14.02.2016
66. Berlinale 2016

Tanta­lus­qualen und die Ausfahrt des Odysseus

L'Avenir
Schön und klug: L’avenir
(Foto: Weltkino Filmverleih GmbH)

Einsamer nie als am Ende Julei Huckleberry Finn und die Flüchtlinge, Bewegungsspiele im Verein, Rousseau trifft Adorno – Berlinale-Tagebuch, 8. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Denn gerne gedenkt ja ein Mann der Trübsal«
Homer: »Odyssee«

Hier eine kurze Nummern­revue unse­rer­seits, denn am immer brodelnden Berli­na­le­wo­chen­ende können wir nur alles stich­wort­artig Revue passieren lassen, wir kommen aber auf dies und jenes dieser Tage zurück.
Inter­es­sante 24 Kino­stunden waren das zwischen Freitag- und Sams­tag­nach­mittag. Wobei letzterer natürlich durch den alljähr­li­chen Fußball­stamm­tisch gekrönt wurde, den Joch Laube, neuer­dings selbst­stän­diger Film­pro­du­zent, seit zehn Jahren während der Berlinale orga­ni­siert. Hier gibt es eine absolute Mehrheit der VfB Stuttgart-Fans wie Jochen, Peter Rommel und Egon Nieser, die zur Zeit eh einen Lauf haben, aber auch Fans des FC Köln (Josef Schnelle) von Schalke 04 (Alfred Holighaus) und Borussia Dortmund (ich). Der BVB schaffte nur einen öden FC-Bayern-haften Pflicht­sieg gegen Hannover 96, für die Stutt­garter war es dagegen großartig, weil zum aller­ersten Mal nach neun sieglosen Jahren der »Verein für Bewe­gungs­spiele« gewann und das auch noch gegen Hertha BSC. Gratu­la­tion, von ganzem Herzen!

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Im Kino waren auch Bewe­gungs­spiele angesagt, freilich unter­schied­li­cher Art. Über den deutschen Panorama-Beitrag Jonathan von Piotr J. Lewan­dowski (nicht verwandt mit dem Ex-BVB-Torjäger) sagen wir hier mal einfach gar nicht, denn das ist das Beste, was wir für den Film tun können, außer zu erwähnen, dass André Hennecke toll war und die mir immer gefal­lende Julia Koschitz leider nichts zu spielen hatte, das aber mit Würde.

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Gut gefallen hat mir Boris sans Beatrice vom fran­ko­ka­na­di­schen Regisseur Denis Coté: Im Zentrum ein narziss­ti­scher Macho, einer den man auf Englisch »Prick« nennt, ein Alphatier mit Ehefrau, Geliebter, viel Geld, rechts­kon­ser­va­tiven Ansichten. Schon zu Beginn des Films liegt die Frau mit Depres­sionen apathisch im Bett. Boris benimmt sich schlecht, und muss über den Film hinweg Demut lernen. Denn es meldet sich bei ihm ein großer Unbe­kannter, in dem man wahlweise »Gott«, die »Stimme seines Gewissens« oder einen Gangster sehen kann. Ein Hauch von Lynch jeden­falls.
Coté gefällt das Portrait zeit­genös­si­scher Dekadenz. Daneben gefällt ihm das, was er immer mag: Analoges, analoge Männ­lich­keit, analoger Sex, analoge Maschinen wie fette Autos und ein schwarzer Hubschrauber, der das ganze Kino vibrieren lässt. Kein großer Film, aber mir hat’s gefallen.
Ein Zwil­lings­film zu Boris sans Beatrice ist der Forums-Film Humidity von Nikola Ljuca aus Serbien. War es in Kanada ein Tantalus, ist es in diesem Fall ein moderner Odysseus. Auch hier guckt man einem von sich selbst sehr über­zeigten Anzug­träger dabei zu, was er macht, wenn die Frau plötzlich weg ist – hier ganz wörtlich, denn sie ist verschwunden, und wir, nicht der Typ, wissen, dass sie eine Affäre mit einem Dichter hat, der Zeilen schreibt, wie »never more alone than at the end of July.«

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Fuoco­ammare von Gian­franco Rosi läuft nur im Wett­be­werb, weil Rosi vor ein, zwei Jahren in Venedig den Goldenen Löwen gewann. Angekün­digt als »Flücht­lings­film« geht es tatsäch­lich um Flücht­linge, aber auch überhaupt nicht. Es geht auch um einen kleinen Jungen namens Samuele, der auf der italie­ni­schen Insel und Haupt­flücht­lings­an­lauf­stelle Lampedusa lebt, aus selbst­ge­schnitztem Holz Stein­schleu­dern baut, und ein echter Mann werden will. Halb Doku, halb Essay und fast fiktional ist dieser Film vor allem ein Anti-Repor­ta­gen­film, in sich schwierig, und eine Heraus­for­de­rung von Sehge­wohn­heiten. Gut, aber nicht unbedingt das, was ich im Wett­be­werb zeigen würde oder sehen wollte.
Kollege Frederic Jaeger fragte sich und mich, ob der Film »voyeu­ris­tisch« sei, ohne eine klare Antwort zu haben. Dafür dass man – wie geschehen – am Ende laut »Porno­gra­phie!« in den Saal ruft, gibt es aber keinen Grund.

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Großartig fand ich L’avenir von Mia Hansen-Lowe. Ein sehr, sehr sehr fran­zö­si­scher Film. Philo­so­phisch, sinnlich, didak­tisch und das auf eine Art, in der diese drei Elemente kein Wider­spruch sind.
Isabelle Huppert spielt eine Lehrerin, die Philo­so­phie unter­richtet und deren ganzes Leben aus den Fugen gerät. Aus dieser Konstel­la­tion würden 90 Prozent aller Filme­ma­cher einen Witz machen, nachdem Motto: Philo­so­phie taugt nicht für die Praxis. Hansen-Lowe macht das nicht. Sondern sie zeigt, dass Theorie und Kunst vor allem das Leben kommen­tieren und situativ infrage stellen.
Das ist schön und klug. Wunderbar ist die Beiläu­fig­keit der Insze­nie­rung. Da mögen dann abge­brühte Verleiher gleich erklären, warum »Huppert keine Zuschauer bringt« und »schwierig« sei, weil sie ihr Hotel­zimmer wechselt,m wenn sie es nicht mag.
Für die Qualität des Films sind derglei­chen Fest­stel­lungen egal. Ich wünsche diesem tollen Film viele Preise.