66. Berlinale 2016
Buh, bäh, Berlinale |
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Warum nur soll Boris Sans Béatrice nichts taugen?! | ||
(Foto: K-Films Amérique (Canada)) |
Von Dunja Bialas
»Soll man die Berlinale verbrennen?« wird auf Facebook gefragt. Mir selbst wird am selben Ort „Überaufgeregtheit“ attestiert, da ich viele Filme im Berlinale-Programm sehr gut fand (siehe der Kritikerspiegel bei den Kollegen von critic.de). Auch hat sich mittlerweile herumgesprochen, dass ich dem neuen Film des franko-kanadischen Regisseurs Denis Côté, Boris Sans Béatrice, einiges abgewinnen konnte. Angeblich wurde Côté bei der Pressekonferenz ausgebuht. So schlecht fand ich den Film dann aber auch nicht, sagt ein Kollege zu mir, und fasst mich (mitleidig?) am Arm.
Die Berlinale-Hysterie ist wieder da. Die große, alle Jahre wiederkehrende Abwehrbewegung von allem, was hier aufgefahren wird. Mein Verdacht ist ja: Das bezieht sich vor allem auf den hässlichen Potsdamer Platz, an dem man sich den ganzen Tag aufhält. Auf die Schlangen, in die man sich reiht wie Schlachtvieh, während man auf den Einlass in den Kinosaal wartet. Viele sind auch der Ansicht: Kosslick muss weg. Daran kann man sich dann noch die nächsten drei Jahre aufarbeiten, denn der Vertrag des seit sechzehn Jahren regierenden Festivaldirektors wurde erst kürzlich bis 2019 verlängert. Kosslick wird dann mit 71 Jahren abdanken.
Die Abwehrreaktion richtet sich aber auch auf alles Peinliche, Provinzielle, Zweitklassige, das einem als erstklassig verkauft wird. Aber, mal ganz ehrlich, ich finde das unglaublich niedlich. Dieses Mithaltenwollen, aber dies nicht ganz können, weil die A-Klasse-Stars Berlin fernbleiben. Nicht die ganz großen Filme aufzufahren (Respekt: erst mal kein Ausreißer wie Monuments Men im Programm), dafür viel „Mittelklasse“, von der Produktionsgröße gesprochen, und viel Politisches. Dieter Kosslick hat das „Recht auf Glück“ als Motto ausgerufen. Problemfilme sind dabei, wie jedes Jahr, wie 24 Wochen, der einzige deutsche Beitrag im Wettbewerb (der beim Perlentaucher als „blondiert“ runtergeschrieben wird, mit dem gleichzeitigen Zugeständnis, sich mehr auf die Dekors als auf das Drama konzentriert zu haben). Aber auch ein Essay ist dabei, Cartas de Guerra, das, den Worten meines persönlichen Filmbeobachters folgend, „Müll“ sein soll und nichts, aber schon gar nichts, mit einem Essay zu tun habe. Als Köder für die Filmkritiker bezeichnet ein geschätzter Kollege die Tatsache, dass im Wettbewerb das Achtstunden-Epos A Lullaby to the Sorrowful Mystery des philippinischen Regisseurs Lav Diaz zu sehen ist (es gibt schon jetzt keine Kaufkarten mehr für die Vorstellung im 1000-Plätze-Berlinale-Palast). Man könnte es auch als sadistischen Akt gegenüber der Jury bewerten und zumindest die Risiko-Bereitschaft anerkennen, es sich auf immer und ewig mit Meryl Streep zu verderben, die der Jury dieses Jahr vorsitzt. Aber vielleicht gibt es ja da ein Gentlemen’s-Agreement?
Manche Meinungen können nur noch hinter vorgehaltener Hand geäußert werden. Dass zum Beispiel der deutsche 24 Wochen trotz aller Widerstände, die man von Anfang an dem Film entgegenbrachte, ein von Julia Jentsch grandios gespieltes, packendes Gewissensdrama ist, das zwar wenig Dialektik auffährt, aber eine Frau in eine der fundamentalsten Entscheidungen schickt, die man überhaupt treffen kann: die über Leben und Tod. Anna Zohra Berrached hat eine Fallhöhe eingebaut, indem ihre Protagonistin Stand-up-Comedian ist, einerseits die Fallhöhe zum Humor, und dann natürlich noch diese ganze ethische Frage nach der Verantwortlichkeit und Role-Model-Rolle einer in der Öffentlichkeit stehenden Promi-Frau. In der Anordnung kann das ziemlich auf den Keks gehen, da so sehr durchschaubar, in der Durchführung ist es sinnfällig und emotional plausibel. Ein ethisches Lehrstück ist der Film sicherlich, aber ein äußerst packendes und fundamentales, das große Intensität verbreitet.
Meine Meinung zu Denis Côtés meisterlichem Schelmenstück will keiner hören. Die Urteile sind einfach da: Der Film taugt nicht! Warum dies so sein soll, konnte mir allerdings noch niemand sagen. Die Äußerungen gehen alle dahin: Ist halt nicht mein Kino. Naja. Ach so. Na dann. Boris Sans Béatrice lässt einen Geist aus der Flasche, entfesselt eine Figur, die nur schwer greifbar ist, irgendwo zischen allmächtigem Gott, allwissendem Erzähler und moralischer Instanz angesiedelt. Ein Derwisch, gespielt von Denis Lavant, dem ich immer mehr abgewinnen kann (großartig war auch seine Performance in dem Eröffnungsfilm der parallel zur Berlinale stattfindenen Woche der Kritik, Pablo Agueras Eva no duerme). Mit goldbesticktem Jäckchen und pockenzerfressenem Gesicht gemahnt er die wunderbar arschlochmäßige Hauptfigur Boris, der seine depressive Frau Béatrice hintergeht und sich auch sonst zu seiner Umwelt wie ein Kotzbrocken verhält, zur Besserung. Alles in allem eine mit verqueren mythologischen Anspielungen versehene Illustration von »eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in den Himmel kommt«, denn Boris ist ein überaus reicher, assimilierter Russe in Kanada, der mit stahlblauen Augen nur um sich selbst kreist. Ein echtes Ekel. Die Inszenierung von Côté ist dabei wie auf dem Reißbrett gezogen, unterkühlt, gestylt und gestaltet, in denen die Frauen fleischliche Körper und ätherische Wesen sind und willensstark das Recht auf Leben gegen die Kälte von Boris einfordern. Mit Abdriftungen ins Irrationale, zunehmendem Kirrewerden seiner Hauptfigur und Kontrollverlusten. Eine völlig unpsychologische Tour de Force, die sich in den Oberflächen einer abgekühlten Hochglanzwelt aufhält, die sich des Realismus komplett enthebt. Mit dezent fantastischen Elementen (ein steuerloser Hubschrauber, ausgestopfte Tiere, ein sprechender Wald) und mythologischen Vorhöllenbezügen, wie der von Tantalus, der aufgrund seiner anmaßenden Hybris an die Götter für immer dürsten und hungern muss.
Denis Côté erzählt eine unzeitgeistige Geschichte, ein überdrehtes Lehrstück, das er in der Inszenierung derart überspitzt und überhöht, dass man es eigentlich zu keinem Zeitpunkt für bare Münze nehmen kann. Ein schillernder Film, der einen hineinzieht und herauswirft, verwirrt und erstaunt, dabei deutlich und klar ist.