72. Filmfestspiele von Venedig 2015
Das Monster mit den 1000 Köpfen |
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Latino-Clan in Venedig: El Clan von Pablo Trapero | ||
(Foto: Prokino) |
»Money comes and goes, life doesn’t.« – aus: El Clan von Pablo Trapero
»Cambia lo superficial/ cambia también lo profundo
cambia el modo de pensar/ cambia todo en este mundo
Cambia el sol en su carrera/ cuando la noche subsiste
Cambia todo cambia/ Cambia todo cambia« – Mercedes Sosa
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»Schreib etwas richtig Nettes«, sagt der ältere Herr: »Ich liebe Dich Papa, und mir tut jeder Moment leid, an dem ich dir das nicht gesagt habe.« Der das sagt, ist selbst Vater von fünf Kindern, und er tut alles für seine Familie. Oder für sich, so genau würde er das kaum unterscheiden. Gerade hat er einen Freund seines Sohnes gekidnappt, und im eigenen Haus, in einem ausgebauten Badezimmer, angekettet, um von dessen reichen Eltern viel Geld zu erpressen – natürlich für seine Familie. Aber er weiß auch jetzt schon, dass er den Entführten nie freilassen, sondern irgendwo in der Pampa erschießen und liegenlassen wird.
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25 bis 30 Jahre ist es jetzt her, dass in Lateinamerika die Diktaturen allmählich ihren Geist aufgaben. Es war ein mühsamer und zäher Prozess: Chiles brutaler Diktator Augusto Pinochet wurde per Referendum abgewählt – vor drei Jahren machte der Chilene Pablo Larraín darüber einen zwar kurzweiligen Film, aber inhaltlich enttäuschenden Film: No!, in dem Weltstar Gabriel García Bernal den Leiter der Anti-Pinochet-Kampagne spielte, und der viele Lateinamerikaner gegen sich aufbrachte – tat der politisch eher unzuverlässige Larraín doch so, als seien Lüge und Werbung die besten Mittel, um eine Diktatur zu besiegen.
Argentinien tat sich schwerer: Erst die Niederlage im Falkland-Krieg gegen England bereitete in der Folge der brutalen Militärdiktatur ein Ende, die 30.000 Menschen auf dem Gewissen hatte. Von deren Folgen handelt jetzt im Wettbewerb von Venedig der Spielfilm El Clan vom Argentinier Pablo Trapero – einer der bislang überzeugendsten Wettbewerbsbeiträge. Der Film beginnt mit Archivaufnahmen, in denen die Militärs ihren Rückzug erklären, und mit einer Rede des ersten demokratisch gewählten Präsidenten Raúl Alfonsín. Dann erzählt El Clan eine auf Tatsachen beruhende unglaubliche Geschichte: Mindestens drei Jahre lang entführte eine ganze Familie – Mann, Frau, drei erwachsene Kinder – reiche Argentinier, erpresste ihre Familien und ermordete die Geiseln.
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»Walking on a sunny afternoon«, tönt aus dem Radio, die Jungs spielen Rugby, die Mädchen feuern an und bewundern sie, danach gibt es Schnittchen und Drinks. Amerika ist in, man trägt Polohemden, Ray Ban, und interessiert sich fürs Surfen, jedenfalls in diesem Kreisen. Es ist der hungrige obere Mittelstand, das, was bei Europas Soziologen Wirtschaftsbürgertum heißt, oder Bourgeoisie, um sie vom Bildungsbürgertum zu unterscheiden. Besonders gebildet ist hier keiner, aber man hält
auf sich. Es ist das faschistische Milieu, die Leute, die die Militärs unterstützen, wie früher andere autoritäre Regimes, nicht nur Perón.
Auch jetzt, wo das Land demokratisch geworden ist, lästert man: »Wie lang wird sich eine Demokratie schon halten? Zwei Jahre vielleicht?«
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El Clan ist aber kein Kriminalfilm, sondern das Portrait eines Milieus, das durch die Gewalt und die faschistischen Werte der Diktatur geprägt wurde, und, als der Vater, der beim Geheimdienst für »Gastfreundschaft« zuständig war, sprich fürs Bereitstellen von Räumen, Kellern, Garagen, in denen heimlich gefoltert und gemordet wurde, gewissermaßen ein neues Geschäftsmodell brauchte, deren Methoden ins Private überträgt, um schnelles Geld zu machen. Eine Analogie zu anderen »new economies« darf man darin sehen. Es ist ein abgründiger, in seiner cleveren Inszenierung auch unterhaltender, starker Film, in dessen Zentrum der überaus böse Vatertyrann steht, glänzend gespielt von Guillermo Francella. Die Familie wohnt in einem Eckhaus in San Isidoro in Buenos Aires, oben und im Hinterhaus ist die Wohnung, unten vorne der Shop, dazwischen ein Hof. Dort steht der Mitsubishi-Bus, mit dem die Opfer entführt werden.
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Der Film fängt besser an, als er aufhört, er hat ein paar Längen und kleine Hänger im letzten Drittel. Aber alles in allem ist er hervorragend.
»Into each life some rain must fall/ But too much is falling in mine/ Into each heart some tears must fall/ But some day the sun will shine/ Some folks can lose the blues in their hearts...«
kommt aus dem Off und nach vielen Innenansichten des Familienlebens und der Mentalität der Familie werden sie dann doch gefasst.
»Papa did this for us, remember«, sagt die Mutter zum Sohn, der Vater dagegen »du bist ein Verräter, ein Undankbarer«. »Du bist alles geworden nur wegen mir.« – Der Sohn dagegen: »Du hast mein Leben ruiniert.«
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Zugleich ist dies ein Gesellschaftsportrait und bizarres Sittenbild vieler Gesellschaften Lateinamerikas. Bei den Filmfestspielen von Venedig ist das lateinamerikanische Kino nach vielen Jahren, in denen in Venedig immer nur zwei, drei Latino-Filme in den Nebenreihen liefen, diesmal auffallend stark vertreten. Drei Filme aus Argentinien, je zwei aus Brasilien und Mexiko, dazu ein Werk aus Chile und – selten zu sehen – aus Venezuela, sind ein starker Auftritt dieses gelegentlich gegenüber Boom- und Krisenregionen übersehenen Kontinents. Lateinamerika hat seit langer Zeit ein besonders reichhaltiges Kino, zugleich fragen viele dieser Filme direkt oder unausgesprochen auch danach, was die Gemeinsamkeiten dieser Länder zwischen Rio Grande, Äquator und Patagonien sind – jenseits der außer in Brasilien überall gesprochenen spanischen Sprache.
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Eine solche Gemeinsamkeit kristallisiert sich schnell heraus: Die Latino-Filme sind oft sozial engagierter als anderswo. Und der Ton ist ein anderer: leichter, anarchistischer. Eine solche Farce ist etwa Un monstruo de mil cabezas vom Uruguayer Rodrigo Pia, der aber in Mexiko spielt. Alles beginnt mit einer Frau, deren Mann schwer an Krebs erkrankt ist. Das titelgebende tausendköpfige Monster ist aber dann nicht etwa der metastasierende Tumor, sondern die Krankenkasse, die teure Behandlungsmethoden nicht zahlen will. Da ergreift die Gattin die Initiative und entführt den Vorstandschef der Krankenkasse, um ihn zur Genehmigung der Medikamente zu zwingen: Eine Verzweiflungstat, die aber nie verzweifelt oder depressiv inszeniert ist, sondern wütend, als surreale Farce, mit einer gehörigen Portion Witz. Sympathie mit der Anarchie!
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Eine Faszination, die das lateinamerikanische Kino entfaltet, liegt darin, bunte und vielfältige Lebenswelten zu zeigen, eine Kultur, die wir zu wenig kennen. Das gilt zum Beispiel für den brasilianischen Film Neon Bull von Gabriel Mascaro. Vor den Hintergrund der Pampa und des Machismo der Rinderfarmer erzählt er von einem etwa elfjährigen Mädchen, das das Faustrecht der Freiheit und sich selbst entdeckt – zwischen Blut, Schweiß und Bullensperma ist dies der bislang erotischste Film der Mostra.
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Das Kino Lateinamerikas zeigt sich in Venedig engagiert und grundsätzlich gut gelaunt. Dazu kommt dann noch ein Film wie Zonda, Folklore Argentina – der neue Film des spanischen Altmeisters Carlos Saura, inzwischen 83 Jahre alt. Einst kämpfte er gegen die Franco-Diktatur, im hohen Alter beschäftigt er sich mit den schönen Dingen des Lebens, besonders der Musik: In Zonda, Folklore Argentina, der in der Nebensektion »Giornate«
gezeigt wird, feiert er die traditionelle argentinische Volksmusik, vor allem die jenseits aller Tango-Rhythmen. Zu Beginn guckt die Kamera einmal in den Spiegel. Dann sieht man nur noch professionelle Tänzer tanzen.
Wie schneidet man Tanzszenen? Ob Saura mit seiner Entscheidung gegen lange Einstellungen und für viele Nahaufnahmen immer recht hat, sei dahingestellt. Aber er ist ein intelligenter Regisseur. In stilisierten, theatralischen Bildern in der Tradition seiner
Filme Carmen, Bluthochzeit, und Fados entfaltet Saura, für den dies auch eine Reise in seine persönliche Vergangenheit ist, als er als junger Mann eine Weile im argentinischen Exil lebte, die Vielfalt der argentinischen Musik und damit die der Gesellschaft kennenlernte: Argentinien ist divers, Argentinien ist die Zukunft. Wer kennt schon
Chalambo, Baguala, Chacarera, Chamamé, Vidala und Gato, um nur einige der hier vorgestellten Rhythmen zu nennen. Und es gibt eine Hommage an die unvergessene Mercedes Sosa: »Cambia, todo cambia« – ihren Ohrwurm vom Wandel als Grundgesetz des Lebens haben bisher alle Generationen Lateinamerikas am eigenen Leib erfahren. Das verbindet, im Guten wie im Schlechten.
(to be continued)