66. Berlinale 2016
Abschied von Vorgestern |
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Alexandra Kluge in Abschied von gestern | ||
(Foto: Rapid Eye Movies HE GmbH / RFF Real Fiction Filmverleih eK) |
»Wir müssen wieder Karl May lesen.«
Alexander Kluge, im Jahr 2016
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Im deutschen Kino gibt es gegenwärtig einen neuen Trend zum Naturalismus: Aus der Not des fehlenden Geldes macht man die Tugend des Billigen; das fehlende Wissen übers Weltkino und die eigene, deutsche Filmgeschichte wird in die Feier des Unbekümmerten, Laienhaften, der wohligen Naivität umgemünzt.
So haben wir es nicht allein mit Figuren und Geschichten zu tun, die ein Leben in den Tag hinein zeigen, ohne Plan und gar Utopien, ohne Ideale, aber auch ohne echte Not. Wir haben es
mit Stilen zu tun, die manchmal den Eindruck erwecken, als wüsste hier wirklich keiner, warum etwas erzählt werden soll, und warum es so erzählt werden soll – eher muss man halt nach ein paar Jahren auf der Filmhochschule mal den Beweis antreten, dass man ein echter Filmemacher ist. »30 Prozent aller unter Dreißigjährigen in Berlin«, so erzählte mir hier gestern eine Dokumentarfilmerin, wollen »irgendwas mit Medien« machen, nicht wenige wollen Filme drehen. Das kann nichts
werden, auch wenn es für alle irgendwo einen Filmhochschulplatz oder einen Kino-Workshop gibt.
Hinzu kommt das grassierende Des-Engagement: Seit Jahren sind alle müde, die Figuren im deutschen Film (wenn sie nicht gerade hypernervös oder hysterisch sind oder irgendeine Krankheit haben), sie leiden unter Burnout oder werden stumm vor lauter Krise. Die Gesellschaft gefällt ihnen nicht, aber sie wollen die Gesellschaft deshalb nicht ändern. Weil »das ja nicht geht«. Das gilt für die
Figuren aber auch für die Macher.
Mann Leute! Dass ihr das auch noch selber glaubt!! Was für ein Unterschied zur Situation vor 50 Jahren!!!
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Roger Willemsen ist tot, Richard David Precht lebt.
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50 Jahre ist es nun her: 1966 – da war Berlin wie ganz Deutschland noch geteilt und Willy Brandt noch regierender Bürgermeister. Als solcher eröffnete er mit der Deutschen Film und Fernsehakademie die erste Filmhochschule. Politisch war es das Jahr vor der Entspannungspolitik, gesellschaftlich das Jahr vor dem Beginn der großen Revolte, ein Jahr des Aufbruchs, und des Umbruchs, in der DDR wie in Westdeutschland. Auch im Kino.
Darum geht es jetzt in der Retrospektive
der Berlinale, die diesem Jahr vor 50 Jahren gewidmet ist: Sie heißt »Deutschland 1966 – Filmische Perspektiven in Ost und West«
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Es ist ein spannender ästhetischer Systemvergleich: Nach dem Manifest von Oberhausen, das bereits 1962 Papas Kino und auch gleich noch das der älteren Geschwister für tot erklärt hatte, kamen jetzt die ersten Werke des »Neuen Deutschen Films« heraus. Ulrich Schamoni, Edgar Reitz, Rainer Werner Fassbinder und Volker Schlöndorff zeigten ihre ersten langen Filme. Sie wirken so frisch und satt, wie man es den meisten Heutigen wünschen würde. Schlöndorffs Musil-Adaption Der junge Törless ist ein Klassiker, ein Film über Jugendrebellion und Erwachsenwerden, der sechziger Jahre – im historischen Kleid.
Das echte Schlüsselwerk dieses Jahres aber ist Alexander Kluges Abschied von gestern.
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Abschied von gestern ist einer der wenigen Filme, die Brücken zwischen den zwei auseinandergerissenen Hälften des alten Deutschlands schlagen, und das zugleich, ohne die Wunden der Vergangenheit zuzukleistern. Seine Hauptfigur Anita hat jüdische Wurzeln, sie flieht aus dem Osten in den Westen, und kommt dort aber auch wieder mit den Behörden in Konflikt, und landet im Gefängnis. Sie sind nicht so verschieden, die beiden deutschen Teile, zeigt uns das unter anderem.
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Solche Verwandtschaften öffnen sich auch von der anderen Seite: Jahrgang ‘45, der einzige Spielfilm des renommierten Dokumentarfilm-Regisseurs und Malers Jürgen Böttcher ist getränkt mit dem Geist der Nouvelle Vague, der französischen Neuen Welle. Junge Menschen, wach, offen, beiläufig, die in den Tag hinein leben.
Auch hier steht die Vergangenheit eines Landes, das erst
den Zivilisationsbruch vollzogen, dann selbst an ihm zerbrochen war, gut 20 Jahre nach Kapitulation und Befreiung vom Faschismus – ständig unausgesprochen im Raum. Es ging in Ost wie West um gesellschaftliche Widersprüche. Aber die Zensur im Osten war ungleich härter und unerbittlicher, und es gab keine freie Presse, die den Künstlern zur Seite springen konnte. Vieles wurde entschärft, vieles wie der gar nicht oberflächlich politische aber freigeistige und insofern
unangepasste DDR-Pop-Movie Jahrgang ‘45 wurde komplett verboten.
Trotzdem gab es 1966 noch Aufbrüche. Viele DDR-Filme setzten sich unverblümt mit dem »realexistierenden Sozialismus« auseinander. Frank Beyers Spur der Steine überträgt noch heute diesen Elan aufs Publikum. Nie wieder war
DDR-Kino so offen respektlos. Nur drei Tage lang wurde dieser Film gezeigt, dann verschwand er für ein Vierteljahrhundert im Panzerschrank der Stasi.
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Zensur und Selbstzensur gingen ineinander über. Und auch da gibt es Parallelen zum westdeutschen Kino. Denn das Autorenkino der Bundesrepublik verengte sich schnell auf ernste und betont politische Stoffe. Dass es auch eine ästhetische Ebene der Kritik gibt, das wusste man in der Musik und im Theater, im Kino war eher Linientreue gefordert. Unorthodoxe Regisseure gerieten unter die Räder. So erging es Will Tremper einem der interessantesten Filmemacher im
Westdeutschland der frühen Sechziger. Ob in seinem Meisterwerk Die endlose Nacht von 1962, oder in Playgirl von 1966, einem kleinen Meisterwerk, dass ebenso Godard und Truffaut verpflichtet ist,
wie dem besseren Hollywood.
Auch ansonsten ist die Retrospektive 1966 der Versuch auch an Filmemacher wieder zu erinnern, die ein wenig aus dem Zentrum des filmgeschichtlichen Gedächtnisses nach hinten geschoben wurden: Jeanine Meerapfel, Helke Sander, Ula Stöckl, Michael Klier, Werner Nekes. Ihre Werke kann man in dieser hochspannenden Retrospektive wiederentdecken.