Die 1. artechock-Awards für Qualitätsfilme mit Qualität |
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Filme und Spaghetti satt: Unsere Juroren vergeben verwegene Preise. Hier: Buzzard, Gewinner des Mr. Creosote-Preises | ||
(Foto: Media Luna New Films) |
Von Anna Edelmann & Thomas Willmann
Die offiziellen Preise des Filmfests München 2015 sind vergeben.
Doch was sind schnöder Ruhm und Prämien gegen die Dotierung unserer (höchst subjektiven) Auszeichnungen: Der Gewissheit einer Plakette, die auf Lebenszeit geschraubt bleiben wird an die Wände unserer Herzkämmerlein!
Marty Jackitansky (Joshua Burge) sitzt im weißen Hotel-Bademantel auf dem schneeweißen Hotelbett und hat sich von ergaunertem Geld den teuersten Teller Spaghetti seines Lebens geleistet. Anfangs manierlich beginnt er zu speisen. Doch mit jeder Gabelvoll nimmt seine grinsende Lust am Akt des Essens zu, legt er Beherrschung und Hemmungen ab. Mit jeder Handvoll Nudeln, Sauce, Fleischklopse, mit der er sich selbst das Maul stopft, verwandelt sich das Mahl mehr in ein Massaker. Erst nach Minuten – von der Kamera ohne Regung, ohne Schnitt betrachtet – quittiert er die siegreiche Schlacht mit einem befriedigten, stolzen »Ha!«.
Wenn es diese Szene ist, für die Buzzard die Auszeichnung bekommt – und sich selbst auf den zweiten Platz verweist mit seiner anderen ungeplanten Plansequenz, einem Snackfood-Highscore, serviert am laufenden Heimtrainer-Band –, dann weil sie sich am bewusstesten ergötzt am Spektakel eines Gesichts.
Mit Charisma, Typen und spontanem Witz wettzumachen, was einem an Produktionsmitteln fehlt, gehört zu den ursprünglichen Tugenden des amerikanischen Independent-Kinos. Man weiß, welche Filme (neben dem mehrfach anzitierten A Nightmare on Elm Street & Co.) aus der Hochzeit der American Indies in den 1990ern Joel Potrykus geprägt haben müssen. Aber er imitiert nicht Clerks, eifert nicht Reservoir Dogs nach, paust nicht Down By Law ab – auch wenn Buzzard sich, wäre er damals entstanden, da nahtlos eingereiht hätte. Vielmehr setzt er deren – ja auch mit dem Münchner Filmfest eng verbundene – Tradition heutig und eigen fort.
Wozu auch gehört, dass der Film – bei allem Spiel mit Retro-Elementen, bei aller feixenden Freude am jugendlichen Trickser-Kleinkrieg seines Anti-Helden gegen das Establishment – dann eine entschieden dunkle Wendung nimmt. Und zunehmend die rücksichtslosen, selbstgerechten, verletzenden Seiten der Figur wahrnehmen lässt.
Weswegen wir Buzzard nicht nur den allseits begehrten, vor Renommee fetttriefenden Mr. Creosote-Preis zusprechen – sondern auch die Nischenauszeichnung »Film des Festivals«.
Wird verliehen an Nightsessions, der (obgleich nicht unsympathisch) zwar nicht mehr Gestaltungswillen erkennen lässt als eine rein dokumentarisch anmutende Kameraübung – dafür aber selbst alteingesessene Münchner mit einem verblüffenden Bild ihrer Stadt konfrontiert:
Man steigt hinein in die U1
am Stiglmaierplatz
und wagt darin schon – halb gekonnt -
den ersten Skateboard-Satz.
Sendlinger Tor. Die Rolltrepp' rauf -
U3 bis 6 steht da.
Bringt uns gar flink zum Königsplatz.
Dacht' nicht der wär' so nah!
Es schien sich ein langes, hartes Kopf-an-Kopf-Rennen anzukündigen in dieser Kategorie. Doch dann wurde The Overnight früh disqualifiziert, da er ganz offensichtlich sowohl im Großen wie im Kleinen unlauter das Ergebnis durch Einsatz von Prothesen verfälschte. Tokyo Tribe hingegen war zwar verbal lange Zeit vorne dabei – musste dann aber zurückstecken, als sich am Höhepunkt erwies, dass sein japanischer Gangsta-Rapper in Wahrheit nur ein entsprechendes Defizit zu kaschieren versuchte.
So geht der Preis überraschend eindeutig an Franz Müllers Happy Hour. Und zwar nicht nur, weil dort wirklich blankgezogen wird. Sondern weil es in dessen Nackt-Holzhack-Szene den drei Freunden mittleren Alters genau nicht um den Schwanzvergleich geht, sondern ein andere Art von Entblößung. Man ahnt mit Schaudern, wie jede andere deutsche Film- oder Fernsehkomödie sich dieser Szene und des Themas Männerfreundschaft angenommen hätte. Happy Hour aber opfert nie die Wahrhaftigkeit dem vorgefertigten Gag.
Franz Müller ist einer der großen unbesungenen Helden des deutschen Kinos. Seine Historie mit dem Münchner Filmfest ist so langjährig, wie latent tragisch: 2009 scheiterte Die Liebe der Kinder an den Alters-Regularien des »Förderpreises deutscher Film« – brachte aber die Jury immerhin dazu, lieber keinen Hauptpreis zu verleihen, als ihm den nicht zu geben. 2014 hatte der deutsche Filmbetrieb so sehr Vorrang vor dessen leichtfüßig improvisierter Satire, dass Müllers Worst Case Scenario erst parallel zum diesjährigen Filmfest überhaupt erst einen Mini-Kinostart erfuhr.
In Happy Hour nun flüchten drei deutsche Freunde sich zur »Selbstfindung« nach Irland – nur um dort zu ihrer Verblüffung tatsächlich wieder nur sich selbst zu begegnen, statt einem Sehnsuchts-Ideal. Dabei ist Irland in diesem Film so sehr ein realer Ort, wie auch die Figuren als reale Menschen statt Klischees wirken. Der Humor des Films ist so fein und scharf beobachtet, dass man oft erst lang nach dem Lachen merkt, dass er eine Schnittwunde hinterlassen hat. Und nur weil Happy Hour ein Film über Männerpsychen ist, heißt das nicht, dass die Frauen nur als Männerfantasie und Lebenslektions-Lehrmittel ohne eigenständige Persönlichkeit existieren. Wie sehr einen das überrascht, zeigt wie betrüblich unüblich das im Kino ist. Eigentlich sollte so etwas wie Happy Hour ja keine solche Rarität sein: Ein Film, der einfach Ahnung von Menschen hat.
Dieses Jahr also darf Franz Müller sich endlich berechtigterweise nicht nur über den Förderpreis Neues Deutsches Kino in der Kategorie Beste Produktion (und dessen eher abschreckend klingende Laudatio) freuen, sowie über den noch bedeutenderen Dirk Diggler-Award. Sondern auch über unser Prädikat: »Der andere Film des Festivals«!
Keine Sorge: Die gänzlich untypischen, Menschenwirklichkeit erfassenden Qualitäten von Happy Hour gefährden keineswegs, dass dies auch dieses Jahr die am meisten umkämpfte Kategorie war.
Doch bei aller zahlreicher Konkurrenz, welche die Ideale heutiger deutscher Filmerfolge in den Güllegräben der Fernsehklischee-Flachebene frontverteidigte, kann es nur einen Gewinner geben: Coconut Hero. Der endlich den Beweis erbrachte, dass auch mit kanadischem Setting, englischer Sprache und Anbiederung ans völlig missverstandene amerikanische Indie-Kino die ganze deutsche Misere in unverminderter Unerträglichkeit präsent bleibt.
Seit jeher bedienen sich wirkungsvolle Horrorfilme der tiefsitzenden Ängste des Menschen. Das beweist auch der erste Auftritt der Titelkreatur in Der Nachtmahr:
Schon seit einer halben Stunde schwant einem, dass die Gymnasiastin Tina von einem zunächst gestaltlosen Schrecken heimgesucht wird. Manifestiert sich hier die Panik vor ihrer noch ungefestigten Sexualität, vor der Erkenntnis der eigenen Sterblichkeit, vor dem Versagen in der Gesellschaft – oder gar vor einem uncoolen Musikgeschmack? Nein, der Film kratzt an fundamentaleren Schichten der Psyche!
Wenn Tina schließlich im dunklen Haus bang die Küchentür öffnet und auf dem Boden vor dem halbausgeräumten Kühlschrank inmitten zermatschter Lebensmittel den – ihren – Nachtmahr knurpsend kauern sieht, dann offenbart sich: Dieser tolpatschige E.T. mit seinen kindlichen Glubschaugen verkörpert weder Todes- noch Körperängste.
Sondern die Urfurcht des Deutschen vor unordentlichen Mitbewohnern im Haushalt.
Wie wenig hätte gefehlt, und dieser Preis wäre einmal mehr an Dr. Hauschka gegangen, für seine gelungene olfaktorische Untermalung des diesjährigen Filmfests durch Zitruszypresse!
Gerade bei Togetherness bestand die Gefahr, dass diese Serie sich in seiner vierstündigen Gesamtheit einfach als vollwertiges neues Werk der Duplass-Brüder stimmig in die Independent-Reihe eingefügt hätte. Doch zum Glück konnte der Sponsor durch konsequente Beschränkung auf wenige Episoden-Kostproben noch verhindern, dass jemand das (hiermit ausgezeichnete) »Serien Special« für einen veritablen Teil des Festivals hält, der die mittlerweile unleugbare künstlerische Bedeutung von Fernseh-Arbeiten würdigt – statt für die übliche Abonennten-Akquise.
Bedauerlicherweise gibt es in dieser Kategorie – trotz der hohen Dotierung – erneut keinen Gewinner.
Lange setzten wir unsere diesjährigen Hoffnungen in Herrn Raimund Babbitt, dem es als erstem gelang, ohne Nachschlagen plausibel die Definitionen und Unterschiede der Sektionen CineVision, CineLights, CineMasters, International Independents und Spotlight zu bennen.
Leider aber scheiterte auch er an der Aufgabe, zehn zufällig ausgewählte Filmfest-Filme fehlerlos ihrer jeweils offiziellen Reihe zuzuordnen.
Es wird deshalb erwogen, für nächstes Jahr die Regularien dahingehend zu ändern, dass allein durch Anschauen Filme korrekt zwischen »Neues Deutsches Kino« und »Neues Deutsches Fernsehen« zu unterscheiden sind.
Die Jury würde nie behaupten, sie hätte Abel Ferraras Pasolini wirklich verstanden. Die Jury würde dem City-Kino keinesfalls unterstellen, dass es die Sauerstoffzuführung bei der Nachtvorstellung mutwillig gedrosselt hätte. Die Jury würde nimmermehr zugeben, dass sie zu 50% möglicherweise die ein oder andere Hälfte dieses Films nicht im klassischen Sinne »gesehen« hat.
Doch die Jury wird auf ewig die Ansicht verteidigen, dass sie die Essenz dieses oneirischen Films dennoch wahrgenommen hat – und mehr verinnerlicht als manch mit wachem Auge Betrachtetes.
Wir ermutigen mit dieser Auszeichnung Genossin Ann Hui, auch noch die letzten Ketten ihres gefährlichen Individualismus' abzulegen und jene Tendenzen weiter zu verfolgen, die ihr erlaubt haben, in The Golden Era das Leben unserer ehrenvollen Dichter-Genossin Hong Xiao so lehrreich und mit nur noch wenigen zersetzenden Zweifeln zu zelebrieren.
Und wir belobigen Genossen Tsui Hark, dass er bestrebt ist, sein ehrenwertes Handwerk von kosmopolitischen Einflüssen zu reinigen, und es in den Dienst der Volksfamilie zu stellen. Sein The Taking Of Tiger Mountain 3D ist exemplarisch und explizit geeignet, den jungen, mit der Arbeit an der Zukunft unserer Nation betrauten Genossen den Irrweg westlicher Werte, Ästhetiken und Handlungen vorzuführen. Und ihre wahre Wesensentsprechung in den schon zu Zeiten der glanzvollen Kulturrevolution als Modell-Peking Opern einzig gerühmten und erlaubten Stoffe zu suchen.
Der Preis geht ex aequo an:
Miguel Gomes' Film-Triptychon Arabian Nights – das, wenn auch überlang und mit je nach Episode schwankendem Erfolg, so doch aufrichtig versucht, eine nicht einfach sozialrealistische Form und Stimme zu finden, um in Zeiten des EU-Sadomonetarismus künstlerisch auf die Wirklichkeit in seinem Heimatland Portugal zu reagieren.
99 Homes von Ramin Bahrani – der sehr eindrücklich die vergleichsweise einfache Aufgabe bewältigt, einen die Empörung über Zwangsenteignungen durch Immobilien-Spekulanten spüren zu lassen. Dann aber auch die spannendere Wendung wagt, einen auf die Gegenseite mitzunehmen, und einen dort fast der Verführung durch Zwang, Macht und Geld erliegen lässt.
Geht an jenen Ehrengast, der es sich nicht nehmen ließ, sich auf jeder Festival-Tasche zu entschuldigen – obwohl der Grund für sein Fernbleiben mehr als einleuchtend war:
»Sorry I can’t come« – Gezeichnet: Andy Warhol.