72. Filmfestspiele von Venedig 2015
Die »Mexican Connection« |
||
Selten war ein Goldener Löwe so unverdient, wie der für Desde Allá | ||
(Foto: Weltkino Filmverleih GmbH) |
Der Jurypräsident, der Mexikaner Alfonso Cuaron trat auf die Bühne, und da war er, der Goldene Löwe der Mostra di Cinema von Venedig des Jahres 2015: Er geht an den venezuelanischen Film Desde alla (zu deutsch: »Von weit weg«) von Lorenzo Vigas.
Diese Auszeichnung war für all jene, die den Film gesehen hatten, noch überraschender, als für die, die von ihm in den letzten zehn Tagen noch nie etwas gehört hatten. Es war mal wieder so ein Preisträger, den überhaupt niemand vorher auf der Rechnung hatte.
Im ersten Moment mochten manche sich noch freuen: Ein Erstlingsfilm, ein unbekannter Filmemacher, noch dazu der allererste Wettbewerbsbeitrag aus Venezuela, das neben den großen Filmnationen Lateinamerikas, neben Argentinien, Mexiko, Chile und Brasilien, im Weltkino völlig bedeutungslos ist.
Als dann aber die Preisträger die Bühne betraten, stach schnell anderes ins Auge: Der Produzent ist Michel Franco – ein Mexikaner. Der Drehbuchautor ist Guillermo de Arriaga – ein Mexikaner. Und überdies, und das ist jedem bekannt seit Jugendzeiten mit Alfonso Cuaron befreundet. Eine »Mexican Connection« also. Ein Preis mit »Geschmäckle«.
Das wäre trotzdem vielleicht nicht weiter schlimm gewesen, denn persönliche Beziehungen lassen sich in der übersichtlichen Welt des Kinos kaum völlig vermeiden. Diese ist nur vielleicht eine Spur zu eng.
Vor allem aber rechtfertigt Desde Allá diesen wichtigen Filmpreis in keiner Weise – wie man es auch dreht und wendet, und egal von welcher Seite aus man auf den Film blickt – vielleicht, wenn man von dem Gemeinplatz absieht, dass jeder Film auch etwas von dem Land erzählt, in dem er entsteht.
Selten war ein Goldener Löwe so unverdient, wie dieser. »Desde alla« beginnt mit einem etwas fünfzigjährigen, Mann, der, von hinten gefilmt, durch die Stadt läuft. Schnell verstehen wir: Der bürgerlich Gekleidete spricht junge Männer aus offenkundig armen Schichten an. Gegen Geld will er sexuelle Dienstleistungen.
Nach zehn Minuten wissen wir, dass er Zahntechniker ist, und mit seinem Vater schwere Probleme hat, möglicherweise von ihm missbraucht wurde. Er hat so eine
heftige Wut auf ihn, dass er sagt er wünsche dem Vater den Tod. Bald freundet sich einer der jungen Männer mit ihm an. Beide entwickeln eine Art Liebesverhältnis, das aber immer von dem Klassenunterschied und der ökonomischen Abhängigkeit geprägt bleibt. Der junge Mann sucht Liebe und Respekt. und tötet irgendwann den Vater des Älteren, um diesem eine Freude zu machen. Der Ältere aber verrät den Jungen der Polizei.
Erzählt im prätentiösen, mit Stille und Vagheit arbeitenden
Stil, der heute in Teilen des Kunstfilms Mode ist, erscheint »Desde alla« als sadomasochistisches Kammerspiel in quälenden Längen und Lakonien, in seiner Haltung dem Zuschauer gegenüber autoritär, zudem unglaublich konstruiert und auch deshalb sehr vorhersehbar.
Dieser Preis mit »Geschmäckle« wird dem Film und Cuaron nicht gut tun. Vor allem aber wird er dem Festival schaden. Denn das Festival hätte verhindern müssen, dass der eine Freund den anderen bewerten muss.
Die anderen Preise immerhin versöhnten zum Teil mit dieser Fehlentscheidung: Den Regiepreis bekam der Argentinier Pablo Trapero für seinen Film El Clan, ein abgründiges, aber unterhaltsames Vexierspiel, das in ein Form einer Kriminalgeschichte von den Folgen der Diktatur erzählt.
Der Spezialpreis der Jury ging an den jungen türkischen Regisseur Emin Alper für Abluka, zu deutsch »Belagerungszustand« – den Film des Festivals, der am ehesten eine scharfe, erschreckend aktuelle politische Botschaft – in diesem Fall die Kritik an einer von Paranoia und Propaganda geprägten Türkei, die mehr und mehr zum Polizeistaat wird – mit einer künstlerisch besonderen Filmsprache verband.
Ansonsten ließ die Jury das richtig Innovative aber links liegen. Das Neue im Kino kam in der Auszeichnung kaum vor, obwohl gerade der diesjährige Wettbewerb in dieser Hinsicht einiges zu bieten hatte. So gab es keinen einzigen Preis für jene essayistischen Filme, die wie Alexander Sokurovs Francofonia, oder Heart of a Dog von der Musikerin Laurie Anderson Fiktionales, Dokumentarisches und sehr Persönliches in spannender Form verbanden.
Und auch keinen Preis gab es für Jerzy Skolimowski. Der älteste Regisseur im Wettbewerb macht mit 11 Minutes den Film, der am jüngsten wirkte: Ein existentialistisches Spiel über die Macht des Zufalls. Skolimowski verdichtet mehrere Schicksale immer mehr bis zu einem absurden Finale, bei dem durch eine Kettenreaktion die meisten Hauptfiguren ums Leben kommen – von Skolimowski genüsslich im Wechsel aus Schnittgewittern und Zeitlupe erzählt. Skolimowski erinnert uns daran, was wir zu oft vergessen, was Kino am Ende wirklich ist: Manipulation, Fetischismus, Schönheit.
Immerhin in der Nebensektion Orrizonti wurde ein ästhetisch anspruchsvoller Film gleich zweimal ausgezeichnet: Der Amerikaner Brady Corbet bekam den Preis den »Besten Erstlingsfilm« und für »Beste Regie« für seine von Jean-Paul Sartre inspirierte Verfilmung Childhood of a Leader – ein ungemein aktueller Historienfilm über die Entstehungsbedingungen der Gewalt, die durch die Musik von Scott Walker noch zusätzlichen Glanz erhielt.
Insgesamt hatte das Festival von Venedig in diesem Jahr viel Qualität und eine große Spannbreite an Stilen und Themen zu bieten. Eindeutig ist, nicht nur durch die Preisvergabe, wie stark das lateinamerikanische Kino diesmal war. Wohingegen das oft so starke asiatische Kino in diesem Jahr in allen Sektionen schwach blieb.
Wie immer kann man über Einzelheiten des Programms und über Präsentationsformen streiten – aber das gehört dazu.