68. Filmfestspiele Cannes 2015
Stunde der Kritik: Valérie Donzelli, Gus Van Sant – Blick nach Cannes IV |
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Marguerite & Julien wurde einhellig nicht gemocht. Die Nouvelle Vague lässt trotzdem grüßen | ||
(Foto: Wild Bunch) |
Von Dunja Bialas
Hier habe ich mich verführen lassen. Und gleichzeitig die Oberflächlichkeit des Internets erfahren. Christoph Hochhäusler von »Revolver« pfiff mich berechtigterweise prompt zurück: »Liebe Dunja, deine Empörung in Ehren, aber Marguerite & Julien einen 'fast einhellig gefeierten Wettbewerbsbeitrag' zu nennen ist einfach falsch. Im Critic.de-Spiegel sind alle abgegebenen Stimmen negativ (1 x ›indiskutabel‹, 2 x ›schwach‹, 1 x ›mäßig‹. Auf dem todoslascriticas-Spiegel (immerhin 45 internationale Kritiker, größtenteils spanisch-sprachig) erreicht er 3.78 Punkte, der dritt-schlechteste Wert. Beileibe nicht nur Variety, die gesamte englisch-sprachige Kritik ist ziemlich geschlossen gegen den Film. In der Zeit sieht Wenke Husman in dem Film gar 'den Tiefpunkt'.)«
Dies sei dem nachfolgenden Text vorangestellt. Die Rückkehr zu den ganz harten Fakten folgt hier.
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Lang lebe die Nouvelle Vague – mit Valérie Donzelli Marguerite & Julien von Valérie Donzelli, zweiter Wettbewerbsfilm einer Frau, wurde die große Überraschung von Cannes. Donzelli, die 2011 mit Das Leben gehört uns international Aufsehen erregt hatte, hat sich ein Drehbuch von Jean Gruault vorgenommen, das bereits François Truffaut in den 70er Jahren verfilmen wollte. Gruault ist Drehbuchautor von Filmen der Nouvelle Vague, die Geschichte geschrieben haben: Für Truffaut schrieb er Jules und Jim, für Jacques Rivette Paris gehört uns und Die Nonne, für Jean-Luc Godard Die Karabinieri, für Alain Resnais Das Leben ist ein Roman. Und so weiter, die Liste ist lang. Außerdem arbeitete er mit den Brüdern Dardenne, Chantal Akerman und Pascal Bonitzer zusammen. Gruault ist damit der Drehbuchautor des belgisch/französischen Films.
Auch 2015 ist der mittlerweile Neunzigjährige in Cannes wieder sehr präsent. Valérie Donzelli bezieht sich ausdrücklich auf das ursprüngliche Drehbuch, auch wenn sie es umgeschrieben hat. Alles geht zurück auf die wahre Inszest-Geschichte von Marguerite und Julien Ravalet, die 1603 hingerichtet wurden. Vielleicht ist es die Inspiration durch Gruault, vielleicht die klare Schauspielerführung von Donzelli, die selbst Schauspielerin ist, dass der Film so frisch und dennoch so »zeitlos«, wie der »Stern« schreibt, rüberkommt. Der Trailer gibt eine Ahnung über das wild Ungestüme ihrer Inszenierung, in der sie verschiedene Stile miteinander vereint, modern und gleichzeitig historisch ist. – »Sie haben alles getan, um uns zu trennen. Man kann aber nicht das Blut aus den Venen entfernen, den Saft aus dem Baustamm, das Salz aus dem Meer…« – Marguerite & Julien
»Variety«, der Seismometer in Sachen Filmmarktwert hingegen urteilte über den fast einhellig gefeierten (s.o.) Wettbewerbsbeitrag Marguerite & Julien: »Something certainly overcame her (Valérie Donzelli’s) reason, as the film is a painfully silly, laughably naive Romance with a capital R.« Der Film soll sich, so »Variety« weiter, einen Platz im Wettbewerb erschlichen haben (ja wie denn nur?), und habe keinerlei Chancen auf eine internationale Auswertung. Aha.
Cannes ist ja immer die große Stunde der Filmkritik. Die Filme als erste zu sehen, sie einzuordnen, auf Dauer oder auch nur vorübergehend Recht zu haben, lässt die Kritikerinnen und Kritiker in einen großen Wettstreit um das erste Wort und die wichtigste Publikation treten. Dennoch gilt zu bedenken, dass bestimmte Blätter auch bestimmte Ziele verfolgen, wie zum Beispiel die »Variety« vor allem für den internationalen Verkauf von Filmen bedeutend ist. Und daher ihr eigenes Urteil auch sehr, sehr wichtig nimmt.
Manchmal ergeben sich auch Eigendynamiken, wie beim lange erwarteten Film von Gus Van Sant The Sea of Trees mit Matthew McConaughey und Ken Watanabe, der in einem sagenumwobenen japanischen Selbstmörderwald spielt. Auf der Pressekonferenz gab es Buhrufe, aber nicht so ausgiebig, wie beim inzwischen legendären Ausbuhen von Only God Forgives. Eher ein wenig leidenschaftslos, wie kolportiert wird. Indiewire urteilt: »Gus Van Sant’s Worst Movie«. Da hilft wohl nur noch Lakonie, wie der Kommentar von Matthew McConaughey: »Jeder hat das Recht auf Buhrufe, genauso wie auf Standing Ovations.«