21.05.2015
68. Filmfestspiele Cannes 2015

Stunde der Kritik: Valérie Donzelli, Gus Van Sant – Blick nach Cannes IV

Marguerite & Julien von Valerie Donzelli
Marguerite & Julien wurde einhellig nicht gemocht. Die Nouvelle Vague lässt trotzdem grüßen
(Foto: Wild Bunch)

Cannes teilt sich uns auch mit, wenn wir nicht in Cannes sind. Wie Berichterstattung sich anfühlt, wenn man nicht vor Ort ist, wagen wir in unserer neuen Serie »Blick nach Cannes«. Mit Trailern, Verlinkungen zu Pressekonferenzen, Querbezügen im Programm und natürlich ohne eine einzige Filmkritik zu schreiben. Denn dazu müsste man tatsächlich vor Ort sein.

Von Dunja Bialas

Hier habe ich mich verführen lassen. Und gleich­zeitig die Ober­fläch­lich­keit des Internets erfahren. Christoph Hoch­häusler von »Revolver« pfiff mich berech­tig­ter­weise prompt zurück: »Liebe Dunja, deine Empörung in Ehren, aber Margue­rite & Julien einen 'fast einhellig gefei­erten Wett­be­werbs­bei­trag' zu nennen ist einfach falsch. Im Critic.de-Spiegel sind alle abge­ge­benen Stimmen negativ (1 x ›indis­ku­tabel‹, 2 x ›schwach‹, 1 x ›mäßig‹. Auf dem todos­la­scri­ticas-Spiegel (immerhin 45 inter­na­tio­nale Kritiker, größ­ten­teils spanisch-sprachig) erreicht er 3.78 Punkte, der dritt-schlech­teste Wert. Beileibe nicht nur Variety, die gesamte englisch-sprachige Kritik ist ziemlich geschlossen gegen den Film. In der Zeit sieht Wenke Husman in dem Film gar 'den Tiefpunkt'.)«

Dies sei dem nach­fol­genden Text voran­ge­stellt. Die Rückkehr zu den ganz harten Fakten folgt hier.

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Lang lebe die Nouvelle Vague – mit Valérie Donzelli Margue­rite & Julien von Valérie Donzelli, zweiter Wett­be­werbs­film einer Frau, wurde die große Über­ra­schung von Cannes. Donzelli, die 2011 mit Das Leben gehört uns inter­na­tional Aufsehen erregt hatte, hat sich ein Drehbuch von Jean Gruault vorge­nommen, das bereits François Truffaut in den 70er Jahren verfilmen wollte. Gruault ist Dreh­buch­autor von Filmen der Nouvelle Vague, die Geschichte geschrieben haben: Für Truffaut schrieb er Jules und Jim, für Jacques Rivette Paris gehört uns und Die Nonne, für Jean-Luc Godard Die Kara­bi­nieri, für Alain Resnais Das Leben ist ein Roman. Und so weiter, die Liste ist lang. Außerdem arbeitete er mit den Brüdern Dardenne, Chantal Akerman und Pascal Bonitzer zusammen. Gruault ist damit der Dreh­buch­autor des belgisch/fran­zö­si­schen Films.

Auch 2015 ist der mitt­ler­weile Neun­zig­jäh­rige in Cannes wieder sehr präsent. Valérie Donzelli bezieht sich ausdrück­lich auf das ursprüng­liche Drehbuch, auch wenn sie es umge­schrieben hat. Alles geht zurück auf die wahre Inszest-Geschichte von Margue­rite und Julien Ravalet, die 1603 hinge­richtet wurden. Viel­leicht ist es die Inspi­ra­tion durch Gruault, viel­leicht die klare Schau­spie­ler­füh­rung von Donzelli, die selbst Schau­spie­lerin ist, dass der Film so frisch und dennoch so »zeitlos«, wie der »Stern« schreibt, rüber­kommt. Der Trailer gibt eine Ahnung über das wild Ungestüme ihrer Insze­nie­rung, in der sie verschie­dene Stile mitein­ander vereint, modern und gleich­zeitig histo­risch ist. – »Sie haben alles getan, um uns zu trennen. Man kann aber nicht das Blut aus den Venen entfernen, den Saft aus dem Baustamm, das Salz aus dem Meer…« – Margue­rite & Julien

Die Stunde der Kritik – von Gus Van Sant

»Variety«, der Seis­mo­meter in Sachen Film­markt­wert hingegen urteilte über den fast einhellig gefei­erten (s.o.) Wett­be­werbs­bei­trag Margue­rite & Julien: »Something certainly overcame her (Valérie Donzelli’s) reason, as the film is a painfully silly, laughably naive Romance with a capital R.« Der Film soll sich, so »Variety« weiter, einen Platz im Wett­be­werb erschli­chen haben (ja wie denn nur?), und habe keinerlei Chancen auf eine inter­na­tio­nale Auswer­tung. Aha.

Cannes ist ja immer die große Stunde der Film­kritik. Die Filme als erste zu sehen, sie einzu­ordnen, auf Dauer oder auch nur vorü­ber­ge­hend Recht zu haben, lässt die Kriti­ke­rinnen und Kritiker in einen großen Wett­streit um das erste Wort und die wich­tigste Publi­ka­tion treten. Dennoch gilt zu bedenken, dass bestimmte Blätter auch bestimmte Ziele verfolgen, wie zum Beispiel die »Variety« vor allem für den inter­na­tio­nalen Verkauf von Filmen bedeutend ist. Und daher ihr eigenes Urteil auch sehr, sehr wichtig nimmt.

Manchmal ergeben sich auch Eigen­dy­na­miken, wie beim lange erwar­teten Film von Gus Van Sant The Sea of Trees mit Matthew McCo­n­aughey und Ken Watanabe, der in einem sagen­um­wo­benen japa­ni­schen Selbst­mör­der­wald spielt. Auf der Pres­se­kon­fe­renz gab es Buhrufe, aber nicht so ausgiebig, wie beim inzwi­schen legen­dären Ausbuhen von Only God Forgives. Eher ein wenig leiden­schaftslos, wie kolpor­tiert wird. Indiewire urteilt: »Gus Van Sant’s Worst Movie«. Da hilft wohl nur noch Lakonie, wie der Kommentar von Matthew McCo­n­aughey: »Jeder hat das Recht auf Buhrufe, genauso wie auf Standing Ovations.«