09.07.2015

Die 1. artechock-Awards für Quali­täts­filme mit Qualität

Buzzard
Filme und Spaghetti satt: Unsere Juroren vergeben verwegene Preise. Hier: Buzzard, Gewinner des Mr. Creosote-Preises
(Foto: Media Luna New Films)

Edelmann und Willmann erhöhen die Preise

Von Anna Edelmann & Thomas Willmann

Die offi­zi­ellen Preise des Filmfests München 2015 sind vergeben.

Doch was sind schnöder Ruhm und Prämien gegen die Dotierung unserer (höchst subjek­tiven) Auszeich­nungen: Der Gewiss­heit einer Plakette, die auf Lebens­zeit geschraubt bleiben wird an die Wände unserer Herz­käm­mer­lein!

Der Mr. Creosote-Preis für Kulinarik im Kino

Marty Jacki­tansky (Joshua Burge) sitzt im weißen Hotel-Bade­mantel auf dem schnee­weißen Hotelbett und hat sich von ergau­nertem Geld den teuersten Teller Spaghetti seines Lebens geleistet. Anfangs manier­lich beginnt er zu speisen. Doch mit jeder Gabelvoll nimmt seine grinsende Lust am Akt des Essens zu, legt er Beherr­schung und Hemmungen ab. Mit jeder Handvoll Nudeln, Sauce, Fleisch­klopse, mit der er sich selbst das Maul stopft, verwan­delt sich das Mahl mehr in ein Massaker. Erst nach Minuten – von der Kamera ohne Regung, ohne Schnitt betrachtet – quittiert er die sieg­reiche Schlacht mit einem befrie­digten, stolzen »Ha!«.

Wenn es diese Szene ist, für die Buzzard die Auszeich­nung bekommt – und sich selbst auf den zweiten Platz verweist mit seiner anderen unge­planten Plan­se­quenz, einem Snackfood-Highscore, serviert am laufenden Heim­trainer-Band –, dann weil sie sich am bewuss­testen ergötzt am Spektakel eines Gesichts.

Mit Charisma, Typen und spontanem Witz wett­zu­ma­chen, was einem an Produk­ti­ons­mit­teln fehlt, gehört zu den ursprüng­li­chen Tugenden des ameri­ka­ni­schen Inde­pen­dent-Kinos. Man weiß, welche Filme (neben dem mehrfach anzi­tierten A Nightmare on Elm Street & Co.) aus der Hochzeit der American Indies in den 1990ern Joel Potrykus geprägt haben müssen. Aber er imitiert nicht Clerks, eifert nicht Reservoir Dogs nach, paust nicht Down By Law ab – auch wenn Buzzard sich, wäre er damals entstanden, da nahtlos einge­reiht hätte. Vielmehr setzt er deren – ja auch mit dem Münchner Filmfest eng verbun­dene – Tradition heutig und eigen fort.

Wozu auch gehört, dass der Film – bei allem Spiel mit Retro-Elementen, bei aller feixenden Freude am jugend­li­chen Trickser-Klein­krieg seines Anti-Helden gegen das Estab­lish­ment – dann eine entschieden dunkle Wendung nimmt. Und zunehmend die rück­sichts­losen, selbst­ge­rechten, verlet­zenden Seiten der Figur wahr­nehmen lässt.

Weswegen wir Buzzard nicht nur den allseits begehrten, vor Renommee fett­trie­fenden Mr. Creosote-Preis zuspre­chen – sondern auch die Nischen­aus­zeich­nung »Film des Festivals«.

Der Fredl Fesl Taxi­fahrten-Preis für topo­gra­phi­sche Abson­der­lich­keit

Wird verliehen an Night­ses­sions, der (obgleich nicht unsym­pa­thisch) zwar nicht mehr Gestal­tungs­willen erkennen lässt als eine rein doku­men­ta­risch anmutende Kame­raü­bung – dafür aber selbst altein­ge­ses­sene Münchner mit einem verblüf­fenden Bild ihrer Stadt konfron­tiert:

Man steigt hinein in die U1

am Stigl­mai­er­platz

und wagt darin schon – halb gekonnt -

den ersten Skate­board-Satz.

Send­linger Tor. Die Rolltrepp' rauf -

U3 bis 6 steht da.

Bringt uns gar flink zum Königs­platz.

Dacht' nicht der wär' so nah!

Der Dirk Diggler-Preis für anato­mi­sche Kompa­ra­tistik

Es schien sich ein langes, hartes Kopf-an-Kopf-Rennen anzu­kün­digen in dieser Kategorie. Doch dann wurde The Overnight früh disqua­li­fi­ziert, da er ganz offen­sicht­lich sowohl im Großen wie im Kleinen unlauter das Ergebnis durch Einsatz von Prothesen verfälschte. Tokyo Tribe hingegen war zwar verbal lange Zeit vorne dabei – musste dann aber zurück­ste­cken, als sich am Höhepunkt erwies, dass sein japa­ni­scher Gangsta-Rapper in Wahrheit nur ein entspre­chendes Defizit zu kaschieren versuchte.

So geht der Preis über­ra­schend eindeutig an Franz Müllers Happy Hour. Und zwar nicht nur, weil dort wirklich blank­ge­zogen wird. Sondern weil es in dessen Nackt-Holzhack-Szene den drei Freunden mittleren Alters genau nicht um den Schwanz­ver­gleich geht, sondern ein andere Art von Entblößung. Man ahnt mit Schaudern, wie jede andere deutsche Film- oder Fern­seh­komödie sich dieser Szene und des Themas Männer­freund­schaft ange­nommen hätte. Happy Hour aber opfert nie die Wahr­haf­tig­keit dem vorge­fer­tigten Gag.

Franz Müller ist einer der großen unbe­sun­genen Helden des deutschen Kinos. Seine Historie mit dem Münchner Filmfest ist so lang­jährig, wie latent tragisch: 2009 schei­terte Die Liebe der Kinder an den Alters-Regu­la­rien des »Förder­preises deutscher Film« – brachte aber die Jury immerhin dazu, lieber keinen Haupt­preis zu verleihen, als ihm den nicht zu geben. 2014 hatte der deutsche Film­be­trieb so sehr Vorrang vor dessen leicht­füßig impro­vi­sierter Satire, dass Müllers Worst Case Scenario erst parallel zum dies­jäh­rigen Filmfest überhaupt erst einen Mini-Kinostart erfuhr.

In Happy Hour nun flüchten drei deutsche Freunde sich zur »Selbst­fin­dung« nach Irland – nur um dort zu ihrer Verblüf­fung tatsäch­lich wieder nur sich selbst zu begegnen, statt einem Sehn­suchts-Ideal. Dabei ist Irland in diesem Film so sehr ein realer Ort, wie auch die Figuren als reale Menschen statt Klischees wirken. Der Humor des Films ist so fein und scharf beob­achtet, dass man oft erst lang nach dem Lachen merkt, dass er eine Schnitt­wunde hinter­lassen hat. Und nur weil Happy Hour ein Film über Männer­psy­chen ist, heißt das nicht, dass die Frauen nur als Männer­fan­tasie und Lebens­lek­tions-Lehr­mittel ohne eigen­s­tän­dige Persön­lich­keit exis­tieren. Wie sehr einen das über­rascht, zeigt wie betrüb­lich unüblich das im Kino ist. Eigent­lich sollte so etwas wie Happy Hour ja keine solche Rarität sein: Ein Film, der einfach Ahnung von Menschen hat.

Dieses Jahr also darf Franz Müller sich endlich berech­tig­ter­weise nicht nur über den Förder­preis Neues Deutsches Kino in der Kategorie Beste Produk­tion (und dessen eher abschre­ckend klingende Laudatio) freuen, sowie über den noch bedeu­ten­deren Dirk Diggler-Award. Sondern auch über unser Prädikat: »Der andere Film des Festivals«!

Der Til Schweiger-Preis für den Erhalt Deutscher Film­kultur

Keine Sorge: Die gänzlich unty­pi­schen, Menschen­wirk­lich­keit erfas­senden Quali­täten von Happy Hour gefährden keines­wegs, dass dies auch dieses Jahr die am meisten umkämpfte Kategorie war.

Doch bei aller zahl­rei­cher Konkur­renz, welche die Ideale heutiger deutscher Film­erfolge in den Gülle­gräben der Fern­seh­kli­schee-Flach­ebene front­ver­tei­digte, kann es nur einen Gewinner geben: Coconut Hero. Der endlich den Beweis erbrachte, dass auch mit kana­di­schem Setting, engli­scher Sprache und Anbie­de­rung ans völlig miss­ver­stan­dene ameri­ka­ni­sche Indie-Kino die ganze deutsche Misere in unver­min­derter Uner­träg­lich­keit präsent bleibt.

Der Adson von Melk-Küchen­szenen-Preis für wenn der kleine Hunger kommt

Seit jeher bedienen sich wirkungs­volle Horror­filme der tief­sit­zenden Ängste des Menschen. Das beweist auch der erste Auftritt der Titel­kreatur in Der Nachtmahr:

Schon seit einer halben Stunde schwant einem, dass die Gymna­si­astin Tina von einem zunächst gestalt­losen Schrecken heim­ge­sucht wird. Mani­fes­tiert sich hier die Panik vor ihrer noch unge­fes­tigten Sexua­lität, vor der Erkenntnis der eigenen Sterb­lich­keit, vor dem Versagen in der Gesell­schaft – oder gar vor einem uncoolen Musik­ge­schmack? Nein, der Film kratzt an funda­men­ta­leren Schichten der Psyche!

Wenn Tina schließ­lich im dunklen Haus bang die Küchentür öffnet und auf dem Boden vor dem halbaus­geräumten Kühl­schrank inmitten zermatschter Lebens­mittel den – ihren – Nachtmahr knurpsend kauern sieht, dann offenbart sich: Dieser tolpat­schige E.T. mit seinen kind­li­chen Glub­schaugen verkör­pert weder Todes- noch Körperängste.

Sondern die Urfurcht des Deutschen vor unor­dent­li­chen Mitbe­woh­nern im Haushalt.

Der Don Draper-Award für die schönsten Dauer­wer­be­sen­dungen

Wie wenig hätte gefehlt, und dieser Preis wäre einmal mehr an Dr. Hauschka gegangen, für seine gelungene olfak­to­ri­sche Unter­ma­lung des dies­jäh­rigen Filmfests durch Zitrus­zy­presse!

Gerade bei Toge­ther­ness bestand die Gefahr, dass diese Serie sich in seiner vier­stün­digen Gesamt­heit einfach als voll­wer­tiges neues Werk der Duplass-Brüder stimmig in die Inde­pen­dent-Reihe eingefügt hätte. Doch zum Glück konnte der Sponsor durch konse­quente Beschrän­kung auf wenige Episoden-Kost­proben noch verhin­dern, dass jemand das (hiermit ausge­zeich­nete) »Serien Special« für einen veri­ta­blen Teil des Festivals hält, der die mitt­ler­weile unleug­bare künst­le­ri­sche Bedeutung von Fernseh-Arbeiten würdigt – statt für die übliche Abonennten-Akquise.

Der John Nash-Memorial-Award für heraus­ra­gende mentale Leis­tungen

Bedau­er­li­cher­weise gibt es in dieser Kategorie – trotz der hohen Dotierung – erneut keinen Gewinner.

Lange setzten wir unsere dies­jäh­rigen Hoff­nungen in Herrn Raimund Babbitt, dem es als erstem gelang, ohne Nach­schlagen plausibel die Defi­ni­tionen und Unter­schiede der Sektionen CineVi­sion, CineLights, CineMas­ters, Inter­na­tional Inde­pend­ents und Spotlight zu bennen.

Leider aber schei­terte auch er an der Aufgabe, zehn zufällig ausge­wählte Filmfest-Filme fehlerlos ihrer jeweils offi­zi­ellen Reihe zuzu­ordnen.

Es wird deshalb erwogen, für nächstes Jahr die Regu­la­rien dahin­ge­hend zu ändern, dass allein durch Anschauen Filme korrekt zwischen »Neues Deutsches Kino« und »Neues Deutsches Fernsehen« zu unter­scheiden sind.

Der Edgar Allan Poe-»Dream Within a Dream«-Preis für das berei­cherndste Kino­er­lebnis im Halb­schlaf

Die Jury würde nie behaupten, sie hätte Abel Ferraras Pasolini wirklich verstanden. Die Jury würde dem City-Kino keines­falls unter­stellen, dass es die Sauer­stoff­zu­füh­rung bei der Nacht­vor­stel­lung mutwillig gedros­selt hätte. Die Jury würde nimmer­mehr zugeben, dass sie zu 50% mögli­cher­weise die ein oder andere Hälfte dieses Films nicht im klas­si­schen Sinne »gesehen« hat.

Doch die Jury wird auf ewig die Ansicht vertei­digen, dass sie die Essenz dieses onei­ri­schen Films dennoch wahr­ge­nommen hat – und mehr verin­ner­licht als manch mit wachem Auge Betrach­tetes.

Die glor­reiche Mao Zedong-Ehren­nadel für verdientes kine­ma­to­gra­phi­sches Volks­schaffen zu Ehren und Gedeihen der chine­si­schen Natio­nal­iden­tität

Wir ermutigen mit dieser Auszeich­nung Genossin Ann Hui, auch noch die letzten Ketten ihres gefähr­li­chen Indi­vi­dua­lismus' abzulegen und jene Tendenzen weiter zu verfolgen, die ihr erlaubt haben, in The Golden Era das Leben unserer ehren­vollen Dichter-Genossin Hong Xiao so lehrreich und mit nur noch wenigen zerset­zenden Zweifeln zu zele­brieren.

Und wir belobigen Genossen Tsui Hark, dass er bestrebt ist, sein ehren­wertes Handwerk von kosmo­po­li­ti­schen Einflüssen zu reinigen, und es in den Dienst der Volks­fa­milie zu stellen. Sein The Taking Of Tiger Mountain 3D ist exem­pla­risch und explizit geeignet, den jungen, mit der Arbeit an der Zukunft unserer Nation betrauten Genossen den Irrweg west­li­cher Werte, Ästhe­tiken und Hand­lungen vorzu­führen. Und ihre wahre Wesens­ent­spre­chung in den schon zu Zeiten der glanz­vollen Kultur­re­vo­lu­tion als Modell-Peking Opern einzig gerühmten und erlaubten Stoffe zu suchen.

Der Wolfgang Schäuble-Preis für verhee­rende Austerität

Der Preis geht ex aequo an:

Miguel Gomes' Film-Tripty­chon Arabian Nights – das, wenn auch überlang und mit je nach Episode schwan­kendem Erfolg, so doch aufrichtig versucht, eine nicht einfach sozi­al­rea­lis­ti­sche Form und Stimme zu finden, um in Zeiten des EU-Sado­mo­ne­ta­rismus künst­le­risch auf die Wirk­lich­keit in seinem Heimat­land Portugal zu reagieren.

99 Homes von Ramin Bahrani – der sehr eindrück­lich die vergleichs­weise einfache Aufgabe bewältigt, einen die Empörung über Zwangs­ent­eig­nungen durch Immo­bi­lien-Speku­lanten spüren zu lassen. Dann aber auch die span­nen­dere Wendung wagt, einen auf die Gegen­seite mitzu­nehmen, und einen dort fast der Verfüh­rung durch Zwang, Macht und Geld erliegen lässt.

Der Adolph Freiherr Knigge-Preis für exem­pla­ri­sche Höflich­keit

Geht an jenen Ehrengast, der es sich nicht nehmen ließ, sich auf jeder Festival-Tasche zu entschul­digen – obwohl der Grund für sein Fern­bleiben mehr als einleuch­tend war:

»Sorry I can’t come« – Gezeichnet: Andy Warhol.