehen waren, wie ein Kritikerritual dies tut. Zum Ritual gehört aber auch, erst mal jeden Film sehr, sehr misstrauisch zu beäugen, die Latte liegt sehr, sehr hoch. Um den Sport noch weiter zu treiben, als könnten wie im Fußball (siehe Monika Grütters Fußballvergleich) Gewinner aus Tabellen abgeleitet werden: The Lobster des Griechen Yorgos Lanthimos liegt derzeit im Kritikerspiegel auf Rang fünf (er gewann 2009 in der Sektion Un Certain Regard mit Dogtooth), Nanni Moretti überzeugte die Kritiker mit Mia Madre und liegt auf Platz vier (Goldene Palme 2001 für Das Zimmer meines Sohnes). Auf Platz drei liegt Son of Saul des Ungarn László Nemes, und hier wird es interessant. Son of Saul ist das Langfilmdebüt des 38jährigen Regisseurs, das 1944 in Auschwitz spielt und ein intensives Holocaust-Drama vom Töten und Überleben zeigt.
Jia Zhangke liegt fast ganz vorne. Der chinesische Regisseur war schon zwei Mal mit seinen Filmen in Cannes (24 City, A Touch of Sin). Jetzt mit Mountains May Depart, die von der Liebe einer Lehrerin zu einem Bergarbeiter erzählt, grob gesagt. Auf Platz eins liegt am siebten Wettbewerbstag Carol des Amerikaners Todd Haynes. Doch auch das ist nur relativ. Dominik Kamalzadeh attestiert im österreichischen Standard der lesbischen Liebesgeschichte eine zwar »makellose« Visualität, wünscht sich aber doch, »er würde sich ein wenig mehr herausnehmen«. »Stagnieren auf hohem Niveau« nennt er das: Kein Sieger in Sicht. Warten wir also noch Jacques Audiard (2009 Großer Preis der Jury für Ein Prophet), Altmeister Hou Hsiao-Hsien (sechs Mal für die Goldene Palme nominiert, Preis der Jury 1993 für Der Puppenspieler) und den Australier Justin Kurzell ab. Dieser zeigt im Wettbewerb seinen zweiten Langfilm. Macbeth, mit Marion Cotillard und Michael Fassbender. Und dann sollte man sich noch davon überraschen lassen, wie die kritikerlose Jury urteilt.