72. Filmfestspiele von Venedig 2015
Ist Geschmack nur eine Frage des Geschmacks? |
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Charlie Kaufmanns Anomalisa ist bislang Favorit von Susan Vahabzadeh | ||
(Plakat: Paramount Pictures Germany GmbH) |
a»Wären wir bereit für härteren Stoff?« – Verena Lueken, FAZ vom 7.9.15
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CIAK (sprich: »Tschack!«) heißt in Venedig das tägliche Festivalmagazin, das kostenlos ausliegt. Der größte Teil der Texte ist italienisch, den kann ich also eher vermuten, der Rest ist auf Englisch. Gar keine Sprachkenntnisse braucht man für die Sternchen, die dort mehr oder weniger geschätzte Kollegen für die Filme vergeben. Es gibt gleich drei Tabellen: Für internationale Kritiker, für italienische Kollegen, und fürs Publikum. Aus Deutschland dabei sind FAZ-Redakteurin Verena
Lueken und Susan Vahabzadeh von der SZ.
Wenn man das dann mal in Ruhe durchguckt und vergleicht, gibt es paar interessante Beobachtungen: Alexander Sukourov ist sowieso seit jeher ein allgemeiner Kritikerliebling. Sein neuer Essayfilm Francofonia bekommt nun überall (und wie ich finde, sehr zu Recht) Topwertungen, und führt bei Italienern und Publikum deutlich. Bei den
Internationalen steht er immer noch an zweiter Stelle – denn die beiden schlechtesten Wertungen die ihn die Führung kosten bekommt Francofonia ausgerechnet von den beiden deutschen Kolleginnen.
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Woran liegt das? Mit irgendeiner Borniertheit gegenüber dem Thema – europäische Kunst trifft deutschen Faschismus – hat das in diesem Fall schon mal nichts zu tun. Eher schon vielleicht damit, dass Sokurow erklärter Putin-Freund ist?
Ein wenig vielleicht. Ich würde hier aber noch dreierlei anderes vermuten: Erstens eine gewisse geschmackliche Fan-Girl-Haltung gegenüber New York und den beiden – natürlich nicht schlechten, aber meiner Ansicht nach auch nicht richtig
guten – New Yorker Hipster-Filmen von Charlie Kaufmann und Laurie Anderson unterstellen: Vahabzadeh gibt Kaufmanns Anomalisa ihre Höchstwertung. Das hätte ich schon vorher gewettet.
Verena Lueken ist der Sokurov-Film offenbar zu unpolitisch – denn ihre Topfilme sind Amos Gitais Rabin, the Last Days (über den ich in Folge sechs geschrieben habe) und Abluka vom Türken Emin Alper. Das versöhnt mich etwas mit dem unverständlichen Abwatschen von Sokurov. Im Fall von Gitai würde ich nur erwidern: Der ist politisch extrem
wichtig, aber filmisch schwach, zum Teil dilettantisch – wären da nicht die Archivaufnahmen.
In ihrem FAZ-Text vom 7.9. zu Sokurov fragte Lueken: »Worauf will er in seinem neuen Film hinaus, der hier weitläufig bewundert wird?« Es scheint der Kollegin zu chaotisch, sowohl im Stilmischmasch, wie in den verschiedenen Themen des Films, die oft nur gestreift und den aufgeworfenen Fragen, die oft nicht beantwortet werden. Diese Offenheit finde ich ja gerade spannend. Mir sind
hier und im Kino des letzten Jahrzehnts viele Filme zu geschlossen, zu klar, zu simpel, zu eindimensional. Ich glaube wir brauchen mehr Chaos und viel mehr stilistische Unreinheit, um Kino wieder spannend und ästhetisch fortschrittlich zu machen.
Sokurov gelingt längst nicht alles, aber doch genug. Vor allem versucht er viel, und erzählt Dutzende spannende Geschichten.
Allerdings hat Lueken mit anderem nur allzu recht: »Es gibt keinen einzigen Juden in diesem Film. Dafür später
Dokumentaraufnahmen aus dem Hungerwinter in Leningrad, wo dann endlich auch mal von Toten die Rede ist, von einer Million Toten. Aber haben sie für die Kunst im Louvre mit ihren Leben bezahlt? Vom Film aus gesehen, ließe sich diese absurde Folgerung ziehen.«
Die oben erwähnten Vorwürfe konnte man im Übrigen nicht nur auch Amos Gitai und Laurie Anderson, sondern natürlich auch Chris Marker machen. Wenn man dann demgegenüber dann Tom Hooper ungemein verlogenen, dazu aalglatten The Danish Girl vorzieht, und als »mit großer Sorgfalt geschmackvoll ausgestattete Produktion« und »zarter Zugang zu diesem Thema« lobt, verstehe ich die Welt wirklich für einen Moment nicht mehr.
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Gefolgt wird Francofonia von Gitais Rabin, the last days. Gute Wertungen erhält auch die französische Justiz-Komödie L’Hermite von Christian Vincent, einem der wenigen heiteren Filme im Wettbewerb.
Große Unterschiede gibt es dagegen bei Jerzy Skolimowski. Der wird von den Italienern gut gefunden, von den internationalen
weniger, erst recht nicht von den beiden Deutschen, die hier ätzende Tiefstwertungen geben. Was sagt uns das nun? Entweder hat es in diesem Fall dann doch mit der Frauenfrage zu tun, damit, dass man »die alten Männer« (auch Sokurov ist einer) satt hat. Obwohl Skolimowski innerlich der jüngste von allen ist, und man seinen Film 11 Minutes, wenn man ihn schon nicht mag, auch gut und gern
»kindisch« nennen könnte.
Aber Barbara Hollander, die ich nicht kenne, und die für eine polinische Zeitung unterwegs ist, gibt dem Film die Höchstwertung. Vielleicht in diesem Fall, weil er Pole ist? Ist Geschmack am Ende doch national? Allemal ist Geschmack nicht immer nur eine Frage des Geschmacks.
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So wenig, wie Filmemachen: Abluka, der zweite Film des jungen türkischen Regisseurs Emin Alper (sein Debüt Tepenin ardi – Beyond the Hill gewann 2012 den Caligari-Preis auf der Berlinale), im Wettbewerb um den Goldenen Löwen, mutet seinem Publikum einiges zu. Aber er bietet ihm noch viel mehr: Abluka bietet eine besondere Erfahrung: Verstörend, unklar, irritierend über sein Ende hinaus, dabei offenkundig von hoher Qualität. Das Publikum bei der Pressevorführung blieb im Saal, applaudierte keinesfalls frenetisch, aber ohne Buhs, respektvoll und deutlich, immer noch unter dem Bann dessen, was es da gesehen hatte.
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Die Musik des Künstlers Cevdet Erek, mit der der Film einsetzt, ist schon mal großartig. Sofort kommt einem der B-Horror der 70er Jahre in den Sinn, jener Zeit, in der im Kino noch alles möglich war. Auch sonst ist dies ein toller Film, toll im doppelten bis dreifachen Sinn des Wortes: »Abluka« bedeutet »Belagerungszustand«, und das ist präziser, als der internationale Titel: Frenzy, auf Italienisch »Follia«, also »Wahnsinn«, »Verrücktheit«, mit einem Hauch von Panik – dies ist alles in allem großartig, aber auch ein krasser, wahnwitziger Film – und eben auch tollwütig: Gefährlich und ansteckend.
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Zu Beginn bebt die Erde – ein alltägliches Phänomen in Istanbul, aber in diesem Fall auch eine Metapher für erschütterte Menschen, und eine ganze Gesellschaft auf unsicherem Grund. Abluka ist ein beklemmender Paranoiathriller mit Science-Fiction-Elementen, die allerdings auf ungewohnte Weise präsentiert werden. Zugleich ein erschreckend aktuelles Werk. Denn das hier gezeichnete Bild eines Polizeistaates, in dem fortwährend Gefangene an mysteriöse Orte verschleppt werden, in dem ein Geheimdienst regiert, und jeder jeden bespitzelt, die Nachbarn sich denunzieren, und in der alle Menschen zunehmend an ihre eigenen Lügen glauben, kann zur Zeit gar nicht anders verstanden werden, denn als Analogie auf die derzeitigen Verhältnisse in der Türkei, die sich gerade mit Siebenmeilenstiefeln von demokratischen Gepflogenheiten entfernt. Alper kreiert eine seltsame, bizarre Welt aus Misstrauen, Hilflosigkeit und Angst, in der die Gewalt allgegenwärtig ist: Wilde Hunde streunen hier in größeren Scharen umher, und eine der Hauptfiguren ist ein Hundefänger, der täglich viele der Tiere erschießt. Autos brennen, Bomben explodieren, es gibt Polizeiblockaden und wilde Razzien.
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Dies sind Momentaufnahmen, die auf meine türkischen Freunde nicht wie Fiktion wirken. »There are quarters like this in Istanbul« erzählt eine Freundin, deren Namen ich hier jetzt nicht nenne, weil die Verhältnisse eben so sind, wie sie sind.
Es gäbe dort Viertel, in die die Touristen nicht hinkommen, die die Polizeit ständig, 24/7 abriegelt.
Allemal entwickelt sich, dass macht der Film wie auch andere Beiträge klar, die Türkei zu einem Land, in dem der Polizeistaat
verinnerlicht wird.
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Einmal heißt es in Abluka: »This country is getting really strange. Everyone sitting in their wholes, doing weird things.«
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Unsrer Gegenwart zum Verwechseln ähnlich sehend, könnte dies doch auch ein Horror- oder Zombiefilm sein. Oder ein Western. Denn die Hauptfigur, die nach 20 Jahren aus dem Gefängnis in seine Heimatstadt zu seinem einen Bruder zurückkehrt, ist ein einsamer Schweiger, ein »No Nonsense Guy«, mit dem wie mit anderen Western-Charakeren nicht zu spaßen ist, bei dem es sich aber auch um eine verlorene Seele handelt. Zugleich bleibt der Regisseur ein unzuverlässiger Erzähler: Alles ist
möglich, auch dass es sich hier doch »nur« um einen Alptraum handeln könnte – den der Hauptfigur, oder den des Filmemachers.
Dieser hervorragende Film dürfte durchaus Chancen auf einen der Hauptpreise von Venedig haben.
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Abluka ist nicht der einzige Film, der seinem Publikum klarmacht, dass Gewalt überall existiert. Nicht nur in Kriegsgebieten. Wer von Gewalt erzählen will, kann von der Gesellschaft nicht schweigen, in der sie sich ereignet.
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Der Stadt als solcher skeptisch bis feindselig gegenüber steht offenbar Sezen Tüzen, die Regisseurin von Motherland, ihrem Debüt, das in der »Settemana« läuft. Das muss man zumindest aus Tüzens Antworten beim Gespräch nach dem Film schließen, das wieder einmal ein Beispiel dafür war, wie Filmemacher ihr Werk beim anschließenden Gespräch selbst noch schlechter machen.
Motherland erzählt von einer jungen Frau, die sich ins Dorf und Haus ihrer jungst verstorbenen Großmutter zurückzieht, mit moderne Turnschuhen, iPhone und Computer, um ein Buchprojekt anzuschließen. Aber auf dem Land gegen die Uhren anders, und als sich auch noch ihre Mutter einlädt, um sich recht dominant um die Tochter »zu kümmern«, legt sich ein magischer Bann über das Haus. Die Tochter leidet unter
Schreibblockaden, und wirkt auch sonst so blockiert wie ihr Auto, das in der Werkstatt des Dorfes repariert wird.
Dem schaut man eine ganze Weile zu. Man sieht, dass die Mutter an Geister glaubt, sich im Dorf wohlfühlt, und mit Vergnügen täglich Verwandtenbesuche erhält. Man hört das Geschwätz der Alten, das bei uns auch nicht anders ist, als ihre Binsenweisheiten, dass das Leben eben seine Regeln hat, und als eben diese Regeln die immer mit »A Mother should always...« anfangen und
mit »A Daughter should better...« weitergehen.
Und man fragt sich, warum hier die Tochter die Mutter nicht endlich rauswirft,oder selber geht? Dass sie so keine Zeile schreiben wird, das aber muss, ist klar.
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Motherland ist gelungen, aber unausgegoren, manchmal schlecht erzählt oder erklärt, und voller kleiner Fehler, mit Längen und enervierenden Momenten. Die Regisseurin spielt Stadt gegen Land aus, und inszeniert die Macht der Mütter. Diese macht der Tochter immer ein schlechtes Gewissen, trieft aber vor Selbstmitleid – es geht nur um sie.
In den letzten Minuten stürzt der Film dann
richtig ab: War es noch produktiv provozierend, die Tochter zu sehen, wie sie sich am Computer selbst befriedigt, geht sie später in selbstzerstörerischem Impuls allein in ein Waldstück, Dort hat sie Sex mit dem Dorftrottel, bei dem bis zum Ende nicht ganz klar ist, wer da wen vergewaltigt?
Was soll das jetzt? Eine zusammenhanglose, auch etwas hilflos inszenierte Szene, und damit ein bescheuertes Ende, das den ganzen Film ruiniert.
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Die Mostra de Cinema von Venedig neigt sich dem Ende zu. Nach elf Tagen Wettbewerb werden am Samstagabend die Goldenen und Silbernen Löwen, sowie weitere Preise vergeben.
Allererste Preise gibt es schon: Sie kommen von der »Fedeora«, der »Federation of Film Critics of Europe and the Mediterranean«. Dabei handelt es sich um eine Abspaltung von Dissidenten des internationalen
Kritikerverbandes »Fipresci«. Im Mai 2010 gründete sich diese Gruppe internationaler Filmkritiker, der ein paar durchaus bekannte Kollegen angehören.
Die vierköpfige Jury vergibt sechs Preise. Im Wettbewerb gewann Francofonia und bestätigt damit seine Favoritenrolle. »Francofonia is a complex film exploring themes of European culture in a challenging, sometimes confrontational, but always poetic voice«, lautet die Begründung. Da kann ich nicht widersprechen. Den Satz allerdings hätte man so aber auch über geschätzte 15 andere Filme schreiben können.
In den »Gionate degli autori zeichnet man Underground Fragrance vom Chinesen Pengfei als besten Film aus, Ruchika Oberoi für Island City als
besten Regisseur, und Ondina Quadri für Arianna als beste Schauspielerin.
Und in der ›Settemana‹, die diesmal im Gegensatz zum letzten Jahr am Unauffälligsten blieb, Kalo Pothi von Bahadur Bham Min als besten Film, und Benthey Deans Kamera bei Tanna.«
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Heute werden später auch bereits die »Preise der unabhängigen Filmkritik«, der »Bisato de Oro« verliehen, den ich letztes Jahr selbst mit Von Caligari zu Hitler gewonnen hatte. Präsident der Jury aus internationalen Kritikern ist ausnahmsweise nicht Josef Schnelle, der diesmal nicht nach Venedig kommen konnte – und den wir von hier aus von Herzen grüßen, und hoffen, er liest das hier alles auch.
(to be continued)