20.02.2016
66. Berlinale 2016

Die Schönen und Reichen der Berlinale

Nikola Ljucas Humidity
Der bessere Zwilling zu Boris sans Beatrice: Nikola Ljucas Humidity
(Foto: Cinnamon Production Dart Film & Video Lemming Film)

Dekadenz ist Trumpf: Jetset und Redset, auch jenseits des Roten Teppichs –Berlinale-Tagebuch, 15. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Allein wie viel­leicht Mitleid mit dem Unglück etwas Ungenaues ist – denn unsere Phantasie schafft eine Fülle von Schmerzen, denen der Unglück­liche, der gegen sie ankämpfen muß, nicht nachgibt –, so ist auch die Bosheit in der Seele des Boshaften vermut­lich keine so rein wollüs­tige Grau­sam­keit, wie wir es uns unter Qualen vorstellen. Ihm flößt der Haß, ihm gibt der Zorn einen Eifer, eine Betrieb­sam­keit ein, die nichts sehr Vergnüg­li­ches an sich hat; er müßte Sadist sein, um daraus Lust zu gewinnen; der Böse glaubt, einen Bösen leiden zu machen.«
(Marcel Proust: »Die Welt der Guer­mantes«)

Er heißt Petar und ist ein typisches Exemplar des Aller­welts­busi­ness­mannes: hell­blaues Hemd, grauer Anzug, etwas zu smart, etwas zu glatt, etwas zu kalt, um nicht auf Anhieb unsym­pa­thisch zu sein. Zumal wir Zuschauer von Anfang an mehr über ihn wissen als er selbst.
Doch allmäh­lich wird diese marmorn glatte Charak­ter­maske aufge­bro­chen. Und von Minute zu Minute verstehen wir ihn besser. Ob es nur an der feuchten Spät­som­mer­hitze liegt, die dem serbi­schen Film Humidity auch den Titel gibt? Oder weil wir irgend­wann auch nicht mehr verstehen, warum seine Frau Mina spurlos verschwunden ist?
Wir wissen, dass ihn seine Frau mit einem jungen Poeten betrügt. Wir glauben zu wissen, dass sie von ihm und ihrer Ehe gelang­weilt ist. Aber wir sehen, dass er sich wirklich Sorgen macht – oder ist er doch nur genervt von ihren Zicken?
Nikola Ljucas klug und kalku­liert insze­niertes Spiel­film­debüt Humidity im »Inter­na­tio­nelen Forum der Berlinale« ist ein Film über Schein und Sein, Betrug und Begehren, er ist ein Portrait der neuen Reichen, eine fein geschlif­fene Deka­denz­studie. Alles spielt im Post-Miloševic-Serbien – es könnte aber zwischen Koks und Korrup­tion auch in der Mitte Berlins oder gleich der Berlinale spielen...

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Dieser Film war der bessere Zwilling von Denis Cotés Wett­be­werbs­bei­trag Boris sans Beatrice – wie überhaupt viele Filme in den Neben-Sektionen wie ein ergän­zender, oft besserer Kommentar einiger Wett­be­werbs­filme wirkten.
So etwa spiegelte der senaga­le­si­sche The Revo­lu­tion Won’t Be Televised von Rama Thiaw den Spike Lee-film Chi-raq.
Humidity war auch einer der wenigen »richtigen«, also klas­si­schen Spiel­filme im diesmal starken, aber auch stark essay­is­tisch-doku­men­ta­ri­schen »Inter­na­tio­nalen Forum des Jungen Films«.
Und ein Fall unter mehreren anderen richtig gelun­genen Spiel­filmen, die man sich gut im Wett­be­werb hätte vorstellen können.

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Gespräch mit einer Regis­seurin. Wozu gibt es eigent­lich Pres­se­hefte? Natürlich für Jour­na­listen. Die Hälfte der lieben Kollegen schreibt ab, was im Heft steht. Natürlich ist ein Pres­se­heft auch eine Hilfe: Ein bisschen Hilfe für die Leute, die den Film nicht verstanden haben und ein bisschen für die Leute, die ihn nicht gesehen haben.

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Wett­be­werbs­taug­lich ist auch Auf Einmal, der von der in Berlin lebenden Türkin Asli Özge stammt – der beste deutsche Film der dies­jäh­rigen Berlinale.
Es geht in diesem sehr facet­ten­rei­chen Film um einen jungen Aufsteiger, einen jungen Mann, der noch lernen muss, seinen Platz an der Spitze einzu­nehmen – die Kindheit eines Chefs. Auf Einmal hat zwei Ebenen. Zum einen geht es um die Haupt­figur. Zugleich aber auch um Gesell­schaft, um Provinz, bürger­liche Gesell­schaft in der Provinz erzählen.

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Am Anfang stirbt eine junge Frau, sie stirbt auf der Party eines jungen Mannes namens Karsten. Der braucht etwas zu lang, um Hilfe zu holen, und die unauf­gelöste Frage, warum das so ist, was da war, ob da was war, der unge­klärte Tod, lässt sein bishe­riges Leben implo­dieren, ihn aber auch nach erfolg­losen Flucht­be­we­gungen reifen.
Das ist das Porträt dieses Karsten. Ein junger Mann aus gutem Hause. Warum müssen wir uns für den überhaupt inter­es­sieren? Er ist unsicher, er ist – ganz liberal, locker, bürger­lich – geprägt von der Dressur durch die Eltern, und diese Ansprüche, denen er vermeint­lich nicht gerecht werden kann. Karsten ist – so schien es zumindest mir – ein Feigling, ein Waschlappen.
Es geht also um Schuld­ge­fühle, um Gerech­tig­keit, um bürger­liche Milieus, um West­deutsch­land, um Provinz, um Vater-Sohn-Bezie­hungen, um Insti­tu­tionen. Um Vertrauen-Miss­trauen. Karsten entschul­digt sich auch dauernd selbst. Egal ob es überhaupt etwas zu verbergen gibt – was der Film lange wohltuend offen lässt –, ist er nicht sympa­thisch. Ich tue mich nicht leicht, mich mit dieser Figur zu iden­ti­fi­zieren. Weder wie er aussieht, noch wie er sich verhält. Für mich ist das aber auch nicht schlimm. Ich muss mich nicht immer iden­ti­fi­zieren.

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Für mich ist der Film »bessere Berliner Schule«: Besser, weil er offener ist, ästhe­tisch undog­ma­ti­scher, in sich freier. Er beginnt ruhig, spröde fast, jeden­falls aus der Distanz erzählt. Wie ein Film von Christian Petzold. Aber der Film öffnet sich, wird weiter, bekommt Tempo, wird offener als Petzold. Die erste Hälfte ist abstrakter, als die zweite.
Auch wegen Louise Heyer und wegen Julia Jentsch muss man diesen Film sehen. Gedreht wurde im Herbst. Bis zum Rand des Bildes sieht man Wald, Berge, kaum Himmel. Auch der Ort, die Klein­stadt Altena im Sauerland, mit ihren verwin­kelten Gassen, zeigt auch ein roman­ti­sches Deutsch­land­bild.

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Ganz viel, was hier auf der Berlinale im Panorama läuft, war vorher in Sundance. Das ist nicht gut für ein Festival, das schon aus Selbst­ach­tung auf Welt­pre­mieren schauen müsste, aber natürlich nicht 435 Welt­pre­mieren findet.

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Wer das Autoren­kino verfolgt, kennt auch den chile­ni­schen Regisseur Pablo Larrain. Der ist nur der jungste bekannte Spross einer Familie aus Promi­nenten. Ihr Stammbaum reicht schon in Chile auf das 17. Jahr­hun­dert zurück, in Spanien sogar auf das 14. Jahr­hun­dert. Die Larrains sind im Land so berühmt wie bei uns die Thurn und Taxis und die Weiz­sä­ckers zusammen: Sie sind reich und politisch rechts. Und wer sich mit Chilenen unterhält, der bekommt auch immer zu hören, dass Pablo Larrains Filme ja eigent­lich ziemlich rechts und reak­ti­onär sein, und das dieje­nigen, die in ihren links­li­be­rale State­ments sehen, halt keine Ahnung haben.

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Angelehnt an einen realen bekannten Fall erzählt der chile­ni­sche Regisseur Alejandro Fernandez Almendras jetzt eine gar nicht reak­ti­onäre Geschichte aus Pablo Larrains nächster Verwandt­schaft. Die geht, folgt man Almendras' Film Aqui no ha pasado nada, so: 2013 fuhr Martin Larrain, Sohn des Poli­ti­kers und Multi­mil­lionärs Carlos Larrain, einen jungen Mann tot, als er nachts betrunken das Auto steuerte. Kann jedem passieren, pardon, fast jedem. Man muss dann aber auch die Folgen verant­worten.

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Der Film fiktio­na­li­siert diese Geschichte bis zur Erkenn­bar­keit, und erzählt von Vicente. Der geht auf Parties, säuft, vögelt, konsu­miert Drogen, und der Film genießt es die Atmo­sphäre, den way of life dieser goldenen Jugend auszu­stellen. Es gibt nicht viele Filme aus Chile, die diese Klasse zeigen.
Eines Nachts findet sich Vincente zunächst am Steuer eines Unfall­wa­gens wieder, den er nicht gesteuert hat, und dann auf der Ankla­ge­bank. Er soll die Schuld für den reichen Sohn der Larrains über­nehmen, die hier natürlich anders heißen.
Almendras nennt als sein Vorbild Maurice Pialat, und filmt alles mit einer atmenden, unruhigen, aber auch etwas voyeu­ris­ti­schen Hand­ka­mera. Der Film ist ein bisschen groß­kotzig, ansonsten auch etwas wie sein Titel – aber sehens­wert. Ein Portrait der Post-Pinochet-Welt, in der Vincente lernt, nicht zu rebel­lieren, sondern den Platz, der ihm in der Gesell­schaft zusteht, auch auszu­füllen.
Ein Dekadenz-Porträt. Und es wäre nicht nötig gewesen, auch noch Proust lesen zu lassen, eine Stelle aus »Die Welt der Guer­mantes«, in der es um Unglück und Sadismus geht.

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Viel­leicht sollte er noch einen Film über eine andere Stelle des gleichen Buches machen, um der Sache wirklich auf den Grund zu gehen: Dort sinniert Françoise, im Roman die etwas naive, aber darin klar­sich­tige Lehr­meis­terin in Menschen­kenntnis: »...so war deshalb der blanke Reichtum, Reichtum ohne Tugend nicht das höchste Gut in Françoises Augen, aber Tugend ohne Reichtum war ebenso wenig ihr Ideal. Reichtum war für sie eine notwen­dige Voraus­set­zung der Tugend, ohne ihn blieb die Tugend auch ohne Verdienst und Reiz. Sie trennte beide so wenig vonein­ander, dass sie schließ­lich einem die Eigen­schaften des andern verlieh, die Tugend mit einigem Komfort versehn wissen wollte und dem Reichtum etwas Erbau­li­ches zuer­kannte.«