66. Berlinale 2016
Tantalusqualen und die Ausfahrt des Odysseus |
![]() |
|
Schön und klug: L’avenir | ||
(Foto: Weltkino Filmverleih GmbH) |
»Denn gerne gedenkt ja ein Mann der Trübsal«
Homer: »Odyssee«
Hier eine kurze Nummernrevue unsererseits, denn am immer brodelnden Berlinalewochenende können wir nur alles stichwortartig Revue passieren lassen, wir kommen aber auf dies und jenes dieser Tage zurück.
Interessante 24 Kinostunden waren das zwischen Freitag- und Samstagnachmittag. Wobei letzterer natürlich durch den alljährlichen Fußballstammtisch gekrönt wurde, den Joch Laube, neuerdings selbstständiger Filmproduzent, seit zehn Jahren während der Berlinale
organisiert. Hier gibt es eine absolute Mehrheit der VfB Stuttgart-Fans wie Jochen, Peter Rommel und Egon Nieser, die zur Zeit eh einen Lauf haben, aber auch Fans des FC Köln (Josef Schnelle) von Schalke 04 (Alfred Holighaus) und Borussia Dortmund (ich). Der BVB schaffte nur einen öden FC-Bayern-haften Pflichtsieg gegen Hannover 96, für die Stuttgarter war es dagegen großartig, weil zum allerersten Mal nach neun sieglosen Jahren der »Verein für Bewegungsspiele« gewann und das auch noch
gegen Hertha BSC. Gratulation, von ganzem Herzen!
+ + +
Im Kino waren auch Bewegungsspiele angesagt, freilich unterschiedlicher Art. Über den deutschen Panorama-Beitrag Jonathan von Piotr J. Lewandowski (nicht verwandt mit dem Ex-BVB-Torjäger) sagen wir hier mal einfach gar nicht, denn das ist das Beste, was wir für den Film tun können, außer zu erwähnen, dass André Hennecke toll war und die mir immer gefallende Julia Koschitz leider nichts zu spielen hatte, das aber mit Würde.
+ + +
Gut gefallen hat mir Boris sans Beatrice vom frankokanadischen Regisseur Denis Coté: Im Zentrum ein narzisstischer Macho, einer den man auf Englisch »Prick« nennt, ein Alphatier mit Ehefrau, Geliebter, viel Geld, rechtskonservativen Ansichten. Schon zu Beginn des Films liegt die Frau mit Depressionen apathisch im Bett. Boris benimmt sich schlecht, und muss über den Film hinweg Demut lernen. Denn es meldet sich bei ihm ein großer Unbekannter, in dem man
wahlweise »Gott«, die »Stimme seines Gewissens« oder einen Gangster sehen kann. Ein Hauch von Lynch jedenfalls.
Coté gefällt das Portrait zeitgenössischer Dekadenz. Daneben gefällt ihm das, was er immer mag: Analoges, analoge Männlichkeit, analoger Sex, analoge Maschinen wie fette Autos und ein schwarzer Hubschrauber, der das ganze Kino vibrieren lässt. Kein großer Film, aber mir hat’s gefallen.
Ein Zwillingsfilm zu Boris sans Beatrice ist der
Forums-Film Humidity von Nikola Ljuca aus Serbien. War es in Kanada ein Tantalus, ist es in diesem Fall ein moderner Odysseus. Auch hier guckt man einem von sich selbst sehr überzeigten Anzugträger dabei zu, was er macht, wenn die Frau plötzlich weg ist – hier ganz wörtlich, denn sie ist verschwunden, und wir, nicht der Typ, wissen, dass sie eine Affäre mit einem Dichter hat, der Zeilen schreibt, wie »never more alone than at the end of July.«
+ + +
Fuocoammare von Gianfranco Rosi läuft nur im Wettbewerb, weil Rosi vor ein, zwei Jahren in Venedig den Goldenen Löwen gewann. Angekündigt als »Flüchtlingsfilm« geht es tatsächlich um Flüchtlinge, aber auch überhaupt nicht. Es geht auch um einen kleinen Jungen namens Samuele, der auf der italienischen Insel und Hauptflüchtlingsanlaufstelle Lampedusa lebt, aus selbstgeschnitztem
Holz Steinschleudern baut, und ein echter Mann werden will. Halb Doku, halb Essay und fast fiktional ist dieser Film vor allem ein Anti-Reportagenfilm, in sich schwierig, und eine Herausforderung von Sehgewohnheiten. Gut, aber nicht unbedingt das, was ich im Wettbewerb zeigen würde oder sehen wollte.
Kollege Frederic Jaeger fragte sich und mich, ob der Film »voyeuristisch« sei, ohne eine
klare Antwort zu haben. Dafür dass man – wie geschehen – am Ende laut »Pornographie!« in den Saal ruft, gibt es aber keinen Grund.
+ + +
Großartig fand ich L’avenir von Mia Hansen-Lowe. Ein sehr, sehr sehr französischer Film. Philosophisch, sinnlich, didaktisch und das auf eine Art, in der diese drei Elemente kein Widerspruch sind.
Isabelle Huppert spielt eine Lehrerin, die Philosophie unterrichtet und deren ganzes Leben aus den Fugen gerät. Aus dieser Konstellation würden 90 Prozent aller
Filmemacher einen Witz machen, nachdem Motto: Philosophie taugt nicht für die Praxis. Hansen-Lowe macht das nicht. Sondern sie zeigt, dass Theorie und Kunst vor allem das Leben kommentieren und situativ infrage stellen.
Das ist schön und klug. Wunderbar ist die Beiläufigkeit der Inszenierung. Da mögen dann abgebrühte Verleiher gleich erklären, warum »Huppert keine Zuschauer bringt« und »schwierig« sei, weil sie ihr Hotelzimmer wechselt,m wenn sie es nicht mag.
Für die Qualität
des Films sind dergleichen Feststellungen egal. Ich wünsche diesem tollen Film viele Preise.