68. Filmfestspiele Cannes 2015
Unter dem Palais liegt der Strand |
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Mad Max weckt den Cowboy im Manne und Retro-Gefühle auf Heavy Metal | ||
(Foto: Warner Bros.) |
1. Folge – 12/05/2015 Im rasenden Stillstand – Das Festival eröffnet mit La Tete Haute, aber der wahre Eröffnungsfilm heißt Mad Max
2. Folge 14.05.2015
Die Liebe zu Catherine Deneuve ist die Liebe zur Republik – Weichet nur, betrübte Schatten: Der umstrittene Eröffnungsfilm
3. Folge 14.05.2015
»Never negotiate! Never vote!
Take arms, when necessary!« Wo es eine neue Tyrannei gibt, da wird es auch neuen Anarchismus geben
4. Folge 15.05.2015
Das bessere Kino? Wie der Fluch gebrochen wurde: Fußballkunst und Kritkerhandwerk
5. Folge 16.05.2015
Grotesken und Burlesken gegen die Kraft der Bilder – Im Zauberberg von Cannes: Drei italienische Beiträge an der
Croisette
6. Folge 17.05.2015
Doch die Pracht hat hässliche Flecken... – Regeln und Regelbruch: Freiheit als Thema bei Todd Haynes und Yorgos Lanthimos
7. Folge 18.05.2015
Kino der Ungewissheit: Intensität, Neugier, Misstrauen, Gerede und Vermutungen
8. Folge 19.05.2015
Der Irrsinn im Herz des
Kapitalismus – High Heels, Strohfrauen und die Zinsknechtschaft
9. Folge 21.05.2015
Der lange Weg nach Westen – Scharfes Schwert und schwaches Herz: Der Richard-Gere-Buddhismus des Westens und das neue Nirwana-Kino
10. Folge 23.05.2015
»Film ist wie Wein, man weiß nie, was herauskommt« – Trockeneiskino, Schmuddel-Shakespeare und erste
Bilanzgedanken
11. Folge 24.05.2015
Sinnliche Erfahrung, Sozialkitsch und Mord-Alltags – Goldene Palme für französisches Einwanderermelodrama und der Ungar Laszló Nemes gewinnt den »Grand Prix« in Cannes, ein Streifzug zum Abschluß des diesjährigen Festivals
1. Folge – 12/05/2015
Im rasenden Stillstand – Das Festival eröffnet mit La Tete Haute, aber der wahre Eröffnungsfilm heißt Mad Max
Heute Abend eröffnet das Filmfestival von Cannes seine 68. Ausgabe. Im Wettbewerb laufen siebzehn Filme. Viele große Namen finden sich auch in den drei Nebensektionen oder unter den Filmen außerhalb des Wettbewerbs.
Eröffnet wurde mit La tête haute der Französin Emmanuelle Bercaut. In der Hauptrolle: Catherine Deneuve – die spielt eine Jugendrichterin, die sich besonders um einen sehr schwierigen Jungen kümmert, über einen Zeitraum von zehn
Jahren. Ein Film, der auch eine Menge über das gegenwärtige Frankreich erzählt.
Ein ungewöhnlicher Eröffnungsfilm – ernsthaft, engagiert, kaum glamourös.
+ + +
Der wahre Eröffnungsfilm ist aber Mad Max – Fury Road. Der nun vierte Teil des legendären australischen Kultspektakels erlebt 35 Jahre nach dem allerersten Mad Max seine Europapremiere morgen Abend. Wir konnten ihn schon sehen.
+ + +
Es kracht. Es wummert. Es prügelt auf die Ohren. Der Kinosaal erzittert unter Heavy-Metal-Bässen – ohrenbetäubend laut dröhnen auch die Motoren von wild aussehenden, phantasievoll zusammengehämmerten Metallkarossen, in deren Innenleben offenbar nimmermüde Perfektionsmaschinen den Kompressoren-Takt schlagen. Manche sehen aus wie Riesenigel auf Rädern, andere wie feuerspeiende Drachen, oder wie mittelalterliche Kampfmaschinen. Und eine wirkt gar wie ein
eiserner Tyrannosaurus Rex, dessen Maul ein Bagger ist, der bei voller Fahrt bombentrichtergroße Löcher in die Fahrzeuge der Feinde reißt. Diese Höllengeräte rasen in exzessiven Verfolgungsjagden zwei Stunden lang um die Wette – durch die Wüste einer postapokalyptisch kaputten Erde, in der das Wasser offenbar knapper ist als das Benzin.
In diesen Fahrzeugen sitzen Leute, deren Outfit mit seinen Ledernietenjacken und Tatoos, gepiercter und gebrandeter Haut, mal mit
Glatze, mal mit Zottelhaar an Skinhead-Banden und Rocker-Gangs erinnert – Hell’s Angels sind sie sowieso alle. Es ist eine analoge Welt, ohne Medien, dafür ölverschmiert, eine neue Eisenzeit mit lauter dampfenden, rostenden Maschinen.
+ + +
Mad Max ist also zurück – 30 Jahre nach dem letzten Teil der Saga erlebt der neue Film seine Europapremiere auf dem Filmfestival von Cannes.
Was wir da auf der Leinwand sehen, das erfüllt alle Erwartungen, die man an einen Film wie diesen hegen kann: Visueller und emotionaler Exzeß, Exploitation-Unterleibskino, nahe an anderen Ausnahmezuständen unserer verwalteten Welt, wie
wir sie aus Karneval, Abenteuerurlaub und Dschungelcamp-Fernsehen kennen.
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Alle Mad Max-Filme sind eine Art Zukunftswestern, in dem statt der Reitpferde hochgetrimmte Autokarossen als Fortbewegungsmittel dienen. Aber es gelten die gleichen Gesetze: Männerposen, Überlebensinstinkt und das Faustrecht der Freiheit – recht bekommt, wer schneller zieht und besser zielt.
Der Film beginnt damit, dass der Titelheld – gespielt vom blendend aussehenden, auch sonst überzeugenden Briten Tom Hardy – von einer Horde weißgeschminkter, glatzköpfiger Krieger gefangen und versklavt wird. Diese Endzeitzivilisation hat irgendwann nach dem Weltuntergang ein archaisch-strenges Regiment errichtet – eine barbarische Despotie mit Autos, Stahlketten und Feuerwaffen.
Man haust in einer Zitadelle, Seuchen und Wasserknappheit plagen das Volk. Der Herrscher hat eine Totenschädelmaske und gleich fünf Frauen, mit denen er einen Sohn und Erben zeugen will. Diese Fünf wirken mit ihren perfekten Figuren wie von einem anderen Stern gefallen. Eines Tages fliehen sie, angeführt von einer von Amazonen-Kriegerin, und entwickeln gemeinsam mit Mad Max bald erstaunliche Überlebensfähigkeiten..
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Von nun an ist dieser Film nichts als eine rasende, wilde Jagd – einmal hin und dann wieder zurück durch die Wüste. Mad Max – Fury Road ist purer Karneval: Voller Freude am Überschuss findet man hier allerlei Elemente einer sehr direkten, vergnüglichen Volkskultur, die sich in diesem Film zur Gegenkultur weiterentwickelt: Zu einer anarchistischen, aber nie todernsten Herausforderung des »guten Geschmacks«. So sehen wir grotesk veränderte Körper, die mit Tatoos übersät sind, wir sehen fette nackte Weiber, die wie Milchkühe gemolken werden, wir sehen Zwerge als Statthalter des Herrschers, kindliche Knaben als Wächter und glatzköpfige Albinos als Krieger. Das Volk haust verlottert im Schmutz, es giert nach Wasser und Unterhaltung.
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Mad Max – Fury Road ist also pures eskapistisches Entertainment, und als solches sehr geglückt. Es ist aber auch, was man nicht wahrhaben will: Subtile Zeit-Diagnose unserer eigenen Post-Histoire. Dieser Film hält uns den Spiegel vor: Er zeigt unsere eigenen verdrängten Gelüste und eine Schmuddelvariante unserer Welt des neoliberalen, rasenden Stillstands. Unter unseren weichen Computerbedienoberflächen liegt die harte eiserne Zukunft.
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Und auch Cannes, dieser großartige Märchenort an der Cote d’Azur, erzählt Ähnliches: Unter dem Festivalpalais von Cannes, da liegt der Strand.
2. Folge 14.05.2015
Die Liebe zu Catherine Deneuve ist die Liebe zur Republik – Weichet nur, betrübte Schatten: Der umstrittene Eröffnungsfilm
Catherine Deneuve an sich ist ja schon Grund genug, dass einem ein Film sympathisch ist. Wenn die Deneuve aber auch noch quasi die ganze französische Republik verkörpert, den Glauben an Vernunft und Gerechtigkeit und die Herrschaft von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – was könnte es da noch zu meckern geben?
+ + +
»Ich bin nicht die Polizei und sie sind nicht vor Gericht.« – das sind so in etwa die ersten Worte, die in diesem Film fallen. Die Kamera ist nahe dran an den Figuren, sie zeigt eine Mutter, sie zeigt das kleine Kind, die Sprecherin aus dem Off. Ein heftiger Streit vor dem Kind endet damit, dass die Mutter den Raum verlässt. Das Kind guckt mit großen Augen zu. Eine tolle Szene. Wir werden die Mutter noch oft so erleben: Hysterisch, überfordert, immer das Falsche tuend. Sara
Forestier spielt diese Mutter, die man in anderen Zusammenhängen einfach eine dumme Nuss nennen würde. Die Jugendrichterin, die sich besonders um diesen sehr schwierigen Jungen kümmert, spielt Catherine Deneuve. Das ist auf den ersten Blick etwas überraschend, funktioniert dann aber gut.
Die Hauptfigur aber ist Malony, der Junge der am Anfang gerade sechs ist, und dessen Karriere durch die Institutionen von Kinderfürsorge und Justiz der Film verfolgt. »La Tete Haute«, der
diesjährige Eröffnungsfilm von der Französin Emmanuelle Bercaut (erst der zweite Eröffnungsfilm von einer Frau in der Festivalgeschichte) ist eine Achterbahnfahrt, oft miserabilistisch, mit viele Rückschlägen, nur gelegentlich von kleinen Erfolgen gekrönt. Im Zentrum steht das letzte Jahr in dem Malony noch unters Jugendstrafrecht fällt, zwischen 15 und 16. Hier muss er die Kurve kriegen, irgendwie ein solides Leben führen können, sonst droht unweigerlich das
Gefängnis.
+ + +
Stattdessen kommt Malony in ein Heim irgendwo in der Natur fern der Großstadt. Dort kann er Fußballspielen und schreiben üben, und bei gemeinsamer Arbeit erste Schritte in die Normalität tun. Das geht mal wieder schief, doch zugleich lernen wir Malony näher kennen. Wir sehen, wie er nicht in der Lage ist, auch nur einen Satz auf ein Papier zu schreiben, wie er Stunden braucht, um unleserliches Gekrakel zu produzieren. Wir sehen, wieviel Mühe sich die Lehrerin trotzdem gibt. Wir sehen, wie Malony seine Aggressionen nicht kontrollieren kann, wir sehen, wie er in der Dorfdisko nicht einmal in der Lage ist, ein Mädchen zu küssen, ohne sie dann »Schlampe« zu nennen. Wir sehen, kurz gesagt, wie kaputt dieser Junge ist, und begreifen, auch gegen unseren Willen, wie in solchen Fällen ein paar Probleme liegen könnten.
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Zumindest bei mir gab es Widerstände. Ich dachte während des Films mehr als einmal: Wieso muss ich stundenlang einem großmäuligen, nägelkauenden Versager dabei zuschauen, wie er dauernd Scheiße baut, Autos knackt, sinnlos sich selbst und andere gefährdet, und sich dabei scheinbar noch toll vorkommt?
Das stimmt auch leider alles. Zugleich aber überwindet man derartige Vorurteile beim Zuschauen aber schon.
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Man kann diesem Film so einiges vorwerfen: Mitunter ist er fast eine Komödie über Unterschichten, eine sozial-realistische Hässlichkeitsfeier, die sich mokiert, die – unfreiwillige? – Lacher provoziert. Etwa wenn ein Achtjähriger noch einen Schnuller im Mund trägt. Oder wenn die Mami wieder mal mit einem neuen Freund aufkreuzt. Oder wenn mit Malony schon alles schiefgegangen ist und seine Freundin ihm dann auch noch eröffnet: »Ich bin schwanger.«
Der Blick kommt
zu oft von oben herab, dies ist ein bourgoises Filmemachen, das vom Proletariat, von dem er handelt, vor allem Erwartbares zeigt.
Und doch: Er zeigt etwas. Er ist engagiert. Und er bricht auch mit Erwartungen.
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Irgendwann hörte ich den Einwand, dies sei ein Propagandafilm pro Francois Hollande. Davon mal abgesehen, dass es glaube ich, Schlimmeres gibt, als drei Monate nach Charlie Hebdo und zwischen der ganzen Menschenverachtung und den Zynismen der schwarzen Hälfte des gegenwärtigen Autorenkinos auch mal etwas Humanistisches zu zeigen, und einen Film, der Hollande nicht der Lächerlichkeit preisgibt, sich nicht in billiger Antipolitik suhlt, davon also abgesehen, ist La Tete Haute eine zum Teil bittere, unbequeme Selbstreflexion Frankreichs und der erodierenden Sozialsysteme im Westen. Es wird klar: Die Sozialarbeiter sollen den missratenen Kids Jobs geben, aber es gibt keine Jobs.
Zudem ist Malony so sympathisch nicht. Man muss schon etwas engstirnig sein, wenn man als Zuschauer hier nicht mal auf die Frage kommt, ob es das eigentlich wirklich wert ist, zuerst 230 Euro am Tag, später als Belohnung für weiteres
Versagen gar 800 Euro am Tag (die Zahlen fallen so in dem Film, ich habe sie aber nicht überprüft) auszugeben? Vielleicht sollte man Malony einfach in ein Loch werfen, und das Geld sinnvoller ausgeben?
Auch solche Debatten erstickt der Film nicht, er ermutigt sie.
+ + +
Der Film bietet keine einfachen Antworten auf all dies. Er suggeriert keine Patentrezepte, keine Katharsis. Die Hauptfigur bleibt flirrend, unberechenbar, agiert nicht logisch und gerade darum psychologisch triftig.
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Ich habe auch den Einwand gehört, Frankreich habe doch ganz andere Probleme. Der Film sei verlogen, weil er sich »der Einwandererproblematik« nicht stelle. Das ist falsch, er stellt sich dem nämlich schon, nur anders als es manche gern hätten.
La Tete Haute ist politisch, weil er zeigt, dass es auch kriminelle weiße Jugendliche gibt, weil er argumentiert, dass Frankreich (und Europa) ein Klassenproblem haben, kein Rassenproblem. Und schon gar
kein Religionsproblem. Religion kommt in diesem Film einfach mal gar nicht vor – eine große Erleichterung.
+ + +
Der Musikeinsatz ist tendenziell etwas zu »groß« – gleich dreimal kommt das Piano-Trio Op. 100 von Schubert. Das ist von Kino schon anderweitig »besetzt« und wirkt schon deshalb hier deplatziert.
Was aber super ist, ist das musikalische Pathos der Schlußszene: Als am Ende dann Malony mit seinem Kind auf dem Arm das Zimmer der Richterin zum letzten Mal verläßt, wir ihm von
hinten folgen, wenn er langsam Treppe um Treppe hinunter zum Ausgang geht (und ein wenig bangen, ob der Taugenichts auch nicht stolpert, und das Baby fallen lässt), und sich dann, als er durch die Tür ins sonnige Freie tritt, und wir über der Pforte »Palais de la Justice« lesen und am linken Rand die Tricolore weht, dann erklingt der Bachchoral »Weichet nur betrübte Schatten«.
+ + +
Man kann auch hier wieder schnell schreien: Kitsch! Teilweise stimmt das, ein wenig ist das Urteil aber auch übertrieben und zu harsch. Denn wenn man Ken Loach seit vier Jahrzehnten sein Revolutionsgetue, seinen angeschminkten Trotzkismus und das Moralisieren verzeiht, und Mike Leigh seinen Sozialkitsch, und beiden das ganze Pathos, warum darf dann ein Film nicht auch mal pro-republikanischen Kitsch machen?
Emmanuelle Bercauts Film ist einmal ein überaus
ungewöhnlicher Eröffnungsfilm: So ernsthaft, engagiert, und wenig glamourös sind Festivaleröffnungen selten.
+ + +
Gibt es wirklich nur die Alternative: Cheesy-Humanismus oder grinsender-Nihilismus? Ich hoffe doch nicht. Aber wir müssen etwas verändern, das beweist der Film, müssen uns und unsere Politik neu erfinden: Nur eine neue liberale Linke, kann uns retten, eine mediterrane Linke, die Engagement und Ironie, Hedonismus und Verstand versöhnt, die anti-puritanisch und libertär ist, individualistisch und exzessiv.
Auf der Polizeistation auf der Ecke sind die Wände besprayt. Ein
Polizeiauto hat eine fette Delle, die offensichtlich von Fußtritten stammt. Malony war auch in Cannes schon da.
3. Folge 14.05.2015
»Never negotiate! Never vote! Take arms, when necessary!« Wo es eine neue Tyrannei gibt, da wird es auch neuen Anarchismus geben
»I didn’t come for glory, I have come for danger.«
Victor Hugo
+ + +
Vor zwei Jahren gewann Adèle Exarchopoulos eine Goldene Palme. Sie persönlich, als Darstellerin der Adèle in Blau ist eine warme Farbe, gemeinsam mit ihrer Leinwandpartnerin Lea Sedoux. Jetzt ist sie zurück an der Croisette, aber nicht im Wettbewerb sondern im Eröffnungsfilm
der »Semaine de la Critique«, und diesmal an der Seite von Tahar Rahim, der vor wenigen Jahren ebenfalls im Wettbewerb knapp an der Goldenen Palme vorbeischrammte, als Hauptdarsteller von Jacques Audiards Ein Prophet.
Wenn beide jetzt in einer auch räumlich abgelegenen Nebensektion laufen, dann erzählt uns das nicht allein etwas darüber, wie schnell der Palmen-Ruhm verblassen kann, allemal
für Schauspieler, die eben doch eher Material sind, sondern auch darüber, wie reichhaltig das Kino Frankreichs ist, und wie breit die Qualität dieses Festivals.
+ + +
Eröffnet wird natürlich nicht nur der Festival-Wettbewerb. Jede Nebensektion hat ihre eigene kleine Eröffnung, zumeist einen Tag später. »Un Certain Regard« eröffnete mit An, dem neuen Film der Japanerin Naomi Kawase, auf den wir noch kommen werden, und die »Quinzaine« mit Phillippe Garrels Film L’Ombre des Femmes, den ich leider verpassen musste. Dafür habe ich mir nach langer Zeit mal wieder eine Eröffnung der »Semaine de la Critique« angeguckt, mit Adèle Exarchopoulos in der Hauptrolle und einem vielversprechenden Titel: Les Anarchistes. Den habe ich gern gesehen. Es ist kein perfekter Film, aber ein angenehmer, energiegeladener, der ist, was er ist, dazu steht und sich nicht wichtiger nimmt, als nötig.
+ + +
Dabei wäre ich beinahe nicht reingekommen: Denn es gab riesige Schlangen, das eher kleine Kino im »Miramar« hätte dreimal gefüllt werden können. Als ich am Eingang die Mitarbeiter der Semaine anspreche, ob sie mir einen Gefallen tun könnten – einmal weil ich nett frage, und dann weil ich schließlich 12 Jahre als Deutschland-Korrespondent der Sektion gearbeitet habe, ist man freundlich, muss aber ablehnen, und verweist mich an den Presseagenten des Films.
Und der ist nicht
nur mit meiner Frage sondern auch den Nachfragen anderer Kollegen und der ganzen Situation von Anfang an überfordert. Die ganze Zeit geht es in seinem abwehrenden Gerede nur um ihn selber: »Schauen Sie MICH nicht so an.« – »What do you want from ME?« – »Why do you ask ME, when you alreaedy know the answer?« – »Why do you give ME that look? As you were the most miserable person on earth?« – »I am here for you guys.« Und so weiter.
Ich reiße mich zusammen, sage ihm,
ich wolle ja nur freundlich fragen, aber das werde er ja noch verstehen, meint er »I am doing this job for 15 years«. Ich denke »15 Jahre zu lang.« Und als der Presseagent dann auch noch von Quinzaine redet, erlaube ich mir, ihn darauf hinzuweisen, dass wir in der Semaine sind. Er daraufhin: »Are you still beeing friendly.«
So geht’s fast eine Stunde lang. Dabei muss man es mal aussprechen: Wer schreibt schon über die Semaine? Wie soll man auch, bei solchen Presseagenten? Da
muss sich die Semaine etwas mehr Mühe geben, sonst macht man den weiten Weg an das andere Ende Stadt irgendwann gar nicht mehr.
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Natürlich kann man sagen: wer schon in einen Film gehen will, der von Anarchisten erzählt, sollte sich vielleicht mit solchen Heinis gar nicht angeben, sondern einfach den Saal stürmen. Gemeinsam hätte das auch hingehauen. Aber die Jugend von heute ist anders und lässt sich lieber nach Hause schicken. So wird das nichts mehr mit der Verbesserung der Verhältnisse.
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Immerhin bin ich dann doch noch reingekommen, nach meinem Eindruck als Allerletzter. Ich saß in der ersten Reihe, und konnte gut sehen.
Zuerst einmal wurde die Sektion eröffnet. Lange Reden. Über 2900 Filme habe man gesehen, und dann ein Sermon: »pertinance and dependance ... contemporary world ... questions enleve des choses.«
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Alles spielt 1899 und beruht zwar im ganz Allgemeinen auf Historischem, ist aber im Konkreten vollkommen fiktiv. Zugleich spielt er mit der Wahrheitsfrage: Denn der sehr coole, poppige Titelvorspann zeigt die Darstellernamen und dann immer dazu scheinbar historische Bilder.
Der Film des Franzosen Eli Wajmann ist auch eine Verräter-Geschichte. Im Zentrum Jean, ein Polizist, dessen Vater 1871 ein Kommunarde war. Sein Vorgesetzter setzt ihn darauf an,
eine anarchistische Gruppe zu infiltrieren. Warum? fragt er. »weil Du Vertrauen erzeugst.« Für Jean ist das eine einmalige Aufstiegschance, die er mit beiden Händen ergreift. Er verlässt seine Freundin, eine Dienstmagd, mit der Begründung, er wolle nicht mehr »leben wie Les miserables«. Das Zitat ist plausibel, weil erwähnt wird, dass er von Victor Hugo erzogen worden sei.
»Ich bekam ein Angebot, dass ich nicht ablehnen kann. Tut mir leid.« – »Nein, dir tut nichts leid –
Du wirst schlecht enden.«
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Formal ist Alles ein konventioneller Kostümfilm, mit hervorragender Kamera und exzellenten Darstellern. Der ziemlich aufwendig inszenierte Film zeigt das Paris um 1900 plausibel, zeigt Arbeitsbedingungen, Fabriken und den Lärm, der dort herrschte. Warum macht man so etwas nicht bei uns? Dann aber auch die Bildung der Arbeiter, und die aus heutiger Sicht sehr braven anarchistischen Salons. Wajmann zeigt Pathos und Idealismus. Damals ging Politik auf Leben und Tod – das wird sie wieder und das war besser, auch das zeigt der Film.
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Auch auf heutige Verhältnisse anwendbar sind einige der Film vorkommenden praktischen Grundsätze: »vivre, pas survivre«, »Do not let the pessimists crash us.« und »1. Never negotiate! 2. Never vote! 3. Take arms, when necessary« Das ist natürlich alles gerade sehr aus der Mode. Aber jede Mode kommt wieder, alles eine Frage der Zeit.
Auch nett die Behauptung, es gibt drei Wege zu leben: Working, begging, stealing.
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Eine Liebesgeschichte gibt es natürlich auch. Auf den Satz der von Exarchopoulos gespielte Figur der Judith, sie sei nicht frei, antwortet Jean: »That sounds not like what an anarchist would say.« – »What does an anarchist say?« – »Kiss me strong right now! And nothing like that.«
Auf die Frage, warum sie Anarchistin geworden sei, antwortet die von: »Die Leute glauben, es sei aus Hass gewesen. Aber es war aus Liebe.«
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So lässt der Film das Pathos des Anarchismus wiederauferstehen, berührt en passent den Zeitgeist um 1900, Photographie und Psychotherapie und die zeitlose Frage, die auch in Woody Allens »Irrational Man« eine zentrale Rolle spielt: Wann darf man Gewalt anwenden? Wann töten?
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Hinzu machen auch der Aufstieg von widerständigen, demokratieskeptischen Bewegungen und die wachsende Verachtung für die sich selbst lähmende, in juristischen Glasperlenspielchen verfangene parlamentarische Demokratie das Thema Anarchismus attraktiv und aktuell. Der Philosoph Slavoj Zizek behauptet, der Bestand der Demokratie sei keineswegs sicher, in Zukunft drohe eine sanfte, um so nachhaltigere Diktatur.
Aber wo es eine neue Diktatur und Tyrannei gibt, da
wird es auch neuen Anarchismus geben.
4. Folge 15.05.2015
Das bessere Kino? Wie der Fluch gebrochen wurde: Fußballkunst und Kritkerhandwerk
»Sooner or later, someone pushes back.«
Ein Sklave in »Mad Max – Fury Road«
+ + +
Einen verlässlichen, in der Orientierung an Qualität klar überdurchschnittlich guten Querschnitt des Festivals, darauf wollen wir die Leser gleich zu Anfang hinweisen, geben zwei inzwischen bereits ebenso bewährte, wie unnachahmliche Kritikerspiegel, bei denen ausgewählte Kollegen mit Punkten oder Kreuzchen Schnellwertungen abgeben. In beiden mache ich auch selber mit. Das ist natürlich eher ein Spiel, freilich ein ernstes, ersetzt auf keinen Fall die echte Filmkritik. Die
Beurteilung der Filme mag sich auch im Rückblick nochmal ändern. Aber es gibt allen, die nicht hier sein können, doch eine erste Orientierung.
Bei critic.de sind es in erster Linie deutschsprachige Kollegen, bei »todaslascriticas« vom Argentinier Diego Lerer sind es mehr, die Teilnehmer
sind internationaler verteilt, auch wenn die allermeisten aus Spanien und Lateinamerika kommen, also spanische Muttersprachler sind. Und einzelne sind hier auch gar keine Filmkritiker.
+ + +
Wie diese beiden Kritikerspiegel, so hat sich in den letzten Jahren noch ein zweites Ritual eingebürgert: Die Wette auf die Goldene Palme, 5 Euro in den Topf, the winner takes it all. Getippt wird vor Beginn des Wettbewerbs, ohne dass irgendwer bereits einen Film gesehen hätte, nur nach Papierform – und ob da dann der einen Vorteil hat, der im Gegensatz zu mir alle Katalogtexte gelesen hat und alle Trailer angeguckt, das wage ich sehr zu bezweifeln. Ich mache so etwas –
vor dem Filmbesuch Katalogtexte und Pressehefte lesen, oder Trailer angucken – schon deshalb nie, weil ich mir das Erlebnis des ersten Anguckens nicht verderben lassen will.
Hinzu kommt, dass die Katalogtexte in Cannes dermaßen wenig aussagekräftig sind, dass man aus ihnen keinerlei Rückschlüsse auf den Film ziehen kann. Übrigens wird man aus ihnen auch nicht schlau, falls man den Film oder seine zweite Hälfte verpasst hat, und schreiben muss. Wir hatten uns bereits am
Dienstag vor dem Festival im »Le Crillon« getroffen, das in den letzten Jahren mein persönliches Stammlokal geworden ist – zu meiner großen Freude habe ich aus Dominik Grafs schönem Film Was heißt hier Ende? (der Mitte Juni ins Kino kommt) erfahren, dass es das auch für Michael Althen war. Während ich mir Venedig ohne Michael immer noch nicht richtig vorstellen kann, ist er für mich mit
Cannes weit weniger verbunden. Er war in meiner Erinnerung nur zweimal in der Zeit da, seit der ich auch komme. Ich glaub' das alles daher gern mit dem »Crillon«, erinnere mich aber in Bezug auf Cannes trotzdem mehr an unsere gemeinsamen Besuche im »Les Petites Artisans«, einem Lokal, das leider inzwischen auch verschwunden ist. Es war vor acht Jahren am Abend des DFB-Pokalfinales zwischen Stuttgart und Nürnberg. Nürnberg gewann damals in der Verlängerung, erfahren haben wir das nur
durch regelmäßig sms-Meldungen von Michael Kollegen Peter Körte.
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Unsere Wette hat diesmal keine klaren Favoriten. Vor einem Jahr lag da Nuri Bilge Ceylan, der dann bekanntlich gewann, auch wirklich vorn. Direkt gefolgt von Naomi Kawase, dann lange nichts. Diesmal sind die Tips viel breiter gestreut. Fast alle Kollegen haben auf einen anderen Regisseur getippt. Überraschenderweise aber keiner auf den Griechen Yorgos Lanthimos – obwohl der doch der neueste Darling des Autorenkinos ist und auch noch aus dem gerade angesagtesten Kunst-Land
kommt.
Nur eines scheint nach den Wetten klar: Ein Italiener wird gewinnen! Denn tatsächlich entfallen auf Paolo Sorrentino drei Stimmen. Matteo Garrone und Nanni Moretti werden jeweils noch zweimal getippt. Ich selber tippe eher spontan auf Denis Villeneuve. Warum kann ich nicht sagen, eher das Bauchgefühl, dass ein Film mit Genreelementen gewinnen wird, wenn die Coen-Brüder in der Jury sitzen.
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Denn an die Jury muss man bei solchen Überlegungen natürlich denken. Was werden die wohl entscheiden? Jedenfalls nie das Offensichtliche wäre meine Faustregel. So wie im letzten Jahr Jane Campion eben nicht »für eine Frau« entschied.
Die Zusammensetzung in diesem Jahr ist interessanter als 2014: Aber wieder keine deutliche Regisseursjury, das war schon öfters schwierig. Neben den Coens sitzt Guillermo del Toro in der Jury, auch ein Genreliebhaber. Und Xavier Dolan –
der wird sicher nicht für seinen francokanadischen Konkurrenten Villeneuve sein, und ich habe ihn sowieso im Verdacht, ein undiszipliniertes Jurymitglied zu sein. Auch nur so ein Bauchgefühl. Sophie Marceau, Jake Gyllenhal, Sienna Miller, das sind schwierige Kandidaten. Bei aller nostalgischen Liebe oder zumindest Schwärmerei für die Marceau, die noch immer eine meiner großen Kinotraumfrauen ist. Hoffentlich gehorchen sie alle den Coens.
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Was beim Blick aufs Wettbewerbsprogramm schon mal auffällt, ist, dass unter den 17 Filmen drei Italiener laufen. Ist das italienische Kino wirklich so gut? Kaum. Und bestimmt nicht besser, als die Japaner. Von denen gibt es auch viele Filme in Cannes, aber nur einen im Wettbewerb: Hirokazu Kore-eda gehört zu jenen »üblichen Verdächtigen« von Cannes, wie auch alle drei italienischen Filmemacher – Garrone, Moretti, Sorrentino – haben hier schon große Preise
gewonnen.
Warum aber hat es Kiyoshi Kurosawa, den regelmäßigen Gast in der Sektion »Un Certain Regard« noch nie in den Wettbewerb geschafft? Und warum läuft dort diesmal auch nicht Naomi Kawase, die doch erst im letzten Jahr einen der stärksten Filme präsentierte?
Viele große Namen finden sich diesmal in den drei Nebensektionen: Phillippe Garrel, Arnaud Desplechin, Miguel Gomes, Brillante Mendoza, Gaspard Noe, Barbet Schroeder und last not least Apichatpong Weeraseetakul.
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Es ist mein 13. Mal in Cannes und an einem 13. geht es los – hoffentlich kein böses Omen. Einen Fluch haben wir jedenfalls in diesem Jahr schon mal gründlich gebrochen. Der Dienstag begann nämlich schon gleich mit einem Ereignis, das – soviel ist sicher – viele Filme in seinen Schatten stellt. Denn Fußball ist oft genug das bessere Kino. Gemeinsam mit dem Argentinier Diego Lerer und der Katalanin Violeta Kovacsics hatte ich mich nämlich zum Fußballgucken verabredet, für das Championsleague-Halbfinalrückspiel des FC Barcelona beim FC Bayern. Muss ich an dieser Stelle noch erwähnen, dass ich für Barcelona war? Genau gesagt: Erstens für Barcelona und zweitens gegen den FC Bayern. Es ist ja schon schwer erträglich, wenn sich ein Verein nicht einmal über eine Meisterschaft freuen kann, wenn eine ernsthafte Trainerdiskussion beginnt, weil die Mannschaft im Pokal-Halbfinale im Elfmeterschießen gegen den Vizemeister ausscheidet. Aber geradezu sektiererisch wird es, wenn man nicht begreifen kann, dass der FC Barcelona diesmal die bessere Mannschaft war, und dass der Spott über »Tiki Taka« halt schlecht kommt, wenn man sich genau durch diese Eleganz und Seelenruhe am Ende drei Tore einfängt – weil die Bayern müde wurden.
+ + +
Wir schauten das Rückspiel im »Irish Pub« mit seinen großartigen großen Fernsehern. Wir gucken dort seit Jahren Fußball – freilich mit sehr gemischten Ergebnissen, erst recht aus Sicht der Anhänger des FC Barcelona. Immer wieder gewannen an diesem Ort die Falschen, nicht zuletzt die Bayern. »This place is cursed« sagte Jose Luis schon letztes Jahr, als hier Athletico Madrid gegen Barca Meister wurde, und Real die Championsleague gewann. Trotzdem haben wir es noch einmal versucht, und so erlebten wir, wie Barca mit Stil und Größe das frühe 0-1 drehte und am Ende völlig ungefährdet weiterkam. Nur die FC Bayern-Fans glauben wirklich, dass Bayern die bessere Mannschaft war, und nur Pech hatte, und der Schiedsrichter... und... und... und... – genau: Die vielen Verletzten.
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Das Wetter ist an den ersten Tagen auch großartig, der Hinflug am Dienstag ging fast durchgängig über klaren Himmel. Jetzt liegen die Temperaturen zwischen 21 und 29 Grad – alles super, so möchte man immer arbeiten.
5. Folge 16.05.2015
Grotesken und Burlesken gegen die Kraft der Bilder – Im Zauberberg von Cannes: Drei italienische Beiträge an der Croisette
»It gave me a life-lesson: never have a middle seat again! I lost two hours of my life-time. I would have walked out, I knew after 10 minutes, there is nothing to expect.«
Nil Kural, Kritikerin von »Milliyet« aus Istanbul, nach dem Film von Matteo Garrone
»Never contradict the director!«
Aus: »Mia Madre«
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Was die Italiener sich hier zusammenfilmen, ist eine Schande, jedenfalls wenn man bedenkt, wofür dieses Land einmal im Kino stand. Was da gegenwärtig aus einer Filmnation kommt, die einst mit Namen wie Rosselini, Visconti, Antonioni und noch Bertolucci das Kino der Nachkriegszeit bis in die 1970er Jahre prägte, das treibt einem mitunter die Tränen in die Augen.
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Am Anfang dachte ich noch, weil die Kulissen mächtig wackeln, weil alles extrem künstlich und arm ausgestattet wirkt, der Beginn sei vielleicht »Film im Film«, hier gehe es möglicherweise darum, die eigene Künstlichkeit bewusst auszustellen. Zumal man am Anfang den misslungenen Auftritt einiger Hofnarren vor einem Fürstenpaar erlebt – das Kino als Narrenspiel, oder die Welt als Narrenschiff, so in etwa.
Nichts davon. Alles ernst gemeint, 1:1 und viel
naturalistischer, als es den Anschein hat. Dafür sieht es aber schon mal nicht gut genug aus, und die Tatsache, dass die Darsteller englisch sprechen, mitunter wie im Fall von Salma Hayek oder Vincent Cassell mit mächtigem Akzent, macht die Sache nicht besser, sondern nur den mit Hollywoodstars aufgepeppten Europudding sichtbarer.
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Ich kann’s natürlich auch höflicher sagen: Wie Mad Max arbeitet sich dieser Film daran ab, alle öden Naturalismen komplett zu überschreiten und für unser Zeitalter eine neue Mythologie zu etablieren. Im Unterschied zu Mad Max gelingt ihm das nicht einmal
ansatzweise.
Garrone, der für Gomorrha hochgelobt wurde, und schon mit Poetry Ratlosigkeit hinterließ, aber immerhin herausforderte, scheint als Filmemacher völlig von der Spur abgekommen. Sein Film, an dem die realen Kulissen verschiedener Schlösser und Burgen Apuliens mit Abstand das schönste sind, spielt wohl im 17. Jahrhundert (die
Kleidung der Leute freilich stammt eher aus dem 16., die Gebäude zum Teil aus dem 13.). Er ist überaus schwer zu definieren. Objektiv handelt es sich um die Verschmelzung verschiedener Motive aus den Fabeln und Märchen des Giambattista Basile, des »Pentamerone«: In der ersten will eine Königin nicht schwanger werden, bis ihr ein Magier verrät, ihr Gatte solle ein Seeungeheuer töten, dessen Herz rausreißen damit sie es essen könne. Die Methode klappt, auch wenn der unglückliche Gatte
stirbt, der Sohn, der geboren wird ist ein Albino. Weil eine Dienstmagd aber heimlich ebenfalls vom Herz des Ungeheuers aß, wird ihr ein Zwilling des Prinzen geboren. Die beiden Halbbrüder können nicht nur unter Wasser atmen, sie lieben sich inniglich und treiben allerlei Schabernack, sehr zum Verdruß der Königin.
In der zweiten verliebt sich ein geiler Fürst in eine Jungfrau, die er nur von fern sieht. Tatsächlich handelt es sich um eine Alte, die ihm Gesicht und Körper nicht zeigen
will, und ihn sich mit komplizierten Tricks wortwörtlich vom leibe hält.
In der dritten zieht ein König, der nebenbei versucht, seine Tochter zu verheiraten, heimlich einen Floh auf, und nähert ihn mit Fleisch und anderem bis zur Größe eines Nilpferds.
+ + +
Garrones Ästhetik ist die der Groteske. Zugleich ist sie direkt, gradlinig, ungebrochen. Bezüge zu »Games of Thrones« bleiben daher rein äußerlich. Alles hier ist explizit, ein recht unspielerisches Spiel mit dem Ekel,. eine kalkulierte Unschuld.
Die Wiedererweckung alter Poesie, die Renaissance des Naiven scheitert. Ein Unsinn, der sich als magischer Realismus verkauft, als märchenhaftes Erzählen. Unfassbar, wie so etwas in den Wettbewerb kommen kann, der schlimmste
Wettbewerbsfilm seit Jahren. In der Pressevorführung gab es am Ende nur Stille. selbst Buhs war »Il Racconto dei Racconti« nicht wert.
+ + +
»Arbeit für alle!« brüllen die Menschen und ballen die Fäuste. Die Demonstranten sind Arbeiter. Sie wollen hinein in ihre Fabrik, aber deren Tore sind ihnen verschlossen. Sie sollen »freigestellt«, also entlassen werden. Polizei bewacht das Werkstor, und als die Protestierenden drohen, über den Zaun zu klettern, da schwingen sie ihre Knüppel, und beginnen die Arbeiter zusammenzuschlagen... »Cut!« ruft in diesem Moment eine Stimme laut. Und wir verstehen: Die ersten Bilder von Mia Madre vom Italiener Nanni Moretti zeigten gar keine Wirklichkeit, sondern die Szene eines Films, der gerade erst gedreht wird. Die Stimme gehörte Margerita, der Hauptfigur. Sie ist Filmregisseurin, und vermutlich das Alter Ego Morettis. Wir sehen sie bei der Arbeit und zuhause, erleben, wie sie mit sich hadert.
+ + +
Kinokunst ist harte Arbeit, das zeigt uns Moretti in diesem Film ganz nebenbei, so wie auch diese erste Szene einen doppelten Boden hat: Die Arbeiter, die in die Fabrik wollen, spiegeln nämlich natürlich auch die allerersten Bilder des allerersten Films der Filmgeschichte: Die Arbeiter verlassen die Fabrik hieß der Film der
Brüder Lumière, mit dem das Kino geboren wurde.
Dieses Bekenntnis zu den Gebrüdern Lumiere, ist auch eines für Realismus, für ein Kino, das Wirklichkeit abbilden, nicht phantastische Alternativwelten bauen will.
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Bei den Filmfestspielen von Cannes sind beide Arten des Kinos zu sehen, Lumiére wie Méliès. Und beide sind legitim. Nanni Moretti interessiert sich aber vor allem für die eine Seite, die Wirklichkeit, auch wenn es hier immer wieder Träume gibt, und Erinnerungen. Und er zeigt eine Hauptfigur, die in ihren Filmen die Realität verstehen und interpretieren will. Sie will relevantes Kino machen. Aber sie merkt, dass sie im Grunde von der Welt immer weniger begreift. »Ich verstehe gar
nichts mehr.«
So wie in seinem Papst-Film zeigt er auch hier wieder eine Handvoll Menschen, die sich in der Welt nicht zurechtfinden.
+ + +
Im Mittelpunkt von Morettis Cannes-Wettbewerbsbeitrag Mia Madre, (»Meine Mutter«) stehen zwei Frauen. Die jüngere, die Hauptfigur Margerita (Margerita Buy) dreht gerade einen Film, als ihre alte Mutter ins Krankenhaus eingeliefert wird und vermutlich bald sterben muss.
Der Film ist ein Portrait dieser beiden Frauen. In Rückblicken, Tag- und Alpträumen ist dies auch eine Selbstreflexion der Hauptfigur, die in der Mitte zwischen Jugend und alter
steht. Die Männer hingegen sind nur Randfiguren und oft genug unsensible Idioten – wie der Hauptdarsteller des Films, den Hollywoodstar John Turturro als eine Karikatur zwischen Schauspielergrößenwahn und -eitelkeit und den Klischees des italienischen Nationalcharakters spielt.
»Kevin Spacey tried to kill me« sagt Turturros Figur einmal, als er aus einem Traum aufwacht. Ein paar Witze über Kubrick sind bemüht, sollen sie aber auch sein. Ein Running-Gag ist der Satz,
den die Regisseurin ihren Darstellern als Regieanweisung sagt, und den wohl noch nicht mal sie selbst versteht: »I want to see the actor, next to the character.«
+ + +
Eine lustige Szene ist auch die, als Margherita zum Dreh kommt, und die Statisten der Arbeiter sind alle sehr fett geschminkt. »Hab ihr keine echten Gesichter?« fragt sie ihren Produktionsleiter. Der: »This is reality!«
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Mia Madre ist also eine selbstreflexive Film-im-Film-Komödie über das Kino mit manchem Tiefgang – sie überzeugt aber weit mehr als gescheiter Essay über die Frage, was eigentlich Wirklichkeit bedeutet, denn als Film. Da schwankt alles zu sehr zwischen dichten und witzigen Momenten und spröder Langeweile.
+ + +
»Es wird kein trauriger Film« sagt Margherita ihrer Mutter über ihre Arbeit. Und das gilt auch für »Mia Madre« selbst. Es gibt Momente, wie die Erinnerung Margheritas daran, wie sie in einer langen Schlange für den Film »Der Himmel über Berlin« anstand. Da ist der Film in jeder Hinsicht schön: Geistreich, witzig, toll gemacht, wehmütig.
Aber davon hat der Film viel zu wenige. Es ist ein Film, der in Wellenbewegungen vor sich geht. Mal extrem lahm, langweilig, ohne Pepp, und
etwas banal, auch in der naturalistischen Erzählform. Dann wieder plötzlich fünf Minuten lang gut, dann wieder stinklangweilig. Man glaubt in Morettis Grundhaltung auch eine gewisse Menschenverachtung bemerken zu können, einen Menschen zu erkennen, für den die Welt nur aus Idioten besteht.
Ist es am Ende Moretti, der in Gestalt von Margherita hier von einem Exlover kritisiert wird, als sie zur Entschuldigung erklärt »I am shooting a film«: »You never like anything. ... You
do not care for people around you. ... People take you in small doses.«
+ + +
Manchmal frage ich mich, ob ich für diesen Beruf vielleicht ungeeignet werde. Es interessiert mich einfach nicht, was Moretti, da macht, was da auf der Leinwand passiert, was die Figuren tun; es langweilt mich von den ersten Minuten an. Ich verstehe nicht, warum die Kollegen lachen, wenn sie bestimmte Szenen sehen, bestimmte Dialoge hören. Aber vielleicht sind diese Zeilen bereits die Widerlegung solcher Gedanken. Denn beim Schreiben merke ich, dass in dem Film doch ein bisschen mehr steckt, als ich unmittelbar im Kino und danach glaubte. Filmisch macht ihn das leider nicht besser.
+ + +
Die Mutter der Regisseurin ist übrigens Professorin, und es gibt einen Erzählstrang, der kreist um die Latein-Nachhilfestunden, die sie ihrer Enkelin regelmäßig gibt. Darin erklärt sie auch uns im Publikum die Bedeutung von Latein, und das Wesen der europäischen Kultur. Die Wohnung der alten Dame ist vollgestopft mit Büchern. Viele von ihnen sind kaum jünger, als ihre Besitzerin. »Was wird nur aus den Büchern werden, wenn Mutter tot ist?« fragt die Tochter verzweifelt. Gute Frage, denn Bücher sind für die Lebenden. In einer der letzten Szenen sieht man – noch ist es ein Tagtraum – die leeren Regale. Die Bücher der Mutter und damit ihre Seele, sind in Kisten verpackt. Ein treffenderes Bild für Anschied, für den Tod habe ich lange nicht gesehen. Der Trost ist, dass ein Teil von ihr wiederauferstehen wird, wenn diese Bücher zusammenbleiben und wieder in einer anderen Wohnung aufgestellt werden.
+ + +
Vielleicht muss man es so sehen: Cannes ist ein Sanatorium. Ein geschützter Raum, eine Pflegeanstalt. Die Festivalorganisatoren sind dann die Ärzte und Pfleger. Immerhin vier Filme allein im Wettbewerb schildern derartige Pflegesituationen. Drei von ihnen spielen in einem Sanatorium. Der letzte ist der von Paolo Sorrentino: Giovinezza.
+ + +
»Für Francesco Rosi« – die Widmung am Ende von Paolo Sorrentinos Giovinezza war schon eine Unverschämtheit. Was bitte hat dieser Film mit Rosi zu tun. Hätte er den Film Fellini gewidmet, wäre das auch prätentiös und dreist gewesen, aber immerhin hätte man sagen können: Er will uns sagen, dass Fellini sein Vorbild ist, er stellt sich in eine bestimmte Tradition, und das irgendwie zu recht. Aber Rosi??? Der hätte Giovinezza gehasst. Denn dieser Film ist alles das, was Rosi nicht war, auch nicht in seinen späteren, mitunter opernhaften Filmen: Gekünstelt, maniriert, narzisstisch in seine eigene Form verliebt, zugleich unfähig, diese Form zu beherrschen.
+ + +
Trotz dieses Urteils ist Giovinezza Sorrentinos bester Film seit Jahren. Das liegt allerdings weniger an einer Leistung des italienischen Regisseurs, als daran, dass Cheyenne – This Must Be the Place und La grande bellezza wirklich qualitativ
unter aller Kanone waren. Das war schwer zu unterbieten. Und es liegt an Sorrentinos Hauptdarstellern.
Ein Sanatorium in den Schweizer Bergen, das Berghotel Schatzalp nahe Davos, eine wunderbare Filmkulisse, ein Zauberberg, auf den wohl auch offen angespielt werden soll. Hier erholen sich allerlei illustre Berühmtheiten und Reiche, ein Filmschauspieler, eine Miss Universe, Michael Caine spielt – mit langen Haaren, mit denen er aussieht, wie Toni Servillo – einen
Komponisten, der alt geworden ist, und sich erholen will, gemeinsam mit seiner frisch geschiedenen Tochter, gespielt von Rachel Weisz und seinem besten Freund, einem Drehbuchautor, den Harvey Keitel spielt. Der arbeitet im Hotel mit einer Handvoll Hipster-Filmemachern an einem Stoff. Das Gesamtbild zeigt eine melancholische Welt, und Künstler, die mit ihrem Altern sehr unterschiedlich zurecht kommen. Und da Giovinetta immerhin bereits der dritte
diesjährige Wettbewerbsfilm ist, der in einem Sanatorium spielt, kommt beim Betrachter unweigerlich die Frage auf, ob das nur ein Zufall ist.
Oder fühlt sich das Autorenkino am Ende alt werden, verliert seinen Mut zum Risiko und begibt sich in ein Sanatorium zur Frischzellenkur? Das Festival von Cannes taugt dafür kaum, dafür weht hier der Wind zu hart. Spätestens bei der Palmenverleihung wird man das spüren.
+ + +
Filmisch ist Giovinezza simpel, wenn nicht simplizistisch, vor allem überaus faul. Es gibt eine Menge offenkundiger Anschlussfehler, handwerkliche Schwächen, die auch Anfängern selten unterlaufen – und daher glaube ich, dass sie Sorrentino absichtlich einbaut und sich dabei witzig vorkommt.
Davon ungeachtet solcher Schlamperei besteht Giovinezza aus zwei sehr unterschiedlichen Typen filmischen Erzählens. Es
gibt sehr viele Dialogszenen, die höchst banal inszeniert sind, mit Halbtotalen und Close-Ups, die per Schnitt-Gegenschnitt zusammengeleimt werden, und in denen keinerlei Wille zur Stilisierung erkennbar ist. uf der anderen Seite sehr stilisierte Szenen in denen größere Menschengruppen choreographiert werden, und die extrem stilisiert sind, die mitunter an Musicals erinnern, in ihren Massen-Ornamenten, ihren anspruchsvollen Kameraperspektiven, mit Kameras auf Schienen, an
Kränen, Menschen auf Laufbändern, in Fahrstühlen – zu diesen Szenen läuft dann Musik. Die Menschen haben mal exaltiert-grimassierende, mal ausdruckslos schlafwandlerische Gesichtsausdrücke. Zwei Bild-Typen, die nicht recht zusammenpassen.
Die Dramaturgie des Films entspricht der einer Nummernrevue, in der sich eine Pointe an die nächste reiht: Zwei Rollatoren, die zusammenstoßen, Jane Fonda hat ebenso einen Kurzauftritt wie Argentiniens Fußballikone Diego
Maradona wie eine namenlose Nackte mit Atombusen. Sorrentino begibt sich einmal mehr vage auf den Spuren Federico Fellinis, und Giovinezza könnte man sich auch als seine persönliche Version von 8½ vorstellen.
+ + +
Es wird viel geredet – »Did you take a piss today?« –, aber wenig passiert, die Kulissen sind schön, die Bildfeinfälle uninspiriert, aber mit solchen Schauspielern ist das alles trotzdem einigermaßen kurzweilig anzusehen. Bei dem ermüdenden Gerede geht es vor allem darum, wie es ist, wenn man alt ist, wie man mit der Vergangenheit umgeht. Man hört kleine nette unbedeutende lebensphilosophische Phrasen auf Paolo-Coehlo-Niveau. »Legerete an irresistable
temptation.«; »In my age, getting in shape is a waste of time.«; »You say, emotions are overrated. But thats bullshit.« (das sagt allerdings einer wenige Sekunden, bevor er in den Tod springt).
Es kommt auch ein Zen-Mönch in Meditation vor, zu dem Caine im Vorbeigehen sagt »You don’t fool me, i know that you cant levitate.« Doch in einem der letzten Bilder sehen wir ihn schweben.
Dieser so blöde seichte verlogene Richard-Gere-Buddhismus des Westens, das neue Einverständnis
der postmodernen Gesellschaft mit dem Esoterischen, geht mir prinzipiell auf die Nerven und man findet dies im diesjährigen Cannes-Jahrgang in besonders vielen Filmen. Darüber gibt es im nächsten Blog noch mehr zu lesen. Hier nur der Hinweis: Auch Du, Sorrentino!
+ + +
Der Titel Giovinezza spielt auf die Hymne des Mussolini-Faschismus mit seinem Kult von Jugend und perfekter Körperlichkeit an. Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat, werde bei meinen italienischen Freunden aber noch Erkundigungen einziehen, und das Ergebnis nachreichen. Das würde aber, dies wollen wir nicht verschweigen, zum Buddhismus passen, denn die engen Beziehungen und die Sympathien zwischen Buddhismus, vor allem dem der Tibetaner und
Faschisten sind längst bekannt und wissenschaftlich erforscht. Da spricht dagegen, dass Sorrentino hier einfach ein anti-jugendliches Modell vorlegen will.
Dies ist sentimentales Altherrenkino, melancholisch und depressiv und irgendwie wahnsinnig irrelevant.
+ + +
»Do you hate this film as much as I do« fragt eine Italienerin. Meine Antwort: »Yes, I hope«. Aber genaugenommen ist Hass das falsche Wort. Nein, ich hasse ihn nicht. Der Film ist schrill und dumm, aber er ist nicht so abstoßend, wie der »Holocaust«-Porno »Cheyenne« und das knallige Bunga-Bunga-Kino von »La Grande Bellezza«, er ist auch kurzweilig, und hatte ein paar hübsche Momente, und eine gewisse Schönheit.
+ + +
Die schönste Szene des Films zeigt Diego Armando Maradona – oder sein Double. Er steht mit nacktem Oberkörper (und einem großen Karl-Marx-Tatoo auf dem Rücken) auf der roten Asche eines Tennisplatzes. Dort spielt er mit einem Tennisball. Immer wieder kickt er ihn ihn die Höhe, nimmt ihn auf, tritt ihn wieder hoch. Einmal benutzt er dazu statt seines Fußes seinen Bauch. Nie verliert er auch nur andeutungsweise die Kontrolle. Diese wenigen Momente sind besser als der ganze übrige Film. Die Szene hat eine so ungemeine Poesie, dass sie zu den besten des ganzen Festivals gehört.
6. Folge 17.05.2015
Doch die Pracht hat hässliche Flecken... – Regeln und Regelbruch: Freiheit als Thema bei Todd Haynes und Yorgos Lanthimos
»We developed a code so that we could communicate with each other, even in front of the others, without one knowing, what we are saying.«
Dialog aus »The Lobster«
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The Lobster ist der bisher erstaunlichste, überraschendste Film im Wettbewerb. In ihm vermischen sich Autorenkino und Science-Fiction-Fantasy.
Der Grieche Yorgos Lanthimos zeigt in allen seinen Filmen – Dogtooth und Alpes liefen auch in Deutschland – Gruppen, die durch enge, absurde, seltsame Regeln gesteuert
werden, die keiner versteht, die aber den Protagonisten als höchst selbstverständlich erscheinen. Diesmal reist er in eine Phantasiewelt, die sich möglicherweise in einer nicht allzu fernen Zukunft befindet.
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Im ersten Bild, das nichts mit dem Rest zu tun hat, sehen wir erstmal, wie eine nicht mehr ganz junge Frau im Auto durch die Berge fährt, plötzlich vor einer Wiese mit Maultieren anhält, aussteigt, eines der Maultiere erschießt, und wieder einsteigt.
Dann ein Mann namens David, die einzige Filmfigur, die einen Namen hat. Eine Erzählerin aus dem Off – die sich später als eine von Rachel Weisz gespielte Figur entpuppt – erzählt, sein Fall habe »dann doch Maßnahmen erfordert«
und er wird ein ein Hotel eingeliefert, das sich als Mischung aus Krankenhaus und Gefängnis entpuppt. Man muss alles abgeben, und ist dem »liebevollen« Zwangsregime der Leiter hilflos ausgesetzt – so lange bis man nach gewissen Regeln eine Paarbeziehung eingegangen ist, was spätestens nach 45 Tagen geschehen sein muss. The Lobster heißt der Film, weil jeder Insasse für sich ein Tier wählen muss, und David wählt einen Hummer, weil er »100 Jahre alt
werden will und das Meer liebt.«
Das Zwangsregime bezieht sich vor allem auf Paarbeziehungen und Sex. Die Neigung einer Nebenfigur zur Masturbation wird etwa damit bestraft, dass dessen Hand in einen aktiven Toaster gesteckt wird.
+ + +
In der ersten Hälfte habe ich The Lobster gar nicht gemocht. Der Film schien mir zu repräsentativ für das Autorenkino unserer Tage in seiner allzu typischen Machart: Unnötig verkünstelt und verkopft, absurd und doof. Ein Film, der von Entfremdung erzählen möchte, aber dabei sich selber die Diagnose stellt, weil er bis zum Exzess selbst entfremdet ist. Auch ein weiterer jener Filme, die uns am Ende doch sehr wenig über uns selbst erzählen, oder nur dort, wo unsere Reaktionen verräterisch werden. Zudem liebt Lanthimos seine Mitmenschen ganz grundsätzlich etwa so sehr, wie Ulrich Seidl, also gar nicht. Der Film ist eiskalt, zynisch. Auch über den Humor kann man streiten: Gerade zu Beginn ist jeder zweite Satz ein Gag, jede zweite Szene ein gespielter Witz. Und irgendwann habe ich gedacht: Wie Didi Hallervordens »Nonstop Nonsense« für Intellektuelle.
+ + +
Aber er ist eben auch klug. Er ist sehr gut gemacht, schlau in der Form. Ein philosophischer Essay über Verhaltenslehren der Kälte. Auch ist dies wieder ein Film über Freiheit, ihre Facetten und Abgründe. Zugleich auch ein Film über Selbstfesselung, eine makabere Satire über unsere Obsession mit Paarbeziehungen einerseits und über unsere Obsession fürs Alleinsein andererseits. Die Inszenierung ist so elegant wie exzentrisch, immer sehr kontrolliert, aber mit nur wenigen Kompromissen ans Hollywood-Kino.
+ + +
The Lobster stellt zwei imaginäre Gemeinschaften vor: Die Welt der Stadt, ein puritanischer Wohlfahrtsstaat, in dem Tugendterror herrscht und nur Paarbeziehungen erlaubt sind, und eine neoliberale Gemeinschaft, deren Mitglieder im Wald leben und einen radikalen Individualismus praktizieren. Beide Gruppen ähneln sich mehr als ihnen lieb ist, in ihrem Totalitarismus mit menschlichem Antlitz und vor allem durch die radikalen Gruppen-Regeln,
die mit einem brutalen Strafregiment durchgesetzt werden.
Die Individualisten brechen allerdings ab und an auch in die Wohnungen der anderen Seite ein, um dort praktische Aufklärungsarbeit zu leisten und Lügen und Selbstbetrug aufzudecken – eine Art Wahrheitsterrorismus, der enthüllt, dass die Wahrheit eben auch eine terroristische Seite hat.
+ + +
In einem erstaunlichen, unerwarteten Auftritt spielt Colin Farell die Hauptfigur David, die zunächst in ein Wohlfühlgefängnis kommt, um dort für das Leben in der Stadt gleichgeschaltet zu werden. Irgendwann flieht er und lebt dann im Wald bei den Individualisten. Doch an beiden Orten wird er nicht recht glücklich. Natürlich sind daran auch die Frauen schuld – kein Wunder, wenn diese von Rachel Weisz und Lea Sedoux gespielt werden. Vor allem Sedoux ist großartig als
charismastische Revolutionärin, die einen zu allerlei Unsinn verführen könnte – eine Ulrike Meinhof der Zukunft.
Dies sind aber nur die zwei wichtigsten von einem ganz Dutzend exzellenter, origineller, sehr unterschiedlicher selbstbewusster Frauenfiguren, die diesen Film dominieren. So ist The Lobster in jeder Hinsicht ein atemberaubender, so fesselnder wie verwundernder Film – der erste echte große Favorit auf die Goldene
Palme.
+ + +
Einige Filme der ersten Tage kreisen um verschiedene Vorstellungen von Wirklichkeit und stellen die Frage, wie Kino Realität erfassen könnte, und welche Realität gemeint ist? Gerade bei The Lobster in dem sich Autorenkino, Zukunfts-Fantasy und kalkuliertes Tyrannisieren des Publikums verbinden, war dies eine sehr berechtigte Frage. Zum erweiterten Favoritenkreis gehört nach den ersten Tagen auch der Amerikaner Todd Haynes.
Manchmal entfalten
Filme erst auf den zweiten Blick ihre Wirkung – wie Haynes Carol, der richtig in mir gearbeitet hat.
+ + +
Bei den meisten Kritikerkollegen kommt der Film gut an. Es gibt aber auch andere Stimmen. Kurz nach der Premiere des Films am Sonntagabend bekomme ich von... ich weiß nicht ob ich das sagen darf, eine sms: »Carol: große Enttäuschung!!!! Spießig, schlechte Regie, schlechtes Drehbuch, falsche Besetzung, schlecht gespielt... was eine Vergeudung...« Hm, hartes Urteil. Das mir spontan zusagt, aber irgendetwas stimmt nicht mit dem Film, irgendwas habe ich noch nicht begriffen. Wenn Carol allerdings die Goldene Palme bekommen würde, wäre ich auch ziemlich enttäuscht. Aber warum eigentlich?
+ + +
Es gibt nämlich auf den ersten Blick gegen diesen Film ganz und gar nichts zu sagen. Seid Haynes Filme macht, wird sein Werk vom Vorwurf des Ästhetizismus, dem Schwelgen in Schönheit um jeden Preis, begleitet. Zu recht – nur dass dies eben kein Vorwurf ist. Haynes ist auch nicht der einzige Regisseur, der selbst als Erwachsener am liebsten mit Puppen spielt, und ihnen immer neue hübsche Kleidchen anzieht, und noch hübschere Puppenstubenhäuser baut. Tatsächlich finde ich es
eigentlich etwas schade, dass es in den letzten Jahren fast immer nur schwule Regisseure sind, die sich mit der Ausstattung soviel Mühe geben, wie ihr gebührt, und wie es sonst nur Frauen tun.
Haynes gibt sich allerdings auch sonst viel Mühe. Die Musik, obschon oft nostalgische Musik aus der Zeit, stammt von Carter Burell, die großartigen Bilder von Ed Lachman, dem es auf zauberhafte Weise gelingt, zwar immer nur eine Seite des Raums zu zeigen, uns die anderen drei aber mit spüren
zu lassen, und so ohne Sog-Effekt in den Film hineinzuziehen.
+ + +
Solche Bemerkungen – »zu schön!«, »Ästhetizismus!« – kann man jedenfalls auch über Carol machen. Denn wie schon in Far from Heaven taucht Haynes ein in die Welt wohlsituierter bürgerlicher Frauen aus den 1950er Jahren des Amerikanischen Jahrhunderts. Alles ist darin schöner, zumindest nostalgisch erfüllender, als heute: Die Auto, die
Musik, die Mode. In nahezu jeder Szene tragen die Hauptdarstellerinnen Cate Blanchet und Rooney Mara eine neue Seidenbluse...
Doch die Pracht hat hässliche Flecken. Denn die beiden Frauen beginnen eine lesbische Liebesbeziehung, wie jedem Zuschauer, der seine Augen auf hat, nach wenigen Minuten klar sein muss. Und so etwas wurde im moralistischen Amerika der Eisenhower-Jahre – der Film spielt genaugenommen noch ganz zu deren Beginn, an der Jahreswende 1952/53 – noch
weniger geduldet, als heute.
+ + +
Nur: Warum muss man eigentlich heute einen Film über den Tugendterror der 50er Jahre machen? Um zu sagen, dass Amerika immer schon viel unfreier war, als es die großen schönen Lügen vom Amerikanischen Traum suggerieren?
Haben wir heute nicht zumindest diese Probleme überwunden? Gibt es nicht heute wirklich Wichtigeres, als Gleichberechtigung für Lesben, wo diese doch längst – außer in den Köpfen von ein paar Vollidioten – gleichberechtigt sind?
Man kann bei
Carol weniger einwenden, als nachfragen, warum Haynes sich für seine Geschichten immer wieder die 50er Jahre aussucht, also ausgerechnet die repressivste Ära Amerikas? Ist das nicht etwas billig, ein Popanz, der leicht immer aufs Neue zu besiegen ist? Die Fifties haben eine tolle Ästhetik. Aber sie waren gerade in sexuellen Dingen viel unfreier als die Jahrzehnte davor und danach. Warum also? Weil die Vorlage in dieser Zeit spielt? Diese Antwort ist zu
banal.
+ + +
Vorlage des Films ist der Roman »The Piece of Salt« von Patricia Highsmith, in dem die Autorin auch ihr eigenes Erleben verarbeitet. Verändert wurde vor allem der Beruf der Hauptfigur Theresa, aus deren Perspektive der Film erzählt ist. Statt Bühnenbildnerin ist sie hier Photographin, wie die Highsmith selber, die sich vielleicht mit der Veränderung nur tarnen wollte.
+ + +
Carol ist ein sensibler Liebesfilm, der völlig um seine beiden Darstellerinnen gebaut ist. Dies ist dabei ganz und gar Rooney Maras Film. Mit ihrer Lebendigkeit in aller Zurückhaltung stellt sie die doch hier arg statuesk und maskenhaft wirkende Cate Blanchett in den Schatten. Das ist auch eine Regieleistung, denn wir sollen uns mit Theresa identifizieren, nicht mit Carol. Dies ist auch aus anderen Gründen nicht Blanchetts Film. Sie sieht nicht nur immer marmorner aus, und hat außerdem, so scheint es, etwas zu kräftig abgenommen. Sie ist hier vor allem zu sehr Diva, zu sehr Hollywood-Heldin, zu sehr eine Tussi, die immer recht hat, immer alles richtig macht, immer klug und weise und bescheidwisserisch ist, selbst wenn sie darunter leidet – allerdings auch das noch zu ihrem und aller Besten. Die Bemerkung meiner Freundin Martina war ganz richtig, der Film wäre vermutlich viel besser geworden, wenn Kate Winslet die Figur gespielt hätte. Andererseits auch nicht, denn dann wäre nicht nur der Fokus von Mara abgezogen worden, es wäre ein völlig anderer Film.
+ + +
Denn um Theresa geht es eben. Sie ist in diesem Film nämlich viel mehr, als nur ein junges Mädchen, das ihr lesbisches Coming-Out haben soll. Sie ist vielmehr eine junge Frau, die sich in jeder Hinsicht zu befreien sucht, eine Künstlerin und Intellektuelle, die sich diese Identität noch nicht eingesteht. Eine Repräsentantin der jungen Generation, die zehn Jahre später Kennedy wählen und gegen Vietnam und Rassismus rebellieren wird. Sie ähnelt Simone de Beauvoir und Silvia Plath nicht weniger als äußerlich Audrey Hepburn. Und wenn Theresa mit ihrem Haarreif Audrey Hepburn ähnlich sieht und wohl auch sehen soll – so einen Haarreif, liebe Freunde der Mode, trugen allerdings auch Simone de Beauvoir und Francoise Sagan –, dann nicht der jungen Film-Hepburn der 50er mit ihren Prinzessinnenträumen, und auch nur am Rand – aber schon eher – der konsumistischen Popfigur und Gelegenheitsprostituierten Holy in Frühstück bei Tiffany. Sondern sie ist am ehesten der selbstbewussten Erzieherin in William Wylers The Children’s Hour nachempfunden. Einer Frau, die sich ihrer lesbischen Ausrichtung noch keineswegs sicher ist – sehr wohl aber ihrer Souveränität und Freiheit, die sie sich vom Tugendterror der Puritaner nicht abkaufen lassen möchte.
+ + +
Um Souveränität und Freiheit geht es viel mehr als um Identitäten, seien sie nun sexuell oder anders. Genau aus diesem Grund ist »Carol«, der auf den ersten Blick ein Produkt reinen Ästhetizismus ist – schön anzusehen, aber nix dahinter –, auf den zweiten Blick tatsächlich ein schmerzhaftes Melodram in der Tradition derjenigen von Douglas Sirk, die Haynes so sehr bewundert und so unumwunden zitiert.
+ + +
In der letzten Viertelstunde des Films geschieht Folgendes: Carol, die zunächst mit Theresa über Sylvester geradezu durchgebrannt ist, und sie schließlich verführt hat, hat Theresa kurz darauf verlassen. Grund sind die Recherchen eines Privatdetektivs, der »eindeutige Beweise« für Carols Frauen-Affairen gesammelt hat. Dies soll als Munition in Carols angängigem Scheidungsverfahren dienen, in dem vor allem Carols Sorge- und Besuchsrecht für die gemeinsame Tochter auf dem Spiel
steht. Carol reist daher nach einem entsprechenden Telegramm ihres Mannes (oder Anwalts) Hals über Kopf ab, und spielt in den nächsten Wochen die reumütige Ehefrau, die sich auf psychotherapeutische Behandlungen einlässt, um ihre »Verwirrungen« zu kurieren. Den Kontakt mit Theresa bricht sie komplett ab. Diese wird mangels Führerschein von einer Freundin abgeholt, und nach Hause kutschiert, und erhält ein paar Tage nach der ersten Erschütterung einen Brief Carols. In dem wird ihr
ziemlich von oben herab erklärt, was gut für sie sei, und dass Carol unbedingt die richtigen Entscheidungen getroffen habe, auch gerade in Theresas Sinne, und das diese das schon noch eines Tages selbst einsehen werde, einstweilen sei sie dazu wohl noch ein bisschen jung. »I release you!« Als ob sie eine Gefangene sei.
Theresa fängt sich dann irgendwann wieder und beginnt eine Karriere als Photographin, als eine Frau in einer Männerwelt. Irgendwann erhält sie eine Nachricht Carols,
die sie zum Tee bittet. Zögerlich nimmt sie an, ist bei diesem Treffen auch reserviert, und lehnt die Einladung zum späteren Abendessen erst einmal ab. Alles bleibt kühl und verhalten, und als Theresa eine Party von Gleichaltrigen besucht, soll man schon glauben, dass sich beide nie wiedersehen werden. Doch dann verlässt Theresa die Party, und geht zu dem Essen in einem Nobelrestaurant. Sie sieht Carol am Tisch, blickt erleichtert und glücklich, und nun entdeckt auch Caroll sie und
schaut – weniger erschüttert, als huldvoll lächelnd, wie eine Siegerin...
+ + +
Was soll das nun sein? Ein Happy End? Ich vermute, so verstehen es 80 Prozent der Zuschauer. Auch ich dachte erst, dass es so gemeint sei. Doch manchmal ist es gut, über einen Film länger nachzudenken – im Ergebnis ist dies für mich nämlich kein Happy End, sondern das Unhappy End des Melodrams. Ein Unterwerfungsakt.
Theresa opfert ihre Freiheit für die Passion – oder sollen wir es Liebe nennen? –, der sie nicht widerstehen kann.
Denn was ist mit Carol? Sie wirkt,
das habe ich beschrieben, den ganzen Film über wie eine Königin, eine Großbürgersfrau, sie verhält sich Theresa gegenüber nicht von Gleich zu Gleich auf Augenhöhe, sondern von oben herab, wie zu einer Dienstbotin. Sie nimmt sie sich. Sie spielt mit ihr. Sie macht ihr Vorschriften, achtet sie nicht. Sie verachtet ihre Freiheit. Das höchste Gut.
Carol ist eine Vampirin, eine Kannibalin, die Theresa und ihresgleichen verspeist. Die sie als Eigentum ansieht. Carol ist auch einer
Kapitalistin der Liebe, die ihre Aktien abstößt, wenn sie in andere Werte investiert. Sie ist herrisch, herrschsüchtig, launisch, sie hat alle Allüren eines weiblichen Machos und steht damit ihrem Gatten, dem kurzgeschorenen All-American-Man und Repräsentanten des Mainstream der 50er-Jahre-Werteordnung und ihres Geschmacks weitaus näher als der jungen Rebellin Theresa.
+ + +
Todd Haynes, so scheint mir, weiß um all das. Er weiß, dass dies nicht nur eine Liebesgeschichte ist, sondern auch ein Klassenkonflikt, und ein Generationenkonflikt, und dass diese beiden nicht zu lösen sind durch Luft und Liebe. Zumal hier in der »Liebe« auch ein Liebesverrat sich verbirgt. Haynes hat einen Film über Repression gemacht, über den Sieg der Repression und es hätte keine dezenteren Weg gegeben, um diese traurige Einsicht in den Film hineinzuschmuggeln. Wie ein
Virus wird sie in den Hirnen des Publikums weiterwirken.
Freiheit vollendet sich nicht in Liebe, sondern wird von ihr getötet, jedenfalls hier, in ihrer kannibalischen Form. Aus all diesen Gründen gibt es vielleicht gar keinen Grund, enttäuscht zu sein, wenn dieser Film am Ende die Goldene Palme bekommt.
7. Folge 18.05.2015
Kino der Ungewissheit: Intensität, Neugier, Misstrauen, Gerede und Vermutungen
»Oh, wieder soooo viele Franzosen im Wettbewerb, immer das Gleiche.« – mehr als einer spricht mich auch hier wieder in diesem Sinne an. Wenn man in Cannes einem Menschen begegnet mit dem man nichts zu reden hat, dann ist es immer eine gute Idee, mal so den Wortfetzen »Die Franzosen im Wettbewerb...« in die Luft zu werfen, um einen antifranzösischen Redeschwall auszulösen, bei dem auch die zahlreichen französischen Koproduktionen nie unerwähnt bleiben, und ebenso nicht
die offenbar totalitäre Rolle der französischen Weltvertriebe.
Das ist ein interessantes Phänonem, weil Vergleichbares nie passiert, wenn in Venedig vier Italiener laufen, oder wenn in Berlin vier Deutsche und zehn deutsche Koproduktionen im Berlinale Wettbewerb gezeigt werden, und jeder zweite Film von Match Factory oder Bavaria, oder Beta vertrieben wird. Da sagt man dann: Gut, dass Dieter Kosslick was für den deutschen Film tut.
Mit dem kleinen entscheidenden
Unterschied, dass das französische Kino oft besser und fast immer viel relevanter ist, als das deutsche.
+ + +
Bei diesem Gespräch kommt man dann auch immer auf Die üblichen Verdächtigen zu sprechen, auf jene Regisseure, meistens Herren fortgeschrittenen Alters, die scheinbar ein Abonnement auf die Wettbewerbsteilnahme in Cannes haben. Solche Regisseure gibt es tatsächlich, und jedem von uns fallen vermutlich sofort ein paar Namen ein, auf die das zutrifft. Mir zum Beispiel: Wong Kar-wai,
Emir Kusturica, die Dardennes, Michael Haneke, Aki Kaurismäki. Das sind nur alles keine Franzosen.
Wenn aber dann zum Beispiel einmal einer dieser Filme woanders läuft, dann heißt es sofort: »Der wurde offenbar in Cannes abgelehnt.« Oder: »Der muss wohl sehr schlecht sein.« Letzteres heißt es auch, wenn der Film »nur« in »Un Certain Regard« läuft. So wie in diesem Jahr die Filme von Apichatpong Weerasetakul, von Naomi Kawase, von Brillante Mendoza. Dabei gibt es vielleicht einfach nur
gerade besonders viele asiatische Filme und da bereits einige im Wettbewerb laufen, wollte man nicht die Hälfte aller Wettbewerbsplätze mit Asiaten bestücken
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Hätte man im Wettbewerb diesmal wieder die neuen Filme von Arnaud Desplechin und von Philippe Garrel gezeigt, hätten auch wieder alle von »Den üblichen Verdächtigen« geredet. Nun laufen deren Filme aber in der »Quinzaine« und sind viel viel besser, als die zwei französischen Beiträge von Emmanuelle Bercot und von Maiwenn, und keiner schreibt: Toll, dass mal »Die üblichen Verdächtigen« nicht im Wettbewerb laufen. So etwas wird so gut wie nie gesagt.
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Ernesto Garratt aus Chile, über den ich im letzten Jahr einen ganzen eigenen Blogbeitrag geschrieben hatte, kann diesmal leider nur bis Mittwoch bleiben. Sehr schade, aber der Grund ist schön, denn er hat eine kleine Tochter, die er nicht so lange allein lassen will.
Ernesto ist ein »Weißer«, also einer der wenigen Träger des so überaus begehrten weißen Akkreditierungsbadges, der
obersten Klasse der Filmkritiker in der strengen, für Außenstehende undurchschaubaren Rangordnung der Cannes-Besucher. Das verschaffte ihm am Samstag auch eine illustre Abendessenseinladung vom Festival, von der er mir später erzählte. Da war er zusammen mit Berühmtheiten der internationalen Filmkritik wie Michel Ciment (von Positif) und Peter Bradshaw (»Guardian«), und unterhielt sich mit ihnen über die guten alten vergangenen Tage der Filmkritik, als es noch kein Internet gab und man noch viel viel mehr Zeit hatte, um seine Texte zu schreiben.
Darüber reden wir jetzt auch. Denn der Faktor Zeit macht uns nicht nur zu
schaffen, weil er die Bequemlichkeit stört. Wie im letzten Blog erwähnt: Nachdenken hilft dem Urteil. Zeit schärft die Gedanken. Ich glaube sehr an den Nutzen der Spontaneität, an die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden und Schreiben, daran, gleich und hier und jetzt zu schreiben, wenn der Eindruck noch frisch ist. Aber wenn man gleich etwas sagen muss und unter Zeitdruck steht, kommt nicht immer das Beste als erstes raus.
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Seit knapp zehn Jahren gehört Rumänien zu den interessantesten Nationen auf der Landkarte des Weltkinos. Gleich ein knappes Dutzend Filmemacher aus diesem kleinen, nach wie vor armen Land Europas brachten einen ganz eigenen Ton auf die Leinwand und feierten weitaus mehr internationale Erfolge, als andere ehemalige Ostblockländer mit einer viel längeren Kinotradition, etwa Polen oder Ungarn.
Seinen endgültigen Durchbruch schaffte das rumänische bei den Filmfestspielen in
Cannes, wo Cristi Mungiu 2007 völlig überraschend die Goldene Palme gewann – für das Abtreibungsdrama 4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage
In Cannes sind bei den Filmfestspiele zwei starke rumänische Filme gut in der prominentesten Neben-Sektion »Un Certain Regard« vertreten.
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Nachbarn sind etwas Besonderes. Man grüßt sich mitunter nur auf der Treppe, und doch kennt man sie besser, als viele Mitmenschen.
Und Patrascu, die Hauptfigur in dem rumänischen Film »Eine Etage tiefer« von Radu Muntean, ein braver Familienvater, der sein Geld damit verdient, dass er für andere lästige, weil langwierige Behördengänge erledigt, und der in seiner Freizeit einen Hund für einen Wettbewerb trainiert, dieser Patrascu lauscht auch gern mal an der Nachbarstür: Er
hört wie die hübsche junge Nachbarin von der Wohnung im Stockwerk drunter Sex hat, und er hört, wie sie sich mit einem Mann streitet. Aber mit wem?
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Eines Tages wird die Nachbarin tot aufgefunden. Ein Unfall wahrscheinlich, aber Mord wird nicht ausgeschlossen, die Polizei ermittelt. Aus dieser Konstellation entwickelt der Regisseur nun keine Kriminalgeschichte, die darum kreist, ob es ein Mord war, und wer der Täter sein könnte, sondern ein universales existentielles Drama, einen Dostojewski-Stoff für unsere Zeit, der ins Herz der Gegenwart zielt. Denn ein anderer Nachbar hat durch sein merkwürdiges den Verdacht
Patrascus erregt. Hat er etwas verbrochen, und was genau? Oder hat er nur seinen Ehebruch zu verbergen?
Patrascu behält seine Gedanken für sich, und darum fressen sie ihn auf. Der Nachbar wiederum spürt den Verdacht, und nähert sich Patrascus Familie an. Eine Etage tiefer ist ein Psychothriller über die Seele eine postkommunistischen Gesellschaft, die nicht mit sich im Reinen ist. Eine doppelte Eindringlingsgeschichte – wie der Nachbar in
Patrascus Leben, so sickern Schuldgefühle in sein Gewissen.
So dicht das Szenario, so zwingend und zugleich von leichter Hand geht die Inszenierung vonstatten. Eine Handkamera schafft Intensität, und setzt den Betrachter analog zu den Figuren unter Stress.
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Das rumänische Kino ist ein Kino der Ungewissheit. Und ein Kino der Intensität und der Neugier, es misstraut der Wirklichkeit und taucht zugleich tief in sie ein.
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Ein Weg, Unsicherheit zu bewältigen, ist Humor. Ihn geht der zweite rumänische Cannes-Beitrag, Comoara von Corneliu Porumboiu. Auch hier beginnt wieder alles mit zwei Nachbarn. Der eine klingelt an der Tür des anderen. Er ist in einer verzweifelten Lage, möchte sich Geld leihen, sonst droht sein Haus auf dem Land verpfändet zu werden. Eine Geschichte über Zinsknechtschaft: »Ich muss etwas Geld leihen« – »Ich hab’s nicht« – »Ich zahle 13% Zinsen« – »Ich zahle nur 8%« – »Ich war ein Idiot. ›Ich hatte einen Verlag, der hat pleite gemacht.‹ – ›Das war keine gute Idee. Nach einer Umfrage lesen nur 2 Prozent der Rumänen mehr als ein Buch pro Jahr.‹«
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Der Nachbar, der mit seinem kleinen Sohn gerade die Geschichte über Robin Hood liest, kann zwar nicht mit Geld helfen, aber als die Rede auf den Urgroßvater des Bittstellers kommt, und einen kleinen Schatz, den dieser angeblich auf dem Grundstück vergraben hat, um ihn vor den Kommunisten in Sicherheit zu bringen, da schließen sich die beiden zusammen.
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Mit einer Mischung aus feiner Ironie, Satire und gröberer Groteske schildert der Film nun die Schatzsuche der beiden. Mit einem fortwährend piependen Detektor gegen sie auf die Suche, buddeln das Grundstück um und finden tatsächlich etwas, wenn auch nicht, was sie suchten, und die Geschichte bekommt einen neuen, cleveren Twist.
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Im Hintergrund wird viel über Rumänien erzählt: In Islez wurde die Proklamation der Revolution von 1848 verkündet,
das Recht zu arbeiten, ist in der aktuellen Verfassung verankert... Es zeigt sich das Bild eines Landes, in dem die Diktatur der Kommunisten durch das Diktat des Marktes und der Gier ersetzt wurde, in dem eine Bürokratie dominiert, die zugleich überfordert ist und korrupt, in der absurde Vorschriften, absurdes Verhalten erzeugen, in der auch alle anderen Menschen
sich gegenseitig belügen und betrügen, manchmal nur, weil die Wahrheit keiner glauben will. Betrug und Verrat, Neid und Gier sind überall. Das ist so lustig wie bitter. Es ist uns zugleich ganz nahe, denn es spiegelt unsere eigene Gesellschaft.
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So ergänzen sich die beiden rumänischen Beiträge perfekt: Indem beide von nachbarschaftlichen Beziehungen erzählen, entfalten sie jeweils eine wechselseitige, dialektische Spannung von Solidarität und Misstrauen.
Muntean erzählt von Schuldbewusstsein, Porumboiu von einem Land, in dem die Menschen allen sieben Todsünden verfallen sind.
Es ist also nicht so sehr eine spezifische postkommunistische Situation, die hier geschildert wird, sondern vielmehr etwas
universal Menschliches, das man ebenso in den Filmen eines Woody Allen oder eines Michael Haneke und bei vielen anderen großen Filmemachern finden kann.
Am Ende von Porumboius abgündiger Komödie erklingt das Lied »Opus Dei« der slovenischen Rockgruppe Laibach. So ist das Leben – kann man als gelassenes Fazit ziehen. Man kann auch sagen: Dem Kino Rumäniens ist nichts Menschliches fremd.
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Das Festival von Cannes, ich habe es schon öfters geschrieben, ist in mancher Hinsicht wie ein Raumschiff. Für knapp zwei Wochen hebt man ab und befindet sich auf der ganz eigenen Umlaufbahn des Weltkinos.
Cannes erinnert aber auch an eine Schule. Die Festivalorganisatoren sind die Klassenlehrer, und wir, die Kritiker und professionellen (andere gibt’s ja gar nicht) Besucher. Und so kam es, dass ich als wir gestern von Agnesh, die an der DFFB studiert und hier bei der
Cinefondation mit einem Film vertreten ist, gefragt wurden, ob wir Kritiker uns eigentlich überhaupt gegenseitig kennen würden, antwortete: Wenn wir die etwa 1000 Leute nehmen, die im »Salle Debussy« morgens sitzen, dann kenne ich von denen 400 bis 600 vom Sehen. Und auch die kennen mich vom Sehen. Und mit bestimmt 200, eher 300 von ihnen, habe ich schon irgendwann mal gesprochen. 50 sind Freunde oder Freunde von Freunden oder Kollegen, mit denen geht man gelegentlich mal weg, in
immer neuen Kombinationen. Und mit vielleicht 25 verabredet man sich aktiv.
Wie auf der Schule gibt es die eigenen Klassenkameraden, darunter Freunde, wie Leute, die man nicht so mag, die aber dazugehören. Es gibt Parallelklassen. Und es gibt die Leute in den Klassen über einen, und die in den Klassen darunter. Es gibt die Älteren und die Jüngeren.
Violeta Kovacsics, die dabei saß, und seit neun Jahren hierherkommt, also vier Jahre weniger als ich, sah es ähnlich, und nickte
zustimmend.
13 Jahre Cannes – so lang wie die Schulzeit. Das bedeutet also, dass ich in diesem Jahr mein Abi mache.
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Endlich war ich mal auf einer Party, und gleich auf der richtigen: Am letzten Montag lud Chile ein. Parallel fand zwar auch die Party von »Match Factory« für Miguel Gomes' drei Arabian Nights-Teile statt. Zu der wäre ich auch gern gegangen, aber die Arabian Nights hatte ich leider nicht sehen können. Sie liefen in der Quinzaine und dauern zusammen über sechs Stunden, das ist für mich, wie für viele andere, auf diesem Festival nicht drin.
Ich werde bestimmt Gelegenheit haben, sie nachzuholen.
So habe ich dann auch den Moment versäumt, in dem Miguel Gomes seiner Freundin auf der Party einen Heiratsantrag gemacht hat. Mir wurde das dann nur erzählt, von Menschen, die die Gelegenheit suboptimal fanden, und mir erzählten, die Freundin habe vor allem geschockt gewirkt. Gomes selbst meinte dann wohl ins Micro: »She said yes«. Was hätte sie auch sagen sollen, vor allen Leuten, auf seiner Premiere. Es ging an dem Abend nur
um ihn.
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Beim chilenischen Abend ging es dann um... Chile. Es gab keine großen Reden, auch keinen das Gleichgewicht störenden chilenischen Wettbewerbsfilm, aber dafür viele nette Menschen in einer angenehmen Mischung aus Marktteilnehmern und Kritikern. Eine von ihnen, Pamela Pienzobras, die aus Chile kommt, aber in Paris lebt, hatte Geburtstag. Am Abend zuvor hatten wir mit ein paar Drinks hineingefeiert, im »Irish Pub«, wo wir zuvor zugesehen hatten, wie der FC Barcelona durch ein 1-0 beim noch amtierenden Champion Athletico Madrid endgültig spanischer Meister geworden war. Der Raum war voller Katalanen und Argentinier, die wegen Messi und trotz Athleticos tollem argentinischem Coach Simeone Barca adoptiert haben. Im Augenblick des Schlußpfiffs begannen einige die Barca-Hymne zu singen, und Sekunden später sang der ganze Raum. Schön! Da können wir in Deutschland noch ein paar Dinge lernen.
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Traurig hingegen, ist der Zustand jener Straßenecke, die früher mal »das deutsche Eck« genannt wurde – was natürlich immer schon bedrohlich klang, wo ich aber in meinen ersten Cannes-Jahren viele Abende verbracht habe: Des »Petit Majestic«. Ich erinnere mich noch, dass ich dort vor wenigen Jahren Atom Egoyan getroffen hatte, und natürlich sehr stolz war, dass er mich wiedererkannte, und zuerst gesehen hatte, und auf mich zuging. Diesmal wie schon 2014 und 2013 war ich nur ein
einziges Mal da. Und das kurz, denn die Erfahrung war überaus traurig. Vielleicht war ich zu spät, und sollte da mal in der ersten Festivalhälfte hin. Aber alles war jedenfalls derart heruntergekommen, und man nicht einen einzigen interessanten Menschen, dass ich wirklich das Gefühl hatte, sich dort länger als eine halbe Stunde aufzuhalten, ist rufschädigend. Es gibt Orte, die haben ihre Zeit, und die Zeit des »Petit Majestic« ist unbedingt vorbei.
Die der Deutschen in Cannes,
die ist mal wieder noch nicht gekommen.
8. Folge 19.05.2015
Der Irrsinn im Herz des Kapitalismus – High Heels, Strohfrauen und die Zinsknechtschaft
»Just dont keep me in the dark.« – »Afraid of the dark?«
Dialog zwischen Emily Blunt und Benicio del Toro, aus: Sicario
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Es war einmal, da war das Kino leicht zu verstehen. Da gab es nur zwei Arten von Kino. Sie sind gekoppelt an die Namen aus der Gründerzeit des Mediums: Lumieres und Melies. Der erste steht für das Dokumentarische, die Aufnahme einer vorgefundenen Realität auf möglichst authentische Weise. Der zweite steht für das Phantastische, die Erzeugung einer neuen, nicht-vorhandenen Wirklichkeit, Spektakel und Weltschöpfung. Ob man das Kino auch heute noch mit diesen Kategorien begreifen kann?
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Herbst 1985 – ich las gerade »Der Idiot« von Dostojewski, hatte seit einem Monat eine japanische Freundin, die passenderweise in Frankreich wohnte, die dortigen Hitparaden führte Stephanie von Monaco an, und die 80er Jahre waren so dermaßen 80er-Jahre-haft wie nie zuvor und nie danach. In der Zeitungen war Aids das Thema, Dieter Schatzschneider war der Torjägerkönig von Hannover 96 und irgendwann kam zum ersten Mal Tina Turner im Radio: »We dont need another hero.«
Es
waren schon immer eher primitive Reize, die das Interesse – Faszination wäre zu hoch gegriffen – an Mad Max begründeten. Aber es war auch die Frage nach dem Neuen Helden, oder überhaupt dem Heroischen in einer zeit, die einerseits keine Helden mehr wollte, die sich auch mit den Softies und Sensibilisten und den spätexistentialistischen Zerknirschten des Autorenkinos immer
schwerer tat, wohl auch weil man spürte, dass selbst ihre eigenen Regisseure nicht an sich glaubten.
Man wollte spätestens seit Ende der 70er wieder Spektakel, wollte neue Mythologie und zwar nicht immer nur die von Star Wars. Mad Max und Mel Gibson waren eine taugliche Alternative.
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»Auf Wunsch der Filmemacher«, so die nette Pressedame Gudrun Horstmeier bei der Vorabvorführung am Montag
in München, werde Mad Max – Fury Road nur in 2-D gezeigt. Mir soll es recht sein, weil ich 3-D sowieso überflüssig bis doof finde, aber was sind denn das für Filmemacher? Finden die ihre eigenen 3-D Effekte jetzt schon so scheiße, dass sie sich dafür schämen?
Sie
hätten jedenfalls keinen Grund. Mad Max – Fury Road, der nun vierte Teil des legendären australischen Kultspektakels, erlebt 35 Jahre nach dem allerersten Mad Max seine Weltpremiere und ist der wahre Eröffnungsfilm von Cannes.
Nicht zuletzt, weil dies ein Film der starken Frauen
war.
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Vorstellungen fangen zu spät an. Filme, sogar Wettbewerbsbeiträge beginnen im falschen Format, haben zwischendurch grobe Projektionsfehler. Während Vorstellungen bereits laufen, lässt man noch Zuschauer in den Saal, was die, die bereits sitzen und den Film sehen möchten, natürlich extrem stört – all so etwas konnte man in Cannes noch nie beobachten, in diesem Jahr kommt es alles zusammen.
Auch häufen sich in diesem Jahr die Absperrungen. Nach den Abendvorstellungen
werden die Rolltreppen des Festivalpalais ohne erkennbaren Grund zugestellt. Der Platz vor dem Palais ist weitaus begrenzter, als bisher, mit dem Ergebnis, dass das Gedrängel zunimmt.
Das Festival scheint seltsam desorganisiert. In diesem Jahr gibt es soviel Chaos, wie noch nie zuvor in den dreizehn Jahren, die ich hierher komme. Und das fügt sich zu einem Wettbewerb, der zwar nicht schlecht ist, aber auch etwas merkwürdig Unfertiges, Ungefügtes hat, der nicht so gut
»komponiert« scheint, wie in früheren Jahren, und der auch nicht gut programmiert ist – die Aufeinanderfolge der Filme stimmt diesmal viel weniger, als in früheren Jahren.
Ob das vielleicht mit dem Weggang von Gilles Jacob zu tun hat?
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Als das »Year of la femme«, das »Festival der Frauen« wird das diesjährige Cannes hier von vielen angesehen. Das liegt an vielen Hauptrollen für Darstellerinnen und an der – relativ – hohen Zahl von Regisseurinnen in allen Festivalsektionen.
Dazu passt – oder vielleicht doch gerade nicht – dass es in diesem Jahr einen veritablem Schuhstreit gegeben hat. Dazu muss man wissen, dass Cannes seinem Ruf, in formalen Fragen im Gegensatz zum Filmgeschmack
altmodisch und konservativ zu sein, und den Glanz des bürgerlichen Zeitalters nach dessen Ende stur weiter zu pflegen, dadurch gerecht wird, dass es hier bei jeder der abendlichen Galavorstellungen der offiziellen Sektion (»Wettbewerb«, »Außer Konkurrenz«, und »Seance speciale«) eine Kleiderordnung gibt, die französisch, also rigide, durchgesetzt wird. Während diese bei den Männern relativ klar ist – Smoking, Frack oder Anzug, Krac´vatte oder Fliege, festes Schuhwerk
– ist sie bei Frauen relativ interpretationsfähig. Keineswegs ist immer ein langes Abendkleid gefordert, der kurze Minirock tuts auch, viele Frauen kommen in Lederjacken und zeigen sehr viel nackte Haut, aber auch Folkloristisches, wie historische Trachten sind erlaubt, solange diese nur exotisch genug sind. Dirndl ginge wohl kaum, Sari aber schon, genau wie der Bambusrock bei einer Südseeschönheit. Nur eines schien bisher klar: Absatz muss sein, je höher, desto
besser.
Oder auch nicht. Denn man hatte in der Vergangenheit sogar schon offizielle Mitarbeiter und Jurymitglieder in Flip-Flops über den roten Teppich laufen sehen. Und auf Nachfrage des Magazins »Hollywood Reportter« stellte sich jetzt heraus, dass »beyond formal dress, there was no specific mention about wearing heels.«
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Dies alles ist zunächst einmal deswegen der Erwähnung wert, weil offenbar ausgerechnet bei der Premiere von Todd Haynes Carol, nun wirklich einem Frauenfilm, vielen Frauen von den Saaldienern der Eintritt mit der Begründung verwehrt wurde, ihr Schuhwerk sei unangemessen. Sandalen, aber auch zu flache Ansätze seien nicht gestattet.
Aus diesem Grund kam es vor der Premiere von »Sicario« am Dienstag zu Protesten der Filmemacher, und der Hauptdarstellerin
Emily Blunt, die bei der Pressekonferenz meinte, sie sei über derartige Vorschriften »sehr enttäuscht«. Jeder solle am Abend flache Schuhe tragen.
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Man darf sich allerdings auch fragen, ob High Heels wirklich ein weiteres Mittel der Unterdrückung der offenbar doch recht schwachen weiblichen Geschlechts durch die alles dominierenden, so starken wie bösen unterdrückungslüsternen Männer sind.
Wird es bald so sein, dass man High Heels so verbieten muss, wie das Tragen eines Kopftuchs durch Beamtinnen?
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Kommen wir zu Wichtigerem, den Filmen: Sicario stammt vom Franco-Kanadier Denis Villeneuve. Sein Film ist auf den ersten Blick vor allem ein konventioneller Thriller über amerikanische Polizisten, die es mit der mexikanischen Drogenmafia zu tun haben. Der Vorspann erklärt, dass Sicario ursprünglich jene Krieger der Zeloten meinte, die die römische Besatzungsmacht bekämpften. Und dass das Wort sich heute auf die Auftragskiller der mexikanischen
Drogenmafia bezieht.
Aber wer eigentlich hier in diesem Film genau der im Titel gemeinte »Sicario« ist, das bleibt vorläufig offen.
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Dies ist ein hauptsächlich in Amerika spielender Polizeithriller, der stark davon geprägt ist, dass hier ein Kanadier auf Amerika und die amerikanischen Verhältnisse blickt. Alles spielt in jenem Terrain zwischen Südkalifornien, Texas, El Paso, Tijuana und Ciudad Juarez, jener blutigen Zwischenzone am mexikanisch-amerikanischen Grenzstreifen, der von Menschenhandel und Drogengeschäften geprägt ist, und im Hollywood-Kino bereits ein eigenes Genre begründet hat: Das der
»Border«-Filme. Villeneuve zitiert diese kenntnisreich, angefangen mit Touch of Evil von Orson Welles, dessen hundertster Geburtstag bei diesem Festival auch gefeiert wird, über The Wild Bunch, bis hin zu Lone
Star, Traffic oder Perdita Durango. Villeneuve fehlen die Schuldgefühle gegenüber Mexiko, die im amerikanischen Kino oft spürbar sind.
Es ist ein oft düsterer Film, der von oben heraub auf die Wüste blickt, als handle es sich um eine Mondlandschaft, der Horror-Musik darunter
legt. Ein Film, der sich auch Zeit nimmt, um seine Story zu erzählen, der insgesamt cool gemacht ist und sich aufs Visuelle konzentriert.
Schnell wird sichtbar, dass Villeneuve anders inszeniert, als in Hollywood üblich: Statt mit Schnittorgien Unübersichtlichkeit zu schaffen, zieht seine ruhige, beobachtende Kamera (Roger Deakins) die Zuschauer ins Geschehen hinein, und schafft ein Gefühl für die Lage seiner Figuren. Als eine Sitzung hoher Beamter gezeigt wird, gibt es keine
Close-Ups, keine Schnitte.
Die beste Szene ist dann eine Fahrt mit fünf Polizei-Autos nach Mexiko, wo ein gefangener Gangster den Amerikanern übergeben und außer Landes geschafft wird. Mal aus dem Flugzeug gefilmt, dann aus den Autos heraus, vorbei an gehängten Leichen, eskortiert von mexikanischer Polizei. Zurück am Grenzübergang werden sie abgefangen – das ist glänzend vorbereitet, ein Spiel der Blicke und Beobachtungen mit ständig wachsender Spannung.
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Es beginnt mit einem Polizeieinsatz: Ein FBI-Kommando stürmt ein Haus, einen Unterschlupf des Kartells. Das ganze Gebäude ist voller Leichen. In den Wänden finden sie über 35 Tote. Zugleich tappen sie in eine eingebaute Falle, und mehrere Beamte sterben oder werden schwer verletzt. Dies ist der Auftakt. Die von Emily Blunt gespielte Hauptfigur ist eine junge Polizistin. Sie wird von einer Spezialeinheit angeheuert, die, das ist schnell klar, den schmutzigen Krieg der Kartelle
zurück nach Mexiko trägt, mit halblegalen, oft einfach kriminellen Methoden und einfach Mord. »We are making enough noise, that Ruiz is called back to Mexico by his boss. Then we know, where is boss is.« so erklärt das einmal ein Beamter. »In the meantime, first sponge everything up. Learn, that’s why you are here!«
Zero Dark Thirty bildet ein fernes Referenz-Echo für diesen Film.
Aber die Heldin hat schnell Zweifel, behart auf den Regeln. Doch leider ist die Hauptfigur hier zu oft einfach nur eine Empörte. Schade.
Besser wäre es gewesen, den Konflikt stärker als moralischen herauszuarbeiten: Kann man Feuer nur mit Feuer bekämpfen?
ls sie einmal einwendet: »I am not a soldier. This is not what I do.« bekommt sie einfach zur Antwort: »This is the future.« Könnte ja etwas dran sein.
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Dies ist auch deshalb ein hervorragender Film, weil er zeigt, wie viele amerikanische Behörden drauf sind... Und dass ihr Verhalten von ganz oben unterstützt wird, von Politikern, »von denen, die ins Amt gewählt werden, nicht ernannt«. Diese Kritik an der Demokratie und ihren Lebenslügen, noch mehr ihrer Doppelmoral, ist nicht neu, aber notwendig.
Als Benicio Del Toro, der einen mexikanischen Polizisten spielt, der mit den USA zusammenarbeitet, in einen Keller kommt, wo
er einen Verdächtigen foltern wird, pfeift er kaum merklich »Hail to the chief«, jenes Lied, das immer gespielt wird, wenn der US-Präsident einen Ort betritt. Muss es noch deutlicher sein? »Now You'll learn what’s hell in Yankee-Land.«
Und so geht es auch um eine Demokratie die ihre selbstgesetzten Grenzen immer erweitert, und die Wählerr betrügt. Denn der einzige Grund, warum Kate ünerhaupt für diese Spezialeinheit verpflichtet wurde ist der, dass es sich um die CIA handelt.
Die CIA darf im Inland nicht operieren, ohne dass das FBI beteiligt ist. Sie ist eine Strohfrau.
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Das Ende ist weder ein gutes, noch ein schlechtes. Kate wird zur Falschaussage gezwungen, mit als Selbstmord getarntem Mord bedroht, wenn sie nicht die Verbrechen ihrer Kollegen deckt. Aber es hat die Richtigen getroffen.
Und Benicio del Toro, der die komplette Familie des Drogenbosses mit diesem erschossen hat, empfiehlt Kate: »You should leave to a small city where law is still .... You will not survive here. We are in the lands of the wolves.«
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Es ist schon öfters bemerkt worden, dass man den Wölfen vermutlich Unrecht antut, wenn man sie mit Gewalt und Unsolidarität, mit blutiger Beutegier assoziiert. Aber das wird den Wölfen nichts nutzen.
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Dass Genrekino politisch engagiert sein kann, beweist auch der koreanische Film Office von Hong Won-Chan, der außer Konkurrenz läuft. In den ersten Minuten bringt ein Familienvater Frau und Kinder um. Doch nicht die Mörderjagd steht danach im Mittelpunkt, sondern die Dynamik am Arbeitsplatz, wo die Arbeitskollegen des Täters sich über Gewissensbissen und Schuldzuweisungen selbst zerfleischen. Sehr gekonnt zeigt Office das Büro ebenfalls als Wolfsgesellschaft, »The office is filled with wolves, trying to rip each other into pieces.«. Office ein universaler Psycho-Horror-Thriller über den verborgenen Irrsinn im Herz des Kapitalismus, und könnte genauso gut in amerikanischen Büroetagen spielen.
9. Folge 21.05.2015
Der lange Weg nach Westen – Scharfes Schwert und schwaches Herz: Der Richard-Gere-Buddhismus des Westens und das neue Nirwana-Kino
»Der vorgeblichen Echtheit, dem archaischen Prinzip von Blut und Opfer, haftet schon etwas vom schlechten Gewissen und der Schlauheit der Herrschaft an, ... welche heute der Urzeit als Reklame sich bedient. Schon der originale Mythos enthält das Moment der Lüge, das im Schwindelhaften des Faschismus triumphiert...«
Aus: Dialektik der Aufklärung
»It is really not he, the killer, but the sword itsself, that does the killing. He, the killer, had no desire to do harm to anybody, but the enemy appears and makes himself the victim. It is as so the sword performs automatically its function of justice, which is the function of mercy!«
Deisetz Teitaro Suzuki, buddhistischer Philosoph
»Cases where happiness is gained by magic do not count. Happy states, born to delusion, are undeserved.«
Owen Flanagan, buddhistischer Theologe und Hirnforscher
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Heute bin ich zum ersten Mal im Kino eingeschlafen. An irgendeiner Party lag das aber nicht, sondern am Film, in dem ich saß: Es war The Assassin vom Taiwan-Chinesen Hou Hsiao-hsien. Er war sicher nicht sehr glücklich programmiert, eine Woche früher wäre ich viel aufnahmebereiter gewesen. Zugleich kann man fragen, ob die schläfrige Stimmung – und im Salle Debussy dösten neben, vor und hinter mir sehr viele Kollegen vor sich hin – dem
Film nicht am Ende nutzte. Denn dies ist ein Film von der Art, in der vor allem nichts passiert, und manchmal das Nichts passiert, und den man dann gern »meditativ« nennt. Ein Film zugleich mit wunderschönen, prachtvollen Bildern, insbesondere Naturaufnahmen, Bildern, die vielleicht die schönsten des Wettbewerbs sind.
Man hatte als Zuschauer keine Abwehrkräfte, keinen Verstandeswiderstand und so tröpfelte The Assassin ganz zärtlich in einen
hinein.
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Warum dann nach dem Film viele – glücklicherweise nicht alle – meiner Kollegen so begeistert waren, dass der Film zumindest unter den dem altmodischen Autorenkino verpflichteten wie den jungen Akademiker-Kritikern zu einem der Palmen-Favoriten mutierte, das will mir nicht in den Kopf.
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Alles spielt im 9. Jahrhundert, zur Zeit des Verfalls der Tang-Dynastie. In den Provinzen erheben sich lokale Fürsten. Die Hauptfigur ist Nie Yinniang, gespielt von der mindestens zehn Jahre zu alten, wenn auch immer noch blendend aussehenden Shu Qi. Sie wurde von ihren Eltern einst im Wald ausgesetzt, und wurde von der Prinzessin Jiaxing, die auch eine Art Äbtissin ist, zu einer perfekten Kämpferin geschult. Von der wird Nie zu Beginn des Films zu einem Auftrag geschickt: »Cut him into pieces, like he were a bird in flight.« Als sie versagt, weil sie sich ein individuelles Urteil gestattet, statt einfach ihren Job zu tun, wird sie zur Strafe in ihre Heimat geschickt, die sie seit 13 Jahren nicht gesehen hat. Dort soll den Anführer des rebellischen Weibo-Clans, töten, der auch der Mann ist, dem sie einst versprochen wurde. Und vor allem eine Lektion lernen: »You've mastered the technics of the sword, but your heart is weak.«
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Das Haupt-Motiv teilt der Film mit Denis Villeuves Sicario. Erinnern wir uns: Auch dort steht eine Frau im Zentrum, die sich Zweifel und ein eigenes Urteil gestattet, und dadurch daran gehindert wird, in der Männerwelt ganz einfach ihren Job zu tun. Mir scheint in diesen Erzählungen von Männern über Frauen etwas Frauenfeindliches zu liegen. Jener Kitsch, der in Frauen das sensiblere Geschlecht, das skrupulöse Geschlecht sieht. Manche Frauen, sogar manchen
Feministinnen gefällt das auch. Aber auch wenn die Filme solcher Haltung recht zu geben scheinen, gibt es in ihnen irgendwann einen Moment, in dem die Mädels das Zimmer verlassen und die Jungs dann doch allein die Arbeit machen.
Die Alternative kann jetzt nicht darin liegen, dass Frauen im Actionkino immer nur als Klone von Sarah Connor (»Terminator 2«) denkbar sind. Aber eine Alternative zu den skrupulösen Grüblerinnen, den handlungsschwachen Heulsusen und den dauerempörten
Hysterikerinnen sollte es schon geben können. Vielleicht fangen wir mal damit an, dass Frauenfiguren im Kino einfach ihren Job machen. Wenn sie Auftragskillerinnen sind, heißt der: Töten.
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Formal betrachtet ist das alles überaus statisch erzählt, langsam bis zur Lahmarschigkeit, bis zum Stillstand, ein bleiern schwerer, oft schwerfälliger Film. Man sieht zwar zwei, drei Schwertkämpfe im Wald – stilisiert und hoch-ästhetisch choreographiert. Das ist im Stil eher japanisch als chinesisch inszeniert – Hou hat in Japan gedreht -: es macht pling plang und setzt zwei Hiebe, und schon ist alles vorbei. Kein Wort wird zwischen minutenlang den Figuren
gesprochen.
Aktiv ist nur die Natur: Am Ende gibt es eine sehr schöne Szene auf dem Berg. Unsere Heldin hat sich ein weiteres Mal eigene Ansichten gestattet, und bekommt von ihrer Chefin gesagt: »The way of sword is pityless.›Dann dringen in wenigen Sekunden die Wolken auf den Berg vor, wie vor einem Jahr bei Olivier Assayas die Maloja-Schlange.
Die Helden ist bald wieder im Tal, geht zu ihrer Familie, und dann wandern sie weiter nach Westen.‹«
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The Assassin ist ein perfektes Beispiel für die ästhetisierende Seite des asiatischen Kampfkunstkinos. Aber am Ende ist dies doch mehr ein typischer Hou Hsiao-hsien-Film ist, als ein Film in der Nachfolge von Crouching Tiger, Hidden Dragon, von Hero oder House of Flying Daggers. Seine Ästhetik ist seit jeher eine Ästhetik der Verweigerung. Hinter den tollen Bildern liegt bloß eine leere Hülle. Freilich bewusst. Denn Hou will das Nichts erzählen. Doch abgesehen davon, dass das vielleicht für einen Martial-Arts der falsche Ansatz ist, fehlt hier auch der »Payoff« um mal das hässliche Wort der Amerikaner zu benutzen. »The Assassin« fehlt die glamouröse, überschüssige Seite des Martial-arts ebenso, wie die heroische, pathetische. Dies ist Kino, in dem der Exzeß allenfalls in der Perfektion der Verweigerung zu finden ist. Doch der offene Bruch mit den Erwartungen ist unproduktiv.
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Hou fehlt der Respekt vor dem Genre. Es ist völlig legitim, mit den Erwartungen, die an ein Genre gerichtet sind, zu brechen. Allerdings läuft das Kunstkino leicht in Gefahr, den Erwartungsbruch selbst zum Sterotyp zu erheben, und sich es in diesem gemütlich einzurichten. Womöglich ist es ja schwerer, die Erwartungen an ein Genre zu erfüllen, ohne die ästhetischen Ansprüche, die man ans eigene Schaffen legt, aufzugeben. Ang Lee und Zhang Yimou haben in ihren Wu Xia-Filmen gezeigt, wie das gehen könnte, sie haben spezielle Genrefilme geschaffen, die das Genre überschritten haben. Hou Hsiao-hsien ist das nicht geglückt, er hat sich dem Genre einfach verweigert.
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So bleiben schöne, mitunter atemberaubende, magnetisierende Bilder. Allein ihretwillen verdient dieser Film unsere Aufmerksamkeit. Nicht hingegen für seine Geschichte oder gar seine Botschaft. Sie ist derart vage, dass man zwar alles Mögliche hineinlegen kann. Weil der Film aus Taiwan kommt, auch mal wieder die übliche Politik: Tiefsinn über das Ende des chinesischen Imperiums, usf.
Aber es bleibt banal: Keine Gewalt, Skrupel, Zweifel... Pazifistisches Kampfkunstkino ist
jedoch nicht nur ein Widerspruch in sich, es ist auch der mit Anstand moralisch billigste Ausweg. Es ist das, was man im Westen in gewissen Kreisen offenbar gern sieht, es ist Martial-Arts für die Menschen, die gern lactose-freie Milch trinken, Kaffee ohne Koffein, Bier ohne Alkohol...
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Sein »schlechtester Film« sagt Engin, das finde ich nicht. Schöner Film sagt Erika Gregor, das finde ich jetzt auch nicht. Aber ein Anti-Martial-Arts-Martial-Arts-Film, der enge Grenzen hat. Was über Nie gesagt wird, könnte man auch über Hou Hsiao-hsien sagen: »You've mastered the technics of the cinema, but your heart is weak.«
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»Go West!« – eine Gruppe von Chinesen tanzt ausgelassen zu dem Song »Go West« von den Pet Shop Boys. »Mountains May Depart« beginnt mit einer großartigen, doppeldeutigen, für sich stehenden, zugleich hundert Tore öffenenden Szene. Wir sahen sie gleich zweimal, den die in diesem Jahr wie bereits erwähnt schlampigen Vorführer von Cannes hatten ein falsches Format eingestellt. Für einen Moment dachte ich: Jetzt sehe ich die Goldene Palme. Nil aus Istanbul ging es, wie sie später
erzählte, ganz genauso. Nach Ende des Films ist man sich nicht mehr ganz so sicher, aber der neue Film von Jia Zhang-ke, einem der wichtigsten und international bekanntesten Filmemacher der Volksrepublik China, der 2006 den Goldenen Löwen von Venedig für Still Life gewann, ist fraglos einen der besten und zugleich der wohl riskanteste Film im Wettbewerb von Cannes.
Denn Go West! ist nicht nur ein berühmter Popsong, sondern auch die kulturelle und politische Ausrichtung, die die Volksrepublik China in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten genommen hat. Eine Ausrichtung, die weniger Bürgerfreiheit, als übelste Auswüchse des Wildwuchs-Kapitalismus zur Folge hatte, und die Jia in seinem Film kritisiert.
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Auf den doppeldeutigen Beginn folgt eine epische Erzählung in drei Kapiteln über eine Spanne von 26 Jahren. Diese drei Teile sind durch eine unterschiedliche Ratio – 4:3; dann 1:1.85; dann 1:2:35 – unterschiedliches Filmmaterial und unterschiedliche Farbgebung markiert.
Auch der Stil der hervorragenden Kamera von Yu Lik Wai ist jeweils unterschiedlich. Im Zentrum stehen drei Freunde: Beginnend 1999 im letzten Frühling des 20. Jahrhunderts, über das Jahr
2014 geht es im letzten Teil in die Zukunft des Jahres 2025. China will die Amerikanisierung abwerfen, und ringt mit der eigenen Identität.
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Der Film ist rau und uneben erzählt. Jia interessiert sich nicht für die formale Glätte, die fast alle anderen Filme hier haben. Aber er findet tolle einprägsame Bilder wie einen Tiger im Käfig, und bietet großartige Szenen. Die drei Figuren sind weniger Individuen, als Bedeutjgsträger und Psychologie interessiert Jia gar nicht. Tao (Zhao Tao), die Frau (eine weitere spannende weibliche Hauptfigur) zwischen den zwei Männern, von denen der eine Bergarbeiter ist, der andere eine
Tankstelle besitzt, verkörpert gewissermaßen China, das sich zwischen Kapitalismus und Kommunismus entscheiden muss. Sie entscheidet sich für den Materialisten. Der andere, der Idealist, kehrt im zweiten Teil an Krebs erkrankt zurück. Da lebt sie schon getrennt von ihrem Mann, der hat das Sorgerecht für den gemeinsamen Sohn, den er »Dollar« taufte.
Das Ganze ist demnach auch eine Sozialsatire, erst recht, als »Dollar« mit Hermes-Schal zu Besuch kommt: »Papas name is Peter now.«
So weit, so schematisch. Der Film ist eine Allegorie, die leicht entschlüsselbar ist. Man wird dieses Films und seiner Vielschichtigkeit nicht durch Nacherzählung Herr. Sein Reiz liegt in einzelnen Momenten und in der Konfrontation der drei Zeiten Chinas: Zukunft, Vergangenheit, Gegenwart.
Die Zukunft des Jahres 2025 zeigt Jia hell, gläsern, pastell. Vage erinnert mich das visuell an Code 46 von Winterbottom. Die Pads sind gläsern, transparent. Man erinnert sich an die »Opfer des malaysischen Flugzeugs vor elf Jahren«
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Eine Frage, die offen bleibt, wäre die nach der politischen Agenda des Regisseurs: Beklagt er den Weg in die Moderne als solchen, oder nur die einseitige Hinwendung zu Amerika? Und ist es nicht sehr konservativ und auch ein wenig schlicht, das Alte und Verlorene gegen das Neue, Ungewisse auszuspielen? Und was ist das Alte? Der Kommunismus der Mao-Jahre? Oder das Alte China vor 1911?
Wir werden über diesen Film noch mehr nachdenken und schreiben müssen, um ihn zu entschlüsseln
– das ist schon einmal etwas Gutes.
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Mountains May Depart ist nur ein Beispiel für den inhaltlichen wie formalen Reichtum des ostasiatischen Kinos. Diese Filme haben immer etwas zu sagen, sie erzählen uns etwas über das Leben in den Ländern des Kontinents, über politisch-kulturelle Veränderungen, wie über neue soziale Herausforderungen.
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Denen stellt sich auch Taklub vom Philippinen Brillante Mendoza. Dieser überaus originelle und gleichfalls sehr mutige Regisseur in der Tradition des Neorealismus erzählt in seinem neuen Film Taklub von einer Gruppe von Menschen die nach dem verheerenden Wirbelsturms im vergangenen Jahr obdachlos geworden sind. Im Zentrum steht Bebeth (gespielt vom philippinischen Star Nora Aunor). In ihrer bescheidenen Unterkunft hat sie vier Tassen mit den Bildern ihrer Kinder. Es dauert eine Weile, da versteht man, dass drei von ihnen tot sind, ums Leben gekommen durch den Taifun Haiyan. Mendoza hat in den Slums und während schwerer Stürme gefilmt – mit Stars, aber ohne Kompromisse ans Melodram, sieht man einmal von der sentimentalen Musik ab. Sein Werk fesselt gerade in seiner Rauheit, in seiner suchenden, offenen Haltung und ist ein geglücktes Beispiel für engagiertes Kino, das realistisch und direkt sein will, aber nie pädagogisch oder predigend ist.
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Hat es dies je gegeben? Dass der Gewinner einer Goldenen Palme mit seinem nächsten Film nicht im Wettbewerb läuft? So geschehen mit Apichatpong Weerasethakul, dem Thailänder, der 2010 für Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives die Goldene Palme gewann, und seinem neuen Film Cemetery of Splendour. Warum diese Degradierung? Was
ist das? Offenkundig eine Strafe. Aber wofür? Dafür, dass er die »Goldene Palme« gewonnen hat! Denn man hatte Uncle Boonmee zwar seinerzeit in den Wettbewerb eingeladen, aber nie geglaubt, dass er einen Preis gewinnen könnte, geschweige denn, den Hauptpreis.
Es war vor dem Hintergrund solcher Informationen, die man mir jetzt einfach glauben muss, natürlich
besonders interessant, der Premiere von Cemetery of Splendour zuzusehen. Als Cannes' künstlerischer Direktor Thierry Fremaux da mit Apichtpong Weerasethakul auf der Bühne stand, war für jeden, der Körpersprache lesen und genau zuhören kann, alles klar. Fremaux gab wie gewohnt den Entertainer, Weerasethakul sagte, er freue sich »wieder zurück in der Sektion für das innovative Kino zu sein«, und bedankte sich bei allen möglichen Leuten und
Institutionen – aber Thierry Fremaux wurde mit keinem Wort erwähnt. Der wiederum, übersetzte, wie man es von diesem Direktor gewohnt ist, die Worte der Regisseure auch in diesem Fall – und wie gewohnt eben nur jene, die er auch übersetzen wollte. Dann, als Weerasethakul fast schon wieder von der Bühne runter war, kam noch ein »ach ja, und ich bedanke mich natürlich auch bei Thierry Fremaux.« Dann umarmte Weerasethakul Fremaux etwas linkisch – und der drehte sich
erkennbar zur Seite.
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Ein eleganter, cooler, alles sagender Auftritt des Regisseurs, seinen Film macht das aber nicht besser. Es ist gewissermaßen nur Gossip. Denn ich gebe es gern zu: In der Sache verstehe ich Fremaux, bin ganz bei ihm. Ich hätte Uncle Boonmee auch nicht in den Wettbewerb eingeladen, denn ich finde den Film künstlerisch schwächer und inhaltlich viel uninteressanter, als Blissfully Yours, Tropical Malady und Syndromes of a Century.
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Dunkel ist es, der Mond scheint auch nicht. Wir lernen ein Krankenhaus kennen, draußen machen sich die Bagger der Armee zu schaffen. Was sie da wollen, weiß keiner genau, um so deutlicher spinnen Verschwörungstheorien. Im Krankenhaus schlafen alle Patienten, es sind Soldaten später begreifen wir, dass sie die Schlafkrakheit haben, und dass die nicht so schnell aufwachen werden, weil unter dem Krankenhaus die Toten einer Schlacht aus grauer Vorzeit liegen, deren »Geister« den
Soldaten »die Energie entziehen«. Die Soldaten wachen auch mal zwischendurch auf und dann schlafen sie ganz plötzlich wieder ein. Es gibt Medien, die mit den Tiefschlafenden kommunizieren, es gibt Götter, die sich materialisieren und am Essenstisch kichern. »we all dream« – ganz genau...
Die Therapie-Lampen wechseln ihre Farben. Sie leuchten vor allem hellblau, neon-hellblau. Irgendwann liegt da ein toter Hund, sieht man Spuren des Terrors. Irgendwann sieht man einen Mann im
Dschungel seine Notdurft verrichten – was die Geister im Boden jetzt wohl dazu sagen, wird nicht überliefert.
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Für den Betrachter ist das erst einmal vor allem stinklangweilig. Es passieren natürlich viele kleine unscheinbare Dinge, aber ganz grundsätzlich passiert gar nichts.
Natürlich kann man zu alldem nun sagen, der Film sei »traumwandlerisch frei in den Zusammenhängen und Möglichkeitsräumen. Kausalitäten gibt es keine, keine Sicherheiten, lauter zugewachsene Felder, durch die wir uns selbst einen Pfad schlagen können.« (critic.de) Das klingt zwar so, als seien Kausalitäten
und Sicherheiten Waffen des Terrors, aber meinetwegen.
Man kann allerdings auch sagen: Dies ist ein Film, der einfach ein paar banale Dinge weitgehend zusammenhanglos abbildet, und dabei einen sehr weiten Raum öffnet auf dem Filmkritiker dann völlig unbekümmert drauflos assoziieren können.
Warum sollten wir daran ein Vergnügen haben Baggern zuzugucken, wenn diese aus Thailand stammen. Warum würde man nie in einem europäischen Film Baggern zugucken wollen?
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Warum sollte man sich besonders für Geister interessieren, wenn man sonst nicht an sie glaubt? Warum sollte man sich mehr für Meditation interessieren, als für andere Dinge im Leben?
Ich gebe zu, dass mich das einfach subjektiv nicht interessiert,und kalt lässt, aber darum geht es nicht. Denn viele Filmgeschichten lassen mich kalt, oder interessieren mich nicht. Aber wenn dann ein Filmemacher eine faszinierende Bildsprache findet, ist das egal. Mit einer besonderen
Formensprache, mit Stilwillen und Sinn für das Besondere, mit Schönheitssinn kann jede Geschichte, kann das reine Nichts zu einem großartigen Film werden. Aber was ist an Weerasethakuls Bildsprache faszinierend? Ich weiß, dass ich mich da zumindest unter den von mir geschätzten Kollegen in einer deutlichen Minderheitsposition befinde, aber ich verstehe einfach nicht, was an Weerasethakul das Besondere sein soll. Ich finde hier vieles nur banal.
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Aus meiner Sicht liegen die Gründe ganz woanders: Bei der Verkitschung des Buddhismus im Westen. Sein Interesse für Spirituelles nehme ich dem Regisseur selber ja noch ab – wobei dies vielleicht auch nur kolonialistisches Denken ist, nach dem Motto: so sind sie halt, die Thailänder. Nicht abnehmen kann ich es aber dem Westeuropäischen und amerikanischen Kritiker. Das ist Pseudo-Spiritualismus. Da wird es zu Kitsch, so ähnlich wie Manager die ein Wochenende im
Buddhismus-Kloster machen, um dann mit neuer Kraft 1200 Leute »freizusetzen«. Derart doppelmoralig sind leider auch zu viele Kollegen drauf.
Cemetery of Splendour ist meiner Ansicht nach vor allem Buddhismus-Kitsch für die Kinder des Westens. Es ist ein Film, der sich offen gibt, aber extrem autoritär ist, in seiner Art den Betrachter dem Nichts auszusetzen. Wir sind alle Fake-Buddhisten, wir glauben uns etwas Ursprüngliches anzueignen, wenn wir uns
»Fernöstlichem Denken« aussetzen, und landen doch nur bei einer weichgespülten, an unsere Bedürfnisse angepassten Version, bei einem Richard-Gere-Buddhiusmus.
Immer wieder sagt man über Weerasethakuls Filme und Bilder, sie seien »meditativ«. Wie oben erwähnt, halte ich dieses Wort für eine Floskel, mit der die eigene Ratlosigkeit ummäntelt wird. Man kan’s halt auch nicht gut begründen. Aber bezogen auf die Kulturen Asiens ist Meditation einer der großen Mythen des
Westens. Wir glauben dass der komplette ferne Osten meditiert, und wollen nicht wahrhaben, dass es dort von den Mönchen abgesehen kaum einer tut, viel weniger als im Westen.
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»At least he makes us talk about it.« sagte Nil. Das stimmt. At least. Mit aber fehlt nicht nur die Geduld, für so etwas, ich bin einfach spirituell unmusikalisch und glaube, dass solche Filme in 30, 40 Jahren, wenn der Zeitgeist ein anderer ist, niemanden mehr interessieren werden. Weeraseethakul ist jedenfalls nicht der Antonioni oder auch nur der Zhang Yimou unserer Tage. Und am Ende geht es nur um die.
10. Folge 23.05.2015
»Film ist wie Wein, man weiß nie, was herauskommt« – Trockeneiskino, Schmuddel-Shakespeare und erste Bilanzgedanken
Der letzte Wettbewerbsfilm ist Macbeth, die Verfilmung des Shakespeare-Stücks durch einen Herren namens Justin Kurzel. Von dem hat man bisher noch nicht viel gehört, und wer Macbeth jetzt gesehen hat, weiß auch warum.
Kurzel ist Australier, und war 2011 auf dem Fantasy Festival mit The Snowtown Murders verteten, der bei der US-Kritik recht gut ankam. Als nächstes wird er den Game-Blogbuster
Assassin’s Creed in ein Kinogewand pressen. Macbeth dient ihm da offenbar zum Üben – kaum die richtige Voraussetzung um in Konkurrenz mit den »Macbeth«-Verfilmungen von Orson Welles und Roman Polanski zu treten. Kurioserweise sind für Assassin’s Creed mit Michael Fassbender und Marion Cotillard die gleichen Hauptdarsteller gelistet, wie bei Macbeth. Das
wird ja was werden.
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Die Pressevorführung von Macbeth begann unerwartet lustig: Seit Jahren ist es ein längst müder Gag, dass vor mindestens jeder zweiten Wettbewerbsvorführung ins kurze Dunkel nach dem Cannes-Trailer irgendeiner laut »Raoooouuuul!!!« in den Saal brüllt. Wieso, und wer damit gemeint ist, weiß ich nicht, das begann schon vor meiner Zeit. Auch Filmkritiker sind kindisch.
Diesmal aber brüllte irgendeine weibliche Stimme in dem Augenblick, als das Logo
der »The Weinstein Company« vor dem Film erschien, laut und sehnsuchtsvoll »Haaarveeeeyyyy!!!« Das war lustig.
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Das war aber auch der letzte Moment, an dem es für die nächsten 110 Minuten irgendetwas zu Lachen gab. Der Himmel und das Bild sind meistens wolkenverhangen, düster und barbarisch. Kurzel setzt auf Anti-Glamour. Auf einen kaum verhohlenen Kult des Barbarischen und Primitiven. Alles ist braun und schmutzig, der Dreck hängt zwischen den Bärten der Männer und sitzt unter ihren Fingernägeln. So war’s halt im Schottland des Mittelalters, soll uns das wohl sagen. Denn
tatsächlich ist »Macbeth« ja auch historisch grundiert und dramatisiert Ereignisse, die sich tatsächlich um 1050, kurz vor der normannischen Eroberung Englands, zugetragen haben.
Dreckig darf es darum natürlich schon sein, denken wir an Polanskis Verfilmung, in der er das ganze Hippietum den Zeitgeist seiner Zeit, mit den schrecklichen persönlichen Erfahrungen des Mordes an seiner Frau Sharon Tate und seines ungeborenen Kindes kurzgeschlossen hatte.
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Nur tut Kurzel das Selbe eben ohne eigene Idee, ohne Poesie, und erfüllt stattdessen alle Klischees eines Videokids, das es in die Welt der Erwachsenen verschlagen hat. Stil ist alles, fetziges, aber auch sehr techniklastiges Bilddesign Man Zeitlupe, mal Hochgeschwindigkeit, mal mit Horrorfilmelementen, dann leicht japanisch angehaucht – aber jetzt bloß nicht zuviel erwarten! –, und man hat den Eindruck, hier würde einer die Prophezeihungen der drei Hexen am
Anfang des Stücks ein bisschen zu wörtlich nehmen: »Hurlyburly, ... fair is foul and foul is fair/hover through fog and filthy air«. Aber es gibt einen Rhythmus, keine erkennbare Bilddramaturgie. Inhaltlich soll es halt ein bisschen um Wahnsinn gehen und ein bisschen um Machtgier. Aber selbst das wird hier allenfalls angedeutet, keineswegs schlüssig herausgearbeitet und individuell interpretiert. Es bleibt angeschminkte Bedeutung.
So ist das Ergebnis ein langweiliger, nach
elf Festivaltagen schwer aushaltbarer Schmarrn, öde und prätentiös.
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Kein Festival in Cannes ohne Marion Cotillard. Was die Franzosen an dieser Frau, erst recht an dieser Schauspielerin finden, will mir einfach nicht in den Kopf. Spätestens seit dem affektierten, bedeutungsheischenden Spiel im letztjährigen Dardennes-Film Deux jours, une nuit sollte man ihre Grenzen kennen und begriffen haben, dass diese Frau leider sich selbst mit ihren Rollen verwechselt. Aber mal schauen, ob sie nicht hier am Ende einen Preis bekommt. Denn welch ein Zufall: Ihren nächsten Film, noch vor Assassin’s Creed dreht sie mit Jurymitglied Xavier Dolan!
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Ein anderer, später Wettbewerbsbeitrag katapultierte sich stattdessen recht weit nach vorn in der Zuschauergunst: Chronic vom Mexikaner Michel Franco. Der war 2012 mit Despues de Lucia in »Un Certain Regard« vertreten, ist also das in diesem Jahr seltene Beispiel eines Regisseur, der in die Topliga aufgestiegen ist. Franco ist so jung, wie schlau, was nicht unbedingt als Kompliment gemeint ist. Denn man hat bei seinen Filmen, bei diesem noch mehr wie bei »Despues de Lucia«, hat man immer das unklare Gefühl, dass alles ein Produkt der Berechnung ist, eher ein zynischer nächster Karriereschritt, und als solcher überaus clever, als ein Herzensanliegen.
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Dieser Eindruck mag aber täuschen, denn Francos Filme sind einfach auch extrem kontrolliert, sie wirken nicht nur kalt, sondern trocken. In diesem Fall beginnt alles mit einer offenen Referenz an Hanekes Caché: Aus einem Autofenster heraus beobachtet man ein Einfamilienhaus. Nichts passiert. Nach einer ganzen Weile erst tritt eine junge Frau heraus, steigt in ein Auto, fährt los. Der
zweite Wagen folgt ihr. Darin sitzt, das zeigt uns nun an der nächsten Ampel ein Kameraschwenk, ein Mann, gespielt von Tim Roth.
Und jetzt sieht man anhand der Verkehrsschilder und der Autokennzeichen, auch dass alles in den USA spielt. In Los Angeles offensichtlich. Das ist schon einmal die erste Enttäuschung. Dies ist also doch nicht der eine lateinamerikanische Beitrag, auf den ich gehofft hatte.
In langen, statischen Einstellungen erzählt der Film von einem Mann
(Roth). Man sieht ihn am Computer im Facebook-Profil jener jungen Frau herumstöbern, die er beobachtet hat. Dann sieht man ihn, wie er in einer Wohnung eine höllisch abgemagerte, offenkundig todkranke Frau pflegt, wäscht, ihr Essen macht, sie betreut, als sie Verwandtenbesuch hat. Bald darauf ist die Frau tot, und erst jetzt begreift man, dass der Eindruck, die beiden seien ein Paar oder verwandt, getäuscht hatte. Roth’s Figur heißt David, und ist Krankenpfleger und
Sterbebegleiter, wohl zu unterscheiden von Sterbehelfer. Er tötet nicht aktiv, sondern betreut Schwerstkranke über Wochen und Monate bis zum Ende. Im einen Fall handelt es sich aber auch nur um einen alten Mann, der gerade einen Schlaganfall hatte, dessen Tod keineswegs unmittelbar bevorsteht.
Das zeigt der Film en detail, in Bildern, die notgedrungen alles andere als angenehm sind. Man kann hier den Vorwurf machen, dass der Film einen bestimmten Anteil von Exploitation hat,
dass er bloßstellt und Voyeurismen befriedigt. Ich verstehe solche Gedanken, die ich selbst habe, finde sie aber zugleich falsch. Denn wie sollte man es sonst machen. Dezentes Weggucken, gar Verbergen kann nicht Sache des Kinos sein, jedenfalls nicht jenes Kinos, das ich mag und sehen will. Im Kino geht es ums Zeigen, gerade auch um das Zeigen des Unangenehmen. Wie hätte Franco es denn sonst machen können? Ich möchte nicht wissen, was man dem Film vorgeworfen hätte, wenn er irgendwie
schönfärberisch, mit formalen Effekten oder gar »schön« von solch' hässlichen Dingen erzählt hätte, anstatt in Francos kaltem, statischem Naturalismus.
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Dies ist unbequemer Film, der seine Zuschauer fordert. Man kann auch gut verstehen, dass man sich das im Grunde nicht angucken möchte.
Die Geschichte erzählt neben Davids Arbeit einerseits nicht viel, andererseits alles: David identifiziert sich nämlich übertrieben stark mit seinen Patienten, und nimmt in Alltagsbegegnungen, etwa einer Zufallsbegegnung in einer Bar oder im Gespräch mit einer Buchhändlerin, deren Identität an. Das heißt auch: Er verleugnet sich selbst. Und
etwa gegen Mitte des Films verstehen wir auch warum: Davids Sohn ist an einer unheilbaren Krankheit (ich glaube Leukämie) gestorben, und hat ihm seinerzeit Sterbehilfe geleistet. Dann hat er sich von seiner Familie getrennt. Die junge Frau, die er beobachtet, ist seine Tochter (gespielt wird diese übrigens von Sarah Sutherland, der Tochter Kiefer Sutherlands). Im letzten Drittel des Films, nähren sich beide einander an, und auch mit seiner Exfrau spricht er.
Irgendwann hilft David
einer todkranken Krebspatientin dann, zu sterben. Das Ende des Films nervt dann allerdings und ist unnötig, und gibt denen Argumente, die, wie Violeta (»Ich hasse Michel Franco« meinte sie am Abend nach der Vorstellung), Franco als spekulativen Wichtigtuer empfinden, dessen Filme eine Art Kunstporno sind: David joggt auf dem Bürgersteig, man sieht ihm zwei Minuten lang ins Gesicht, und glaubt schon, dies sei das letzte Bild, da wird er – Zasch!!! – von einem Auto
überfahren. Er war über eine rote Ampel gejoggt.
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Dies ist alles in allem, aber ein guter Film. Kein Kandidat für den Hauptpreis, für alles andere aber sehr wohl. Eine Kontinuität zu Francos letztem Film liegt übrigens darin, dass auch hier wieder eine Vater-Tochter-Geschichte den emotionalen Kern des Films bildet.
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Hauptdarsteller Tim Roth war übrigens 2012 Chef der Jury in »Un Certain Regard«, die Franco seinerzeit ausgezeichnet hatte. »Diese Geschichte eines jungen Mädchens, das von ihrer Schulklasse gemobbt wird, hat mich seinerzeit enorm bewegt, ich konnte nicht aufhören, zu weinen.« sagte Roth jetzt in einem Interview. Als »Executive Producer« hat er diesen Film jetzt möglich gemacht. Gut so.. Aber schade, dass den Mexikanern mit Franco nun wieder ein guter Regisseur an »los yankees« verloren gegangen ist.
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»Es gibt viele gute Filme, aber nichts, das mitreißt.« – so lautet nicht nur das Urteil der Münchner Kolleginnen Antje Harries und Margret Köhler, auch Kritiker aus anderen Ländern sehen es ähnlich. Dies ist ein schwaches Cannes-Jahr.
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Wird Cannes mainstreamig? Wird Cannes mehr Berlinale? Diese Fragen stellen sich, denn die Bilanz des diesjährigen Programms fällt jetzt, zu Beginn des letzten Festivaldrittels, doch überaus gemischt aus. Es ist ein sehr ausgeglichener Wettbewerb auf grundsätzlich hohem Niveau, höherem immer noch als in Venedig oder auf der Berlinale, dem allerdings die ganz besonderen, fesselnden, erschütternden, oder irritierenden Werke bislang fehlen. Oder der Exzeß, der auch essentiell
zum Kino gehört.
Kein Film bislang hat das Potential die Landkarte des Weltkinos oder der filmischen Erzählformen neu zu definieren.
Es fehlen bislang vor allem die echten Überraschungen, diejenigen Filme die alle Vorab-Erwartungen sprengen, oder die sogar gänzlich unerwartet sind. Die einen Filmemacher, dessen Name bislang allenfalls Insidern bekannt war, in den Olymp des Weltkinos katapultieren.
Das passiert in Cannes gar nicht so selten. Aber auch in den Nebenreihen
gab es nichts was die Beobachter bislang völlig aus der Fassung brachte. Es fehlt das Vibrieren, das raunen des Festivals über bestimmte Filmtitel, die man »gesehen haben musste«.
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Zwar ist noch knapp vier Tage dazu Zeit, erst am Sonntagabend wird am der Croisette der Sieger gekrönt. Noch sind nicht alle Favoriten gelaufen, denn sowohl der Franzose Jacques Audiard, wie der Mexikaner Michel Franco werden in den allgemeinen Erwartungen recht hoch gehandelt. Doch schon jetzt scheint klar: Als ein ganz großer Filmjahrgang wird Cannes 2015 nicht in die Filmgeschichte eingehen.
Dieses Jahr kann den Vergleich mit 2014 nicht aushalten: Es gibt keinen »Winter Sleep«,
kein »Still the water«, kein »Leviathan«, kein Godard
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»Film ist wie Wein, man weiß nie, was herauskommt«, meint Chinlin Hsieh, eine aus Taiwan stammende Französin, die ich seit letztem Jahr kenne. Auch sie hatte, wie ich, ihren ersten eigenen Film gemacht, Flowers of Taipeh über die Geschichte des taiwanesischen Kinos und der »New Taiwanese Wave«. Auch der lief, wie mein Von Caligari zu Hitler auf dem Festival
in Venedig in den »Venice Classics«. Chinlin arbeitet als Programmerin für das Filmfestival Rotterdam, und auch sie findet: »It is not a great year. There are good films, but nothing special.« Sie mag Weerasethakul lieber als ich, und findet dafür sowohl Kore-eda wie Kawase zu sentimental. Wir sind uns dann wieder einig, dass die Semaine wieder einmal richtig schlecht ist in diesem Jahr.
Interessant sind ihre Informationen zu der merkwürdigen Abwesenheit von Phillippe Garrel
und Arnaud Desplechin im Wettbewerb. Beide laufen im Gegensatz zu anderen »üblichen Verdächtigen ja auch nicht in ›Un Certain Regard‹ sondern in der schwachen Gegensektion ›Quinzaine‹. Sie meint, beide hätten offenbar dem Festival für ›Un Certain Regard‹ abgesagt, im Gegensatz zu anderen. Der Grund, warum sie nicht im Wettbewerb laufen, im Gegensatz zu schwächeren Regisseurinnen: Desplechin werde zwar ›geliebt von den Franzosen, but he
is not appreciated enough by the international audience.‹«
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»Film ist wie Wein, man weiß nie, was herauskommt« – so kann man es natürlich auch sehen, und dann muss man die Qualität hinnehmen, wie am Morgen das Wetter
Vielleicht lohnt sich aber das Nachdenken über die Ursachen. Denn neben der Qualität des Angebots, des Kinojahrgangs, könnte es durchaus auch hausgemachte Gründe für den sanften Qualitätsverfall geben.
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In den letzten zwei, drei Jahren hat sich das Programm jerdenfalls spürbar verändert. Die Semaine ist unter ihrem neuen, nur bei den Franzosen beliebten Chef Charles Tesson quasi unsichtbar geworden, die Quinzaine, die bis etwa 2010 eine großartige Alternative zur offiziellen Selektion war, in ganz wenigen Jahren fast völlig irrelevant. Aber was ist im Wettbewerb passiert? Einst liefen hier Filme wie Brown Bunny oder Michael. Egal, was man von ihnen im Einzelnen halten mag: Sie würden heute wohl eher in der Sektion »Un Certain Regard« zu sehen sein.
In diesem Jahr wie schon zuletzt gibt es ein paar Filme
Zugleich gibt es Filme, die in den letzten Jahren in den Nebensektionen liefen, die unbedingt in den Wettbewerb gemusst hätten: Turist, Jaucha, Dogtooth, White God.
Und auch wenn Festivals bei Ablehungen immer Fehler machen, ist unerklärlich, warum man Roy Anderssons Venedig-Sieger ablehnte.
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Auch Christian Petzolds Phoenix war im Vorjahr in Cannes abgelehnt worden. Offiziell gibt es für so etwas zwar keine Begründung, aber aus dem Umkreis des Festivalchefs war sehr wohl zu erfahren, warum. Man mochte den Film, fand aber, dass Phoenix nicht besser, vielleicht sogar schlechter sei, als Barbara. Ich glaube zwar, dass es seinen Grund hat, dass Phoenix auch in Venedig nicht genommen wurde. Aber dieser Vergleich mit Barbara ist ein unzureichender Ablehungsgrund. Wenn hier jeder Film eines Regisseurs besser sein muss, als jeder zuvor, dann dürfte hier mindestens die Hälfte des Wettbewerbs nicht laufen.
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Eine Ursache für all das könnte sein: Gilles Jacob, der jetzt zurückgetretene Festivaldirektor war ein gutes Korrektiv zum künstlerischen Leiter Thierry Fremaux, der als popkulturorientierter, amerikafreundlich und vor allem als mainstreamig gilt. Das ist jetzt weggefallen.
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Engin Ertan aus Istanbul hat eine zusätzliche Wettbewerbs-Theorie, die ich zwar bizarr finde, aber nicht für völlig unvorstellbar halte: Fremaux programmiere immer mindestens einen Film, der bei den Kritikern vollkommen durchfalle, und gerade dadurch für Schlagzeilen sorge. »Buhs in Cannes«. So zuletzt geschehen mit Gus Van Sant, zuvor mit Atom Egoyan und davor Nicholas Winding Refn
11. Folge 24.05.2015
Sinnliche Erfahrung, Sozialkitsch und Mord-Alltags – Goldene Palme für französisches Einwanderermelodrama und der Ungar Laszló Nemes gewinnt den »Grand Prix« in Cannes, ein Streifzug zum Abschluß des diesjährigen Festivals
»Intellectuals have no taste.«
Igor Stavinsky
»Television is the future.«
Jane Fonda, in »Giovinezza«
»It’s going to be something, and this something isn’t nothing.«
Gilles Jacob zu David Lynch, 1990, kurz vor dessen Gewinn der Goldenen Palme, berichtet von Isabella Rossellini
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Ungläubiges Kopfschütteln und Stöhnen bei vielen, laut vernehmbare Buhrufe selbst bei den Franzosen im Salle Debussy – es war mehr als eine faustdicke Überraschung an der Croisette, als am Sonntagabend der diesjährige Gewinner der Goldenen Palme verkündet wurde, es war ein Affront gegen alle, denen die Kunst des Kinos am Herzen liegt: Der Franzose Jacques Audiard (De battre mon coeur s'est arrêté, Un prophète) galt zwar seit Jahren als »der amerikanischste« unter Frankreichs Autorenfilmern auch als ein potentieller Kandidat für die Goldene Palme, aber ausgerechnet diesmal hatte ihn an der Croisette kaum einer auf der Rechnung gehabt. Jetzt hat ihn die Jury unter Vorsitz der Brüder Joel und Ethan Coen für sein Einwanderermelodram Dheepan in den Olymp des Autorenkinos katapultiert.
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Eher schlechte Kritiken hatte es noch am Freitag für Audiards Film auch in Frankreichs Zeitungen gehagelt – und zumindest auf künstlerischer Ebene scheint das auch berechtigt: Denn Dheepan ist ein überaus sentimentaler Film, der lieber Botschaften predigt, als zu beobachten, der wenig sensibel wirkt, eher forciert. Zuviel Loach ist in diesem Film, zuviel Predigt. Und zu wenig Wirklichkeit, zu wenig Beobachtung, viel zu wenig Neugier.
Damit
wir uns da nicht missverstehen: Audiards Absichten, jedenfalls, die, die er behauptet, nämlich einen Realismus zu praktizieren, der das Leben möglichst direkt spiegelt, der durch die Leinwand hindurch blickt, sind völlig legitim. Das ist nicht mein Lieblingskino, aber ich teile nicht den Affekt mancher Kollegen.
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Der Held des Films gibt dem Film den Titel. Aber schon das ist doppelbödig, denn Dheepan (Antonythasan Jesuthasan) nennt sich nur so nach einem Toten, dessen Pass er an sich nimmt, seine wahre Identität erfahren wir nie. Wir wissen nur: Dheepan kommt aus Sri Lanka, war Mitglied der terroristischen »Tamil Tigers«. Und er flüchtet vor dem dortigen Bürgerkrieg, begleitet von einer fremden Frau und einem Kind, das auch nicht seines ist, das eigens in einem Waisenhaus gesucht wurde, weil
man als »Familie« bessere Chancen auf Asyl in Europa hat. In Frankreich angekommen geben sich die drei dann als so eine Familie aus und erhalten eine Wohnung in einer Banlieue, in der ein Bandenkrieg zwischen arabisch-afrikanischen Drogengangs tobt. Dheepan wird Hausmeister, kann die bösen Kinder aber auch nicht zivilisieren und greift deshalb notgedrungen zu anderen Mitteln.
So ist Dheepan ein ungleichgewichtiger, mit Handlungswendungen
vollgepfopfter Film, der Fremdheit und Migration zum Thema macht, dabei aber in den Klischees des Sozialdramas hängenbleibt, der sich einerseits politisch engagiert gbt, anderseits auch recht spekulativ.
Denn auch, wenn Auduard mit seiner Hauptfigur sympathisiert, sind die Migranten in dem Film meist genau so, wie sie auch die rechtsextremistische Front National gern beschreibt: Sie täuschen und belügen die Behörden, erschleichen sich mit falschen Identitäten zu Europa und
seinen Sozialleistungen, sie bleiben am liebsten unter sich, sie sind faul, und entweder dumm, oder kriminell und latent gewaltbereit. Sie tragen den Krieg aus ihren Ländern in unsere Städte, und zwischen den Zuständen in den Banlieus und denen im tamilischen Dschungel, oder in denen im Gaza-Streifen. Der Staat hingegen macht auf der Leinwand, wenn er denn auftaucht, immer alles richtig.
»Dheepan« ist anzurechnen, dass er die vielen auf den Nägeln brennenden Sujets Migration und
Integration in den Blick nimmt – wie er das tut, ist aber mindestens unausgegoren. Der Film verkündet in jeder Szene eine »starke Botschaft« – nur für was jetzt nochmal genau?
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Die mit vielen Schauspielern – Sienna Miller, Sophie Marceau, Jake Gyllenhaal – besetzte Jury mag geglaubt haben, dass eine Goldene Palme für diesen Film im Jahr 1 nach »Charlie Hebdo« das politisch angemessene Statement sei. Damit hat sie sich aber zugleich gegen eine deutliche Parteinahme zugunsten der Filmkunst entschieden, zugunsten der Erweiterung oder Herausforderung unserer Sinne und ästhetischen Haltungen entschieden
Mit Audiard hat zudem nun schon zum
dritten Mal in nur acht Jahren ein französischer Regisseur die wichtigste Auszeichnung der Filmkunst erhalten. In 50 Cannes-Jahren zuvor hatte es dagegen nur einen einzigen französischen Sieger gegeben.
Auch sonst zeigte sich die Wettbewerbs-Jury recht francophil und gab Schauspielpreise an Vincent Lindon und Emmanuelle Bercot (die sich den Preis allerdings mit der US-Amerikanerin Rooney Mara teilen musste). Eine hohe Auszeichnung für den Taiwan-Chinesen Hou Hsiao-hsien
(The Assassin) war dagegen erwartet worden, ebenso den Ungarn Laszlo Nemes. Dessen KZ-Drama Son of Saul ist eine Herausforderung, weil sie nicht nur ästhetisch aufregend weitgehend aus der Perspektive eines Menschen, eines Sonderkommando-Mitglieds in Auschwitz erzählt ist, sondern auch die moralisch-politische Frage aufwirft, was man aus dieser Menschen-Hölle eigentlich zeigen soll, und was besser nicht?
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Er wurde bereits am zweiten Festivaltag vorgeführt, und war danach bis zum Ende einer der meist-debattierten Filme in Cannes – und so war der »Grand Prix«, die neben der Goldenen Palme bedeutendste Auszeichnung für Laszló Nemes' ungarischen Beitrag Son of Saul bei der Preisverleihung am Sonntagabend keine große Überraschung. Dem 38-jährigen Nemes, der als Assistent von Bela Tarr bekannt wurde, gelang es damit gleich in seinem ersten eigenen Film in den Olymp des Weltkinos aufzusteigen – man wird noch viel von ihm hören.
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Filmästhetisch ist diese Auszeichnung auf alle Fälle verdient. Mit einer fesselnden, magnetisierenden Kamera (Mátyás Erdély) folgt der Film gute 100 Minuten einem einzigen Menschen auf dem Fuß: Saul Ausländer, Häftling im Vernichtungslager Auschwitz und Mitglied jener Sonderkommandos, die aus Häftlingen zusammengesetzt gezwungenermaßen der deutschen Mordmaschine der Shoah assistierten. Man erlebt einen langen Tag im Oktober 1944, dem Tag vor dem Aufstand der Sonderkommandos, der scheiterte und mit der Ermordung von über 100 Häftlingen endete. Um Historisches oder um die moralische Einschätzung der Sonderkommandos und die Grenze zwischen Überlebenstrieb und Kollaboration geht es im Film aber nur am Rand. Es geht um die subjektive Perspektive, und um eine Art Einfühlung in die sinnliche Erfahrung des Alltags dieser Menschen. In dem wir Saul (von Géza Röhrig atemberaubend gespielt) bei jedem Schritt folgen, erleben wir nicht nur die schrecklichen Momente, in denen die Menschen in die Gaskammern getrieben werden, und die noch schrecklicheren, in denen die Sonderkommandos diese Kammern öffnen und für den nächsten Massenmord präparieren mussten. Die Zuschauer erleben vor allem den permanenten Stress, unter den die Menschen dort gesetzt waren, die Hektik mit der alles vonstatten ging. Noch wichtuger als jedes Bild ist hier die Tonspur: Höllischer Lärm herrschte in der Mordmaschine – dies, nicht der genau Blick bis an den Rand der Gaskammer, ist der Bruch, den Nemes-Film im Verhältnis zu nahezu allen bisherigen Darstellungen der Shoah bedeutet, in denen eine geradezu heilige, andachtsvolle Stille dominierte.
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So weit, so glänzend. Problematischer ist die Darstellung des ethischen Konflikt der Hauptfigur. Denn indem dieser verzweifelt versucht, einem einzelnen toten Jungen ein jüdisches Begräbnis zu ermöglichen, gefährdet Saul viele Mithäftlinge und den geplanten Auftand. Hier wird der Film fast zu Kolportage, in jedem Fall ist die Entscheidung, ein Toter sei im Lager wichtiger als viele Lebende, und jede Überlebenshoffnung sei an diesem Ort sowieso zum Scheitern verurteilt historisch wie moralisch fragwürdig. Wenn der Film bei uns startet, wird man darüber noch diskutieren müssen.
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The Assassin war eines der schönsten, formvollendetsten Werke in diesem Jahr. Allerdings sind die atemberaubenden, magnetisierenden Bilder inhaltlich weitgehend leer. Als Martial-Arts angekündigt, gibt es kaum Kämpfe, keine federleuchten Ballette a la Tiger & Dragon – dieser Verzicht ist allzu-glatte Pädagogik und auch respektlos gegen
das Genre und bedient vor allem Reflexe mancher Kreise im Westen: Pazifistisches Kampfkunstkino bleibt ein Widerspruch in sich, wie lactose-freie Milch, Kaffee ohne Koffein, Bier ohne Alkohol...
Der Preis für Hou unterstreicht allerdings die starke Präsenz und Qualität asiatischer Filme in allen Sektionen. Und er versöhnt mit einem Festival, das diesmal unter den Erwartungen blieb.
Denn in Cannes geht es immer um den Markt, und das ist auch gut so, denn der Duft des großen
Geldes gehört zum Reiz dieses Festivals. Aber in diesem Jahr hatte man den Eindruck, es gehe nur noch darum. Zu viele Filme nahmen am Wettbewerb nur aus dem einen offensichtlichen Grund teil, dass damit Industrieinteressen befriedigt wurden: Drei schwache Italiener wurden gezeigt, aber neben den auffallend starken Asiaten, wurden auch tolle Werke aus Kroatien und Rumänien in die Nebenreihen abgeschoben. Und aus Frankreich zeigte man nicht die besten Filme, sondern die mit den
meisten Stars.
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Immerhin spannend war das Regiedebüt von Nathalie Portman. Die kennt man als Hollywood-Star, und nicht jeder hatte ihr vor dem Festival eine Cannes-Masstäben genügende Regiearbeit zugetraut. Doch A tale of love and darkness gehörte zu den postiven Überraschungen, bei einem Festival, das in diesem Jahr nicht restlos überzeugen konnte. Die Verfilmung eines Romans von Amos Oz handelt von einer Mutter deren Liebe zur Poesie einen entscheidenden Einfluß auf das Leben ihres Sohnes hat.Dieser Sohn ist Oz selbst, der im Buch seine Kindheit in Israel und das langsame, zu frühe Sterben seiner Mutter beschreibt. Gedreht in hebräischer Sprache beginnt der Film mit dem bereits erwachsenen Sohn, der in Rückblicken zunächst in das Palästina des Jahres 1945 reist. Amos ist da zehn Jahre alt, Portman selbst spielt die Mutter, die von den Erinnerungen an ihre eigene Jugend gequält ist, als sie in Polen Zeugin antisemitscher Pogrome wurde. »A Tale...« mischt Glücksmomente und den Idealismus der Gründungsjahre Israels und seiner Gründergeneration mit dem Schmerz solcher Erinnerungen. Zunehmend verdunkelt sich die Seele der Mutter und der Film legt nahe, dass es diese Erfahrung war, die den Sohn zum Künstler machte. Dies ist eine der warmherzigsten, zugleich bewegendsten Auftritte als Darstellerin. Und ein fuminantes Debüt für die Schauspielerin, die sich mit diesem auch auf eine Suche nach ihrer eigenen Identität begab, und sich ins Land und zur Sprache ihrer Kindheit zurückbewegte.
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Auch zwei biographische Dokumentarfilme waren besonders sehenswert und finden wahrscheinlich auch den Weg ins deutsche Kino: By Sidney Lumet heißt Nancy Buirskis liebevolle Hommage an den großen New Yorker Regisseur, ein Portrait, das nicht den üblichen Weg viele Filmemacher geht, unzählige Bekannte und »Zeitzeugen« aufzubieten, und Ereignisse chronologisch aneinanderzureihen. Stattdessen kommt der 2011 verstorbene Lumet selbst als einziger
zu Wort. In einem langen Interview läßt er drei Jahre vor seinem Tod seine Filme Revue passieren, erinnert sich an seine Kollegen, erzählt von seiner Familie, Einwanderern aus dem Habsburgerreich, und seinen Anfängen als Schauspieler in einer jüdischen Theatergruppe.
Ganz anders ist Asif Kapadias Amy schon durch sein Objekt: Der mit nur 27 Jahren verstorbene Londoner Pop-Weltstar Amy Winehouse. Der Film kann mit tollen Innenansichten locken, denn die
Regisseurin hatte Zugriff aufs Familienarchiv und so sieht man diverse private Videos, die den Star vor dem großen Ruhm zeigen, ihre Wurzeln im Londoner Norden und seiner jüdischen Kultur schildern, als Schülerin, mit Freundinnen, und bei ersten Gesangsversuchen. Auch der Borderline-Charakter von Winehouse wird darsgestellt. »Amy« ist ein origineller Film, der höchstens darunter leidet, dass er mitunter an der Fülle Interviewschnipsel zu ersticken droht.
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Trotz solcher Ausnahmen gelang diesmal nicht jene runde Mischung zwischen Entertainment und Autorenfilm, die in Cannes eigentlich normal ist. Man erlebte Wirtschaft, Wirtschaft über alles. Garniert mit politischen Botschaften. Die Kunst blieb auf der Strecke.
(to be continued)