Cinema Moralia – Folge 123
Milieustudien, fremde Blicke, und Priorisierungen... |
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Helmut Herbst und Marquard Bohm fragen 1966 Na und...? | ||
(Foto: Quelle: Helmut Herbst) |
»Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen/ Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei,/
Wenn hinten, weit, in der Türkei,/ Die Völker aufeinander schlagen./
Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus/ Und sieht den Fluß hinab die bunten Schiffe gleiten;/
Dann kehrt man abends froh nach Haus,/ Und segnet Fried und Friedenszeiten.«
»Herr Nachbar, ja! So laß ich’s auch geschehn:/ Sie mögen sich die Köpfe spalten/
Mag alles durcheinander gehn/ Doch nur zuhause bleibt’s beim alten.«
Goethe: »Faust I.«
Pressemitteilungen erreichen uns am Tag dutzendweise. Fast alle von ihnen sind dröge oder anbiedernd, in jedem Fall stinklangweilig. Nichts davon trifft auf jene Mitteilung zu, die und Ende November zum Start von Jacques Audiards Cannes-Sieger-Film Dämonen und Wunder – Dheepan erreichte. Sie stammt von Michaela Strattner, Mitarbeiterin in der für den Film tätigen Presseagentur »Panorama Entertainment«, und ist im Vergleich zu dem Allermeisten, das ich so bekomme, schlechthin großartig. Jedenfalls eine große Freude zu lesen.
In wenigen Zeilen stehen da klügere Dinge als in vielen langen Filmkritiken.
Titel: »Der fremde Blick in 'Dämonen und Wunder'. Jacques Audiard kombiniert Kulturphilosophie mit politischem Kommentar und Milieustudie.«
Und dann: »Montesquieus 'Persische Briefe', das surrealistische Gedicht 'Treibsand' und die krasse BBC-Dokumentation 'No Fire Zone' nennt Jacques Audiard als Inspiration für 'Dämonen und Wunder' – weiter könnten die Impulse nicht auseinander
liegen, doch dem Meister des Genre-Mixes gelingt wie bei Der Geschmack von Rost und Knochen das Kunststück, scheinbar Unvereinbares zu einem Ganzen zu fügen: Als 'Post-It, das wir ganz am Anfang als Richtungsvorgabe an das Projekt hefteten' beschreibt Audiard den Einfluss des französischen Aufklärers Montesquieu, der durch die fiktiven Briefe zweier Perser im 18. Jahrhundert der
französischen Gesellschaft den Spiegel vorhielt. Die Protagonisten Usbek und Rica beschreiben ihrer Familie staunend und kopfschüttelnd den Pariser Alltag und entlarven politische, religiöse und gesellschaftliche Skurrilitäten. Der Blick von außen, den Neuankömmlinge aus einer anderen Kultur auf die Vorgänge in der französischen Vorstadtsiedlung werfen, wäre an sich bereits interessant genug – Audiard gibt sich damit aber nicht zufrieden: Stattdessen wird aus dem
ersehnten Zufluchtsort für Dheepans 'falsche' Familie eine neue Zone von Angst und Gewalt.
Ungesehenes ans Licht bringen – so könnte man Audiards Anspruch formulieren. Ein befreundeter Autor zeigte dem Regisseur die Dokumentation No Fire Zone, ein Zeugnis des Bürgerkriegs, der von 1983 bis 2009 in Sri Lanka tobte. 'Der Film, dessen Gewaltlastigkeit', so Audiard, 'im Übrigen kaum zu ertragen ist', beleuchtet einen Kriegsschauplatz, von dem der Rest
der Welt noch nie etwas gehört hat. Den blutigen Konflikt auf Sri Lanka, den Dheepan, Yalini und Illayal mit der Flucht nach Europa scheinbar hinter sich lassen, transformiert Audiard und verwehrt seinen Helden das Happy End: Die falsche Familie tauscht das tamilische Krisengebiet gegen den Drogensumpf der Banlieue, eine Umgebung, die bereits durch ihre Fremdheit einschüchternd auf die Neuankömmlinge wirkt.
Fremdheit drückt sich bereits im Titel des Films aus: Jacques Préverts
Gedicht 'Treibsand', aus dem die Zeile 'Dämonen und Wunder' entlehnt ist, sperrt sich in seiner surrealistischen Rätselhaftigkeit gegen jede Deutung und wird so zum Sinnbild der Ausweglosigkeit: Dheepan kann seinem Kriegerdasein nicht entfliehen, egal ob er für die Befreiung Yalinis am Ende des Films oder für die Befreiung der Tamilen am Beginn kämpft. Nie ist das Paradies weiter entfernt als im von Engelschören durchwehten Garten des erträumten englischen Exils, das zeigt, dass
Dheepan ein ganz anderer sein könnte – wenn er nicht beständig ums Überleben kämpfen müsste.«
Ich kann mir Audiards Film nicht viel anfangen. Aber nach diesem Text habe ich Lust bekommen, ihn mir nochmal anzugucken.
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Eine richtige Hiobsbotschaft wäre, sollte sie zutreffen, eine andere Meldung: »Wackelt ›Babylon Berlin?‹ fragt DWDL.de. Denn am Montag hatte WDR-Intendant Tom Buhrow überraschende Zweifeln an der Umsetzung des bisherigen ARD-Prestigeprojekts ›Babylon Berlin‹ geäußert, bei der Tom Tykwer Regie führen soll, und das von ARD, Sky, Beta Film und X-Filme gemeinsam ankündigt wurde. Als ›wegweisende Produktion‹ wurde ›Babylon Berlin‹
schon im vergangenen Jahr allein durch seine Ankündigung (voraus)gelobt.
Am Tag danach wurde dann von allen Seiten versichert, so ernst sei es nicht gemeint. Geplanter Drehbeginn ist im Frühjahr 2016.«
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Ein paar Tage vor Weihnachten erreicht uns ein gar nicht so weihnachtlicher Offener Brief. Verfasser ist Helmut Herbst, Filmemacher, Filmarchivar, und renommierter Filmhistoriker. Adressat ist Berlinale-Direktor Dieter Kosslick und das Thema ist die Berlinale, genau gesagt die kommende Berlinale-Retrospektive. Ihr Thema »Deutschland 1966 – Filmische Perspektiven in Ost und West«.
Die Pressemitteilung der Berlinale behauptet, dass es sich bei dem Jahr 1966 um
einen »Wendepunkt im deutschen Kino« handelt, der fünfzig Jahre zurückliegt. Schlüssige Begründung: »Vier Jahre nachdem die Verfasser des Oberhausener Manifests erklärt hatten: 'Der alte Film ist tot. Wir glauben an den neuen', erfährt der Neue Deutsche Film 1966 erstmals Anerkennung auf bedeutenden Festivals: Die Berlinale zeichnet Peter Schamonis Debütfilm Schonzeit für Füchse (BR
Deutschland 1966) mit einem Silbernen Bären aus, Volker Schlöndorffs Film Der junge Törless (BR Deutschland / Frankreich 1966) erhält den Filmkritiker-Preis in Cannes und Alexander Kluges Abschied von gestern (BR Deutschland 1966) den Silbernen Löwen in Venedig.«
Ebenfalls schlüssig: Dass
die Retrospektive einen breiten Begriff von deutschem Autorenkino vertritt, der nicht auf die wenigen Größen des »Neuen Deutschen Kinos« verengt ist. Zu ihm gehören Roland Klick, Jeanine Meerapfel, Will Tremper, May Spils, Edgar Reitz, Helke Sander, Ulrich Schamoni, Ula Stöckl.
Allemal war es eine Zeit, in der das deutsche Kino das komplette Gegenteil von heute war: Aufbruchstimmung; Jugendlichkeit im Denken und Formen, nicht nur im Alter der Filmemacher; Kino, dass Widersprüche der Gegenwart offensiv in den Blick nahm, das den Alltag kritisierte und befragte. Ihre Figuren lassen sich treiben, begehren auf oder sind auf der Suche. Sie sind Rebellen und Individuen.
So weit, so gut.
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»Lieber Dieter,
aus unseren gemeinsamen Zeiten im Vorstand des Hamburger Filmhauses erinnere ich mich noch gut an Deine Überzeugung, dass in bestimmten Situationen an die große Glocke geschlagen werden muss. Nun ist es wieder einmal so weit, und es betrifft Dein Haus.
Zur Berlinale-Retro 2016 schreibst Du einleitend in der Pressemitteilung: ›Das Jahr 1966 steht für herausragende Filme in West und Ost, die künstlerisch neue Wege gingen. Die Retrospektive 2016
zeigt das selbstbewusste Aufbegehren und das tastende Erkunden einer Zeit im Umbruch‹. Leider geht die von Dr. Rainer Rother, Deutsche Kinemathek, verantwortete Retrospektive des gesamtdeutschen Filmjahres 1966 aber ganz eigene Wege, die weniger einer historisch annähernd korrekten Präsentation der ›herausragenden Filme, die künstlerisch eigene Wege gingen‹ als einer leicht zu durchschauenden aktuellen Hauspolitik Rainer Rothers folgen. Wie sonst ist
es zu erklären, dass von den damals als wegweisend diskutierten Hamburger Kurzfilmen des immens wichtigen Jahres 1966 nur Helmut Costards Klammer auf, Klammer zu und der cinegrafik-Film Na und...? in die Retro aufgenommen wurden, nicht aber Franz Winzentsens Erlebnisse der Puppe und mein Film Der Hut
(Eckelkamp-Preis u. Bundesfilmpreis 1966) etc. – dafür aber z.B. die ersten Filme der jetzigen Präsidentin der Akademie der Künste Jeanine Meerapfel, die sie während ihres Studiums in Ulm produzierte. Hamburg wurde damals – das muss ich Dir nun wahrlich nicht weiter erklären – für das Experiment und die Erneuerung des deutschen Kurzfilms zeitweilig zum wichtigsten Ort in der BRD.
Das Ganze entbehrt zudem leider nicht einer pikanten Geruchsnote: In der Branche ist
ja bekannt, dass ich mit Rainer Rother unsere stark divergierenden Positionen in zentralen Fragen des Erhalts des deutschen Filmerbes auf den Internetseiten kinematheken.info und Filmerbe-in-Gefahr.de und in der Presse öffentlich diskutiere. Könnte es sein, dass er die Petition ›Filmerbe-in-Gefahr‹ und die öffentliche Diskussion über den richtigen Weg zur Rettung des Filmerbes als aufmüpfige Einmischung in seinen Hoheitsbereich empfindet? Ich möchte der Berlinale
und mir solche Diskussionen über Personen (und nicht über Filme) ersparen, ziehe hiermit offiziell und mit allen Konsequenzen meinen Film Na und...? aus der Retro der Berlinale zurück und verzichte auf eine Teilnahme. Ich möchte mit dieser ›Retrospektive‹ nichts zu tun haben. Na und ?«
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Herbsts berechtigte und interessante, weil allgemeine Frage, lautet: »Wozu und warum gelangen bestimmte Filme in die die Retrospektive des Filmjahres 1966 und andere wichtige Produktionen nicht?«
Herbst folgert in weiteren Schreiben: »Was auf den ersten Blick wie eine – wie auch immer – zustande gekommene 'harmlose« Besichtigung und Neubewertung des Filmjahrgangs 1966 aussieht, ist in Wirklichkeit die Generalprobe für etwas, das die Archive 'Priorisierung'
nennen: D. h. die nach dem 'Arche-Prinzip' (PWC-Gutachten für die FFA) vorzunehmende Auswahl der wenigen Filme, die es wert sind, durch ihre digitale Aufbereitung vor dem Vergessen und dem physischen Zerfall gerettet zu werden. Verantwortlich für die Auswahl der Berlinale-Retrospektive 2016 sind Dr. Rainer Rother und das Retrospektive-Team, bestehend aus seiner Assistentin und Conni Betz, sowie deren Assistentin.
Nie zuvor hatten Archivarinnen und Archivare eine solche Macht.
Durch einfaches Heben oder Senken des Daumens selektieren sie aus dem traurigen Zug von zigtausend Filmtiteln, der an ihnen vorüber defiliert, wer überleben darf und wer nicht. Statistisch gesehen könnte so nach der jetzigen Planung (10 Mio. p.a.) von gut 300 Titeln jeweils nur einer gerettet werden.
Demgegenüber steht die in den Internetforen filmerbe-in-gefahr.de und kinematheken.info artikulierte Forderung nach einer Nationalbibliothek des Filmerbes, die auf HD-Niveau den
von der UNESCO geforderten OPEN ACCESS zu mit öffentlichen Mitteln produziertem Wissen bietet. Die Sichtung und Klassifizierung des Filmerbes und auch die Auswahl der digital in hoher Auflösung zu restaurierenden Filme könnte dann an mehrere Teams von Filmwissenschaftlern an unterschiedlichen Orten delegiert werden.
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Diese Fragen müssen und werden tatsächlich weiter diskutiert werden. Frohe Weihnachten!
(To be continued)