07.09.2015
72. Filmfestspiele von Venedig 2015

Ist Israel noch zu retten?

Rabin, the Last Day
Rabin, the Last Day: Der neue Film von Amos Gitai ist gut für Fragenkaskaden
(Foto: Le Pacte (France))

Der religiös-paranoide Komplex im Gelobten Land: Amos Gitais Film über den Mord an Rabin und Weiteres aus Israel; Notizen aus Venedig, Folge 4

Von Rüdiger Suchsland

»If you send out a soldier, he may be killed. And the same is for a political leader.« – Shimon Peres über Yitzhak Rabins Ermordung

»He gave up no ground. No ground. That is the test.« – Shimon Peres über Yitzhak Rabin

Das geht ja schon mal gut los: Hebräisch mit italie­ni­schen Unter­ti­teln. Der Rest fehlt. Also buht und ruft und lacht und stöhnt der gut gefüllte Palazzo di Cinema. 8 Uhr 45 am Morgen ist allemal keine ideale Zeit, um ein fast dreis­tün­diges Polit-Dokudrama anzu­gu­cken, noch dazu, wenn es von Amos Gitai stammt, dessen Ruf als Film­künstler... sagen wir mal: nicht über jeden Zweifel erhaben ist. Der Film beginnt mit einen sehr konven­tio­nell gedrehten Interview mit Shimon Peres, dessen zentrale Aussagen ich mir aus den Unter­ti­teln gerade noch zu zusam­men­reimen kann.
Glück­li­cher­weise geht nach einer knappen Vier­tel­stunde das Licht an.

»Der Kino­leiter war offenbar Kaffee trinken«, sagt einer hinter mir. Eine Italie­nerin neben mir meint: »Warum unter­bre­chen die, da waren doch nur etwa 50 Leute, die nicht folgen konnten.« Will wohl heißen: Auf die kommt’s doch nicht an.
»It’s Italy!!«, ruft Kollegen Margret Köhler laut in den Saal. »It’s Germany!«, denke ich.
Ein Saal­diener schlägt die Plane vor der Fläche für die Unter­titel zurück und bekommt viel Applaus. Winkt grinsend ins Publikum. Dann geht der Film nochmal von vorne los

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»Wir haben dafür einen hohen Preis bezahlt«, sagt Peres, er erwähnt die »Likud-Propa­ganda« und die Spaltung der israe­li­schen Gesell­schaft, die in der Luft lag. »This made it possible.«
Dann doku­men­ta­ri­sche Aufnahmen einer großen Frie­dens­de­mons­tra­tion in Tel Aviv 1995, dazu Sätze aus Yitzhak Rabins letzter Rede, Bilder Minuten vor seiner Ermordung.

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Kaum zu glauben, dass das schon zwanzig Jahre her ist – jener Sams­tag­abend des 4. November 1995, an dem der damalige israe­li­sche Premier­mi­nister Yitzhak Rabin ermordet wurde. Sein Mörder war kein Araber, sondern ein gläubiger Jude: Yigal Amir, Student jüdischen Rechts und des Talmud und Soldat, der sich zur Recht­fer­ti­gung des Mordes auf religiöse Vorschriften berief. Die Unter­su­chung des Anschlags öffnete seiner­zeit die Tür zu den inneren Abgründen Israels, zu einem bis dahin unbe­kannten oder igno­rierten dunklen Israel, einer Schat­ten­ge­sell­schaft, die reli­giösen Funda­men­ta­lismus mit Hysterie und Verschwörungs­theo­rien verband. Viele unbequeme Fragen tauchten auf, denen sich Israels Gesell­schaft nur zögerlich stellen wollte – bislang machte auch das Spiel­film­kino einen großen Bogen um dieses Ereignis.

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Jetzt hat Amos Gitai, der inter­na­tional bekann­teste und nach wie vor wohl trotz allem renom­mier­teste israe­li­sche Film­re­gis­seur dieses heiße Eisen angepackt: Rabin, the Last Day, der 35. Film des 1950 geborenen Gitai, läuft im Wett­be­werb um den Goldenen Löwen. Der Film, ein Dokudrama mit viel Reenact­ment, konzen­triert sich auf die letzten Stunden von Rabins Leben, auf die Ermitt­lungen der Unter­su­chungs­kom­mi­sion und auf die Folgen des Mordes: Scham und Selbst­zweifel unter zumindest einem Teil von Israels reli­giösen Juden, die Rabin noch kurz vor seiner Ermordung öffent­lich verun­glimpft hatten. Jener Rabbis wie Dev Lior und Nachum Rabi­no­vitz, die Rabin mit unglaub­lich harten Angriffen über­schüt­teten: »The villain Rabin«, »Ein Feind des Volkes«, »He'll find his death in less than a month from now – we call the angels of destruc­tion.«

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Dieser Engel kam dann auch aus ihren Reihen. Der Film zeigt sie: junge Fanatiker, Recht­haber in Holz­fäl­ler­hemden, Igno­ranten mit Bärten, Mafia­gangs, wie die ETA und die IRA. Die Nationale-Kitsch-Armee-Fraktion. Die Übergänge zwischen ihnen und Para­noi­kern sind fließend: In Gitais Film begegnen wir der »Ärztin« Dr. Neta, die einen Vortrag hält, dessen Thema die »Charak­te­r­ana­lyse« Rabins ist. Sie begründet ausführ­lich, warum er an Schi­zo­phrenie leidet, den Kontakt mit der Wirk­lich­keit verloren hat, ein »mega­lo­ma­ni­niac« sei. Wir begegnen Histo­ri­kern, die erklären, warum sich Israel nach dem Vertrag von Oslo in ähnlicher Lage befindet wie »the occupied France facing Nazi-Occu­pa­tion«, »we are like Vichy«, »Rabin will be put to trial like Petain«. Wir begegnen Reli­gi­ons­wis­sen­schaftler, die »beweisen«, dass das israe­li­sche Kabinett aus »Sata­nisten« besteht.

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Ergänzt wird dieser religiös-paranoide Komplex durch die Likud-Partei, den »National Block« Israels, der auch »Tod für Rabin« auf manchen Plakaten stehen hat, auf anderen Rabin in SS- oder Gestapo-Uniform zeigt, als Totenkopf, oder schreibt, man werde Rabin »mit Blut und Feuer« bekämpfen.

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So ist dies vor allem eine scho­ckie­rende Milieu­studie der poli­ti­schen Rechten Israels. Der Film zielt eindeutig auf die Gegenwart, auf Likud und Netanjahu.
Der glor­reiche Sieg im Sechs­ta­ge­krieg von 1967 erscheint rück­bli­ckend als der Wende­punkt und als das große Problem: Da bekamen die Rechten und Natio­na­listen plötzlich Ober­wasser, von da an ging es nicht mehr um das nackte Überleben Israels, sondern um Auswei­tung des Terri­to­riums zu einem »greater Israel«, das der Likud immer wollte.

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Gegen Ende hören wir die Frau von Rabin: »Ich hätte nicht gedacht, dass das möglich gewesen wäre.« Auch sie verweist auf die »Denk­schule« der Likud-Wähler und die Rechts­extre­misten, auf die verän­derte gesell­schaft­lich-poli­ti­sche Kultur.
Der Abschluss­be­richt der Kommis­sion fordert Konse­quenzen für die Gesell­schaft als Ganzes, im Beson­deren das Erzie­hungs­system. »Israel wird nie wieder sein, wie zuvor.«
Ist Israel noch zu retten? frage ich mich ange­sichts dieses traurigen Gesamt­bildes.

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Als Film, also in Stil und Insze­nie­rung ist dies, wie leider zu erwarten, hölzern, spröde, präten­tiös, unelegant, voll pathe­ti­scher Musik, aber sehr infor­mativ.

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Eine Fragen­kas­kade, die mir irgend­wann durch den Kopf schoss: Warum gibt es eigent­lich derzeit keine säkulare Befrei­ungs­front? Warum keine Linken, die ein paar rechte Politiker töten? Warum kein Attentat auf Benjamin Netanjahu?
Ist die Tatsache, dass es das nicht gibt, viel­leicht die Schwäche der heutigen Linken?

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Davon abgesehen, dass Gitai in Venedig ein Stammgast ist, passt der Film auch sonst gut ins Programm eines Film­fes­ti­vals, das seit jeher sehr offen für Israels Kino gewesen ist, und dessen Programm zudem oft durch politisch brisante Themen gekenn­zeichnet ist. 2009 gewann hier Samuel Maoz' Lebanon den ersten Goldenen Löwen für Israel – ein bis heute auch in seiner Heimat umstrit­tener Kriegs­film.

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In diesem Jahr laufen hier neben Gitais Beitrag noch zwei weitere Filme aus Israel, beide von jungen Frauen, die als Hoff­nungs­trä­ge­rinnen des jüngeren israe­li­schen Kinos gehandelt werden: Ein derzeit sehr modisches Thema, nicht nur unter israe­li­schen Filme­ma­chern, und ein merk­wür­diger Kontrast zu Gitais Film, ist die Neugier und klamm­heim­liche Sympathie für das Milieu, das für Rabins Ermordung verant­wort­lich ist: orthodoxe Juden und ihre Lebens­welt. Auffal­lend oft und weit über­pro­por­tional – gemessen am Bevöl­ke­rungs­an­teil der Chassiden – tauchen ihr Leben und innere Konflikte Streng­gläu­biger derzeit in – nicht immer nur israe­li­schen – Festi­val­filmen auf. Oder Filme mit diesen Themen werden besonders gern genommen. Viel­leicht spielt hier der Reiz des Exoti­schen auch eine wichtige Rolle, viel­leicht ebenso das allgemein gewach­sene Interesse an reli­giösem Funda­men­ta­lismus. Der Regis­seurin Yaelle Kayam ist es in ihrem Spiel­film­debüt Mountain, der in der Nebensek­tion »Orizzonti« gezeigt wurde, nicht wirklich gelungen, dem Sujet noch Neues abzu­ge­winnen. Kayam thema­ti­siert die Ehekrise und die Gewis­sens­kon­flikte einer jungen verhei­ra­teten Frau, die unter der Distanz zu ihrem Mann leidet. Bei einem ihrer einsamen Spazier­gänge rund um den Jeru­sa­lemer Oliven­berg ertappt sie ein Liebes­paar, das auf einem Friedhof Sex hat – verstört kehrt sie zurück nach Haus, doch das Erlebnis lässt sie nicht los.

Lama azavtani (Why Hast Thou Forsaken Me) von Hadar Morag läuft ebenfalls in den »Orizzonti«. Ein arabi­scher jugend­li­cher Klein­kri­mi­neller und ein älterer, einsamer jüdischer Außen­seiter, der mit dem Motorrad durch die Straßen streift, und sein Geld als Messer­schärfer verdient, freunden sich an. Gemeinsam ist dem unglei­chen Paar, das sie um Freiheit und Selbst­kon­trolle kämpfen – gegen eine feind­se­lige Umwelt. Die junge Regis­seurin Morag war bereits 2008 mit ihrem Film Silence 2008 auf dem Film­fes­tival von Cannes vertreten.

(to be continued)