72. Filmfestspiele von Venedig 2015
Die Kunst, das Erzählen dreckig zu machen... |
![]() |
|
11 Minutes: Jerzy Skolimowskis Meisterwerk | ||
(Foto: crew united) |
Paolo Luigi De Cesare kenne ich seit Jahren. Man trifft sich immer nach den Filmen an der »Maleti«-Bar, die in den letzten zwei Jahren langweiliger und schlechter geworden war, die das aber offenbar selbst gemerkt hat und sich diesmal erkennbar Mühe gibt, nett zu sein, und ihren Gästen das Gefühl der Wertschätzung zu geben.
Heute sind Paolo und ich uns zufällig im Palazzo del Cinema über den Weg gelaufen. Paolo sitzt in diversen Filmkommissionen, kennt Gott und die Welt, zumindest
in Italien, und leitet die »Docservice Factory« in Turin. Er nennt sich einen »Economista di festival«, er meint, er verstehe nicht viel von Filmen, aber viel davon, wie man sie verkaufen kann. Und es dauerte nicht lang, da entwickelte er nach wenigen Minuten seine These von der »Krise des Kinos, das für Festivals wie dieses produziert wird.« »Dass liegt daran«, meint er, »dass die Filmemacher
Angst vor Crossmedia haben.« Man habe Angst sich die Hände schmutzig zu machen, und sich mit den »Wiki-Techniken« zu befassen. »Weil Regisseure nicht unlinear arbeiten wollen.« Interessante These.
Ich empfehle ihm den neuen Film von Skolimowski. Das ist ein unlinearer Film par excellence. Nimmt man nur diesen Film, dann zumindest kann von einer Krise des Festivalkinos keine Rede sein.
+ + +
Ein Polizist frisch verheiratet, der auf seine Frau eifersüchtig ist. Eine Schauspielerin. Ein Schüler, der ein Verbrechen plant. Ein ehemaliger Professor, der im Gefängnis war und jetzt Hot Dogs verkauft. Eine Schwangere. Ein Drogendealer, der auf dem Motorrad zu seinen Kunden fährt. Eine Psychopathin mit Schäferhund. Eine Nonne. Ein Fensterputzer. Eine Ärztin. Ein Regisseur. Ein Hotelportier. Und viele andere. Deren Schicksal wird vernetzt in diesem Film, der 81 Minuten
dauert, aber nur von elf Minuten erzählt.
Am Himmel zeigt sich ein sonderbarer schwarzer Punkt, genauso wie auf einem Computerbildschirm als Pixelfehler, wie auf einem Gemälde als Tuschefleck. Genauso wie ein landendes Flugzeug, das bedrohlich niedrig scheinbar mitten durch Warschau anfliegt und eine Taube, die irgendwann durchs Fenster flattert und gegen einen Spiegel kracht, ist er Vorschein der kommenden Katastrophe.
+ + +
Jerzy Skolimowski (Essential Killing) ist Existentialist. Er erzählt vom Leben als Vorlaufen zum Tode. Denn es ist schnell klar, dass all diese erwähnten Menschen und einige andere in 11 Minutes miteinander verwoben werden, dass ihre Leben sich kreuzen werden: Die Schauspielerin ist die Frau des Polizisten. Sie geht zum Casting eines amerikanischen Regisseurs in ein Luxus-Hotel. Ihr Mann folgt ihr. Skolimowski nimmt sich zunächst viel Zeit, verdichtet dann immer mehr bis zu einem absurden Finale, bei dem durch einen Unfall und eine Kettenreaktion, die verschiedenste Ereignisse verbindet, die meisten der Erwähnten ums Leben kommen – von Skolimowski genüsslich im Wechsel aus Schnittgewittern und Zeitlupe erzählt.
+ + +
Skolimowski ist auch Witzbold und Hysteriker. Und so sind seine Filme. 11 Minutes ist reines Hysteriekino, und die Männer sind hier noch hysterischer als die Frauen. Alles ist ein bisschen over the top, alles bleibt zugleich fast realistisch, wobei es natürlich ungemein konstruiert ist. Short
Cuts, aber ohne die Gelassenheit und den Swing Altmans. Doch selbst in Short Cuts, remember, gibt es am Ende ein Erdbeben.
Bis es zum Finale kommt, werden wir Zeuge eines Sittenbildes: Der Regisseur zeigt uns fast ausschließlich Menschen, die in irgendeiner Form sündigen, oder gesündigt haben, die lügen, betrügen, Drogen nehmen, eigensüchtig sind, narzisstisch. Eine Ausnahme bilden
drei Nonnen am Hot Dog Stand. Man hat hier aber nie den Eindruck, Skolimowski wolle verurteilen. Ihm geht es eher um einen illusionslosen Blick auf die Dinge, um ein sarkastisches »so ist das Leben.« Dazu gehören auch schlechte Witze: Der Regisseur, der es offenkundig auf die sexuellen Reize der Schauspielerin abgesehen hat, stellt sich vor mit dem Satz: »My name is Richard. But you can call me Dick.« Ein Kellner, der Essen bringt, nascht im Aufzug von dem Teller. Und so fort.
Es
geht dabei auch um »große Themen«: Geburt und Tod, Eltern und Kinder, Liebe. Sie werden aber gebrochen: Ein Selbstmord durch Sprung von einer Brücke, der sich im nachhinein als Filmstunt entpuppt. Eine Ambulanz, die zunächst einmal von Hooligans in eine Schlägerei verwickelt wird.
Ein zentrales Mittel Skolimowskis ist dabei die Wiederholung einzelner Szenen oder ihrer Teile, oft aber nicht immer aus anderer Einstellung. Das Ergebnis ist neben Verdichtung die
Multiperspektivität. Dass die Montage exzellent ist, muss man da kaum dazusagen.
Die Tonspur ist großartig. Auffallend, wie viele Filme in Venedig dieses Jahr den Ton als Mittel wiederentdecken und aufwerten.
+ + +
11 Minutes ist ein Film über die Macht des Zufalls. Immer wieder erlebt man beim Zuschauen ein »fast«! Fast wäre der Junge ausgestiegen, fast wäre das Motorrad losgefahren.
Man kann trotzdem Schuldfragen stellen: Wer hat Schuld an der Katastrophe? Der Hotelportier mal wieder, weil er einem gestressten Mann aus übertriebenem Sicherheitsverständnis nicht eine Zimmernummer
verrät, und dadurch zu einer Panikreaktion treibt. Die Firma, die ein Geländer nicht richtig montiert hat, wodurch zwei Personen aus einem hohen Stockwerk herabstürzen, und im Fallen... Skolimowski zeigt uns, dass solche Überlegungen ins Nichts führen und sinnlos sind.
Am Ende wird die Musik immer schneller und lauter, das letzte Bild immer kleiner, löst sich in ein Bild von einer Überwachungskamera auf, das neben vielen Bildern steht, und die Leinwand zeigt erst die 4x4, 8x8,
12x12, und irgendwann ist es in einem Bilderrauschen nur noch rechts oben ein kleiner schwarzer Punkt...
+ + +
Einmal mehr also ist ein Film von Jerzy Skolimowski purer Rock'n' Roll. Der Regisseur zeigt Kino als hysterische Schicksalsmaschine, und hat zugleich offenkundig viel Spaß gehabt. »He fools you, he fucks with you«, sagt Richard Lormand, einer der sympathischsten Presseagenten, direkt nach der Vorführung. Stimmt! Zwar ist das alles irgendwie auch nur ein Joke, aber ein genialer. Und vor allem ist es pures Kino. Skolimowski erinnert uns daran, was wir zu oft vergessen, was Kino am
Ende wirklich ist: Manipulation, Fetischismus, Schönheit.
Wahrheit auch, aber im Kino geht es um eine Wahrheit anderer Art.
+ + +
Natürlich ist Skolimowski ein Outsider. Für mich der unpolnischste Regisseur, den ich kenne. Skolimowskis Sachen sind das Gegenteil von Wajda und seinen Schülern. Aber er ist nicht nur in Polen ein Outsider.
+ + +
Outsiderin ist auch Laurie Anderson. Kaum zu glauben, dass sie einen Film gemacht hat, dreißig Jahre nach Home of the Brave, den ich nur vom Hörensagen kenne: Heart of a Dog müsste zwar nicht unbedingt im Wettbewerb laufen, aber dass es das tut, ist auch nicht schlimm. Anfangs hatte ich den Eindruck, es sei nur wieder so ein typisches Hipsterding. Aber keineswegs.
Ein Essayfilm, der Dinge verbindet, die mich gar nicht interessieren – Andersons Hund Lolabelle oder die tibetanisch-buddhistischen Lebensansichten der Künstlerin – mit Dingen, die mich sehr interessieren: Andersons Biographie, die gesellschaftlich-politische Verfassung der USA und die Frage, wie Erinnerung und Erzählung funktionieren, wie man erzählt, ob es ein richtiges Erzählen gibt. Das Ergebnis ist in seinen besten Momenten wie von Chris Marker, dessen
poetische Dichte und intellektuelle Schärfe Anderson dann aber doch selten erreicht. Immerhin entwickelt der Filmen seinen Sog.
Der Kommentar, den Anderson logischerweise selber spricht, hat die Form eines Tagebuchs, das sich gelegentlich in die Perspektive des Hundes hineinversetzt, und enthält ziemlich viel Verschrobenes oder Banales oder Pseudobedeutsames: »What are days for? To wake us up. What are nights for? To fall some time into another world.« Aber es gibt auch gute
Witze, zum Beispiel über die Homeland Security, und die Geschichte (wenn wir sie glauben dürfen), wie Anderson als Zwölfjährige ihre beiden ins Wintereis eingebrochenen Zwillingsbrüder nacheinander durch Tauchen aus dem kalten See wieder herausfischte. Und dann sagt sie (verbunden mit einer Begründung, die ich hier jetzt unmöglich wiedergeben kann) einige der klügsten Sätze, die ich seit langer Zeit über das Erzählen gehört habe: »The crucial thing about storytelling: Every time
you tell it, you forget it more. You clean everything up.« Storytelling habe mit Vergessen zu tun.
+ + +
Was man aus Andersons Film lernen kann: Es kommt unbedingt darauf an, das Erzählen dreckig und unrein zu machen, rau und wild.
+ + +
»Beauty and memory are similar«, sagt Orhan Pamuk, der türkische Literaturnobelpreisträger. Ich glaube sogar, es geht im Leben am Ende nur um Schönheit. Die entscheidende Frage ist eher, was man schön findet.
+ + +
Pamuks Satz hätte auch Wong Kar-wai sagen können. Ob er wohl Pamuks Romane und das »Museum der Unschuld« kennt? Von Wong hätte man sich jedenfalls eine Verfilmung dieses Buches gewünscht.
Dies ist ein Liebesroman, über die Natur der Liebe, ein Roman über Erinnerung und Schönheit, ein Roman über das Glück. Nicht nur ich, auch der Kollege Daniel Kothenschulte hat sofort an Wong Kar-wai gedacht, bei diesem Stoff. Darin geht es um den Kosmos des Fetischismus, der Verschmelzung von
Menschen und Gefühlen mit Objekten, und um die Magie der Dinge. Ohne Dinge sei keine Erinnerung möglich, sagt Pamuk, der für viele kluge Sätze gut ist, wenn man mit ihm, wie ich gestern vormittag, eine halbe Stunde am Tisch sitzen und plaudern darf.
»Beauty and memory are similar« ist so einer dieser Sätze, die mir besonders gefallen, längst ist Pamuk auch so etwas wie der inoffizielle Stadthistoriker von Istanbul geworden, und damit der Historiker eines Gegenentwurfs zur offiziellen Türkei. Seinen Büchern, besonders dem »Museum der Unschuld« und seiner Biographie »Istanbul« gelingt mit Worten das, was der über achtzigjährige Photograph Ara Güler mit seinen über zwei Millionen Bildern gemacht hat: Ein Mosaik aus
Eindrücken und Fragmenten zu einer kollektiven Erinnerung zu formen, die ebenso real ist wie natürlich erfunden.
Pamuk kämpft gegen die Zerstörung des Gedächtnisses und der historischen Stadtelemente als eines Index persönlicher Erinnerungen. »Whatever I have done, this city made me.«
Es geht in alldem auch um Hüsun, jene spezielle türkische Melancholie, von der einem in Istanbul irgendwann jeder erzählt, und von der zumindest die Türken glauben, dass sie einzigartig und
dem Fremden letztlich unvermittelbar sei. Sie meint die Warnung vor zuviel Glück, und die Resignation vor aller Vollendung.
+ + +
Gegenstand von Grant Gees Film ist das Buch »Das Museum der Unschuld«, das Pamuk 2008 schrieb. Der Roman inspirierte den Bau eines echten Museums nach dem im Roman erdachten. Jetzt hat sich davon der Brite Gee inspirieren lassen: Innocence of Memories heißt sein Dokumentaressay, der ein Portrait der Stadt Istanbul ebenso ist, wie des Museums und ein wenig auch des Schriftstellers Pamuk. Der Nobelpreisträger hat nicht nur mitgearbeitet, er stellte den Film persönlich in Venedig vor.
+ + +
Die gegenwärtige Lage in der Türkei ist dazu denkbar unpassend. Jeden Tag gibt es derzeit Dutzende von Toten – man sich nur Sorgen machen: Während innenpolitisch jeden Tag weitere demokratische Spielregeln außer Kraft gesetzt werden, und der geschwächte Präsident hofft, durch zynische Kriegsspiele die Wähler wieder hinter sich zu versammeln, zeigt die PKK, dass sie auch noch da ist. Man sieht den neueren türkischen Filmen, zumal dem von Emin Alper im Wettbewerb, über den
wir morgen schreiben, die Herkunft aus diesem angespannten Terrain durchaus an.
Gerade dieses Wissen und dieser Hintergrund lassen Innocence of Memoires so eskapistisch wirken. Dies ist kein unangenehmer Film, er ist sogar oft schön. Aber in seiner so weltflüchtigen wie touristischen Grundhaltung passt er einfach nicht in die derzeitige Landschaft, und da nicht nur in der Türkei alles politisch ist, hat dieser Film den Beigeschmack von Ausweichen. Er
stammt allerdings auch nicht von einem türkischen Regisseur.
+ + +
Dem Genie Pamuks fügt Gee kaum etwas hinzu. Auch nichts Schlechtes. Er bebildert, filmt ab, und das ist manchmal gut, und manchmal oberflächlich, leider oft etwas banal in seiner Haltung des Nacherzählens. Die Aussage, dass dieser Film gut konsumierbar ist, enthält alles: Sein Potential und seine Grenzen.
Frauenfeindlich muss man Film wie Buch nicht finden. Kann man natürlich, und manchen ging es so. Aber dann kann man Ähnliches selbst Hitchcock, Antonioni und Wong Kar-wai
vorwerfen. Natürlich ist ihr Frauenbild das der Frau als eines fetischistisch aufgeladenen Objektes. Aber wo liegt hier das Problem? Die Antwort hierauf müsste nicht heißen, Männern zu verbieten, so auf Frauen zu blicken, sondern Frauen ihren Blick auf Männer zu ermöglichen. Dann wäre es wohl auch leichter zu beantworten, ob Pamuks Konstellation des liebesschmachtenden Kemal und der angebeteten Füsun nicht eigentlich ein Wunschtraum vieler Frauen ist: Dass ein Mann so leidet,
dass ein Mann so liebt?
+ + +
Ein Highlight der wichtigsten Nebensektion »Orrizonti« ist der brasilianische Film Mate-me por favor Anita Rocha de Silveira – eine Art Spring Breakers auf Brasilianisch. Ein Mann hätte diesen Film über eine Handvoll fünfzehnjähriger Freundinnen in einer Trabantenstadt von Rio de Janeiro nie machen dürfen: Zu hübsch sind die Mädchen, zu fetischistisch
und verführerisch ihre Inszenierung, und was über sie erzählt wird und was sie tun, das finden bestimmt ganz viele »reine Männerphantasien«. Nur, dass die hier von einer Frau stammen. Klar, eine gendertheoretisch aufgeklärte FilmkritikerIn wie ich weiß natürlich, dass das gar kein Grund ist, dass es sich nicht doch um eine Männerphantasie handeln könnte. Vielleicht stimmt es ja aber auch, und die Regisseurin erzählt – wie sie angibt – einfach von Erlebnissen ihrer
eigenen Jugend.
Das Thema des Films – Erwachsenwerden – und seine Handlung – ein paar Schülerinnen erleben die üblichen Dinge mit Jungs, Eltern, Klassenkameraden und miteinander, und das vor dem Hintergrund einer brutalen Mordserie, der junge Mädchen zum Opfer fallen – sind hier gar nicht die Hauptsache: Es ist die Erzählweise, die mit Ruhe und Sorgfalt den Kosmos von Fünfzehnjährigen ebenso entfaltet, wie dessen Absurditäten. Anita Rocha de Silveira
erzählt emotional, sie erzählt von Erfahrungen und Ängsten und Faszinationen, und sie tut dies direkt, unmittelbar.
Die Bilder sind oft ruhig, aber nicht langsam. Sie zeigen immer Neues und sie erzählen mehr, als sie zeigen. Zugleich lebt der Film von seinen völlig unbekannten, sehr begabten und wie gesagt besonders hübschen Hauptdarstellerinnen: Valentina Herszage, Mari Oliveira, Júlia Roliz, Dora Freind.
+ + +
Mate-me por favor ist trotz seiner mitunter cleanen Bilder ein perfektes Beispiel für die Kunst, das Erzählen dreckig zu machen. Unnötig zu sagen, dass das seiner Schönheit keinen Abbruch tut.
(to be continued)