66. Berlinale 2016
Die Schönen und Reichen der Berlinale |
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Der bessere Zwilling zu Boris sans Beatrice: Nikola Ljucas Humidity | ||
(Foto: Cinnamon Production Dart Film & Video Lemming Film) |
»Allein wie vielleicht Mitleid mit dem Unglück etwas Ungenaues ist – denn unsere Phantasie schafft eine Fülle von Schmerzen, denen der Unglückliche, der gegen sie ankämpfen muß, nicht nachgibt –, so ist auch die Bosheit in der Seele des Boshaften vermutlich keine so rein wollüstige Grausamkeit, wie wir es uns unter Qualen vorstellen. Ihm flößt der Haß, ihm gibt der Zorn einen Eifer, eine Betriebsamkeit ein, die nichts sehr Vergnügliches an sich hat; er müßte Sadist sein, um daraus Lust zu gewinnen; der Böse glaubt, einen Bösen leiden zu machen.«
(Marcel Proust: »Die Welt der Guermantes«)
Er heißt Petar und ist ein typisches Exemplar des Allerweltsbusinessmannes: hellblaues Hemd, grauer Anzug, etwas zu smart, etwas zu glatt, etwas zu kalt, um nicht auf Anhieb unsympathisch zu sein. Zumal wir Zuschauer von Anfang an mehr über ihn wissen als er selbst.
Doch allmählich wird diese marmorn glatte Charaktermaske aufgebrochen. Und von Minute zu Minute verstehen wir ihn besser. Ob es nur an der feuchten Spätsommerhitze liegt, die dem serbischen Film Humidity auch den Titel gibt? Oder weil wir irgendwann auch nicht mehr verstehen, warum seine Frau Mina spurlos verschwunden ist?
Wir wissen, dass ihn seine Frau mit einem jungen Poeten betrügt. Wir glauben zu wissen, dass sie von ihm und ihrer Ehe gelangweilt ist. Aber wir sehen, dass er sich wirklich Sorgen macht – oder ist er doch nur genervt von ihren Zicken?
Nikola Ljucas klug und kalkuliert inszeniertes Spielfilmdebüt Humidity im »Internationelen Forum der Berlinale« ist ein Film über Schein und Sein, Betrug und Begehren, er ist ein Portrait der neuen Reichen, eine fein geschliffene Dekadenzstudie. Alles spielt im Post-Miloševic-Serbien – es könnte aber zwischen Koks und Korruption auch in der Mitte Berlins oder gleich der Berlinale spielen...
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Dieser Film war der bessere Zwilling von Denis Cotés Wettbewerbsbeitrag Boris sans Beatrice – wie überhaupt viele Filme in den Neben-Sektionen wie ein ergänzender, oft besserer Kommentar einiger Wettbewerbsfilme wirkten.
So etwa spiegelte der senagalesische The Revolution Won’t Be Televised von Rama Thiaw den Spike Lee-film Chi-raq.
Humidity war auch einer der wenigen »richtigen«, also klassischen Spielfilme im diesmal starken, aber auch stark essayistisch-dokumentarischen »Internationalen Forum des Jungen Films«.
Und ein Fall unter mehreren anderen richtig gelungenen Spielfilmen, die man sich gut im Wettbewerb hätte vorstellen können.
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Gespräch mit einer Regisseurin. Wozu gibt es eigentlich Pressehefte? Natürlich für Journalisten. Die Hälfte der lieben Kollegen schreibt ab, was im Heft steht. Natürlich ist ein Presseheft auch eine Hilfe: Ein bisschen Hilfe für die Leute, die den Film nicht verstanden haben und ein bisschen für die Leute, die ihn nicht gesehen haben.
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Wettbewerbstauglich ist auch Auf Einmal, der von der in Berlin lebenden Türkin Asli Özge stammt – der beste deutsche Film der diesjährigen Berlinale.
Es geht in diesem sehr facettenreichen Film um einen jungen Aufsteiger, einen jungen Mann, der noch lernen muss, seinen Platz an der Spitze einzunehmen – die Kindheit eines Chefs. Auf Einmal hat zwei Ebenen. Zum einen geht es um die Hauptfigur. Zugleich aber auch um Gesellschaft, um Provinz, bürgerliche Gesellschaft in der Provinz erzählen.
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Am Anfang stirbt eine junge Frau, sie stirbt auf der Party eines jungen Mannes namens Karsten. Der braucht etwas zu lang, um Hilfe zu holen, und die unaufgelöste Frage, warum das so ist, was da war, ob da was war, der ungeklärte Tod, lässt sein bisheriges Leben implodieren, ihn aber auch nach erfolglosen Fluchtbewegungen reifen.
Das ist das Porträt dieses Karsten. Ein junger Mann aus gutem Hause. Warum müssen wir uns für den überhaupt interessieren? Er ist unsicher, er ist
– ganz liberal, locker, bürgerlich – geprägt von der Dressur durch die Eltern, und diese Ansprüche, denen er vermeintlich nicht gerecht werden kann. Karsten ist – so schien es zumindest mir – ein Feigling, ein Waschlappen.
Es geht also um Schuldgefühle, um Gerechtigkeit, um bürgerliche Milieus, um Westdeutschland, um Provinz, um Vater-Sohn-Beziehungen, um Institutionen. Um Vertrauen-Misstrauen. Karsten entschuldigt sich auch dauernd selbst. Egal ob es
überhaupt etwas zu verbergen gibt – was der Film lange wohltuend offen lässt –, ist er nicht sympathisch. Ich tue mich nicht leicht, mich mit dieser Figur zu identifizieren. Weder wie er aussieht, noch wie er sich verhält. Für mich ist das aber auch nicht schlimm. Ich muss mich nicht immer identifizieren.
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Für mich ist der Film »bessere Berliner Schule«: Besser, weil er offener ist, ästhetisch undogmatischer, in sich freier. Er beginnt ruhig, spröde fast, jedenfalls aus der Distanz erzählt. Wie ein Film von Christian Petzold. Aber der Film öffnet sich, wird weiter, bekommt Tempo, wird offener als Petzold. Die erste Hälfte ist abstrakter, als die zweite.
Auch wegen Louise Heyer und wegen Julia Jentsch muss man diesen Film sehen. Gedreht wurde im Herbst. Bis zum Rand des Bildes sieht man
Wald, Berge, kaum Himmel. Auch der Ort, die Kleinstadt Altena im Sauerland, mit ihren verwinkelten Gassen, zeigt auch ein romantisches Deutschlandbild.
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Ganz viel, was hier auf der Berlinale im Panorama läuft, war vorher in Sundance. Das ist nicht gut für ein Festival, das schon aus Selbstachtung auf Weltpremieren schauen müsste, aber natürlich nicht 435 Weltpremieren findet.
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Wer das Autorenkino verfolgt, kennt auch den chilenischen Regisseur Pablo Larrain. Der ist nur der jungste bekannte Spross einer Familie aus Prominenten. Ihr Stammbaum reicht schon in Chile auf das 17. Jahrhundert zurück, in Spanien sogar auf das 14. Jahrhundert. Die Larrains sind im Land so berühmt wie bei uns die Thurn und Taxis und die Weizsäckers zusammen: Sie sind reich und politisch rechts. Und wer sich mit Chilenen unterhält, der bekommt auch immer zu hören, dass Pablo Larrains Filme ja eigentlich ziemlich rechts und reaktionär sein, und das diejenigen, die in ihren linksliberale Statements sehen, halt keine Ahnung haben.
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Angelehnt an einen realen bekannten Fall erzählt der chilenische Regisseur Alejandro Fernandez Almendras jetzt eine gar nicht reaktionäre Geschichte aus Pablo Larrains nächster Verwandtschaft. Die geht, folgt man Almendras' Film Aqui no ha pasado nada, so: 2013 fuhr Martin Larrain, Sohn des Politikers und Multimillionärs Carlos Larrain, einen jungen Mann tot, als er nachts betrunken das Auto steuerte. Kann jedem passieren, pardon, fast jedem. Man muss dann aber auch die Folgen verantworten.
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Der Film fiktionalisiert diese Geschichte bis zur Erkennbarkeit, und erzählt von Vicente. Der geht auf Parties, säuft, vögelt, konsumiert Drogen, und der Film genießt es die Atmosphäre, den way of life dieser goldenen Jugend auszustellen. Es gibt nicht viele Filme aus Chile, die diese Klasse zeigen.
Eines Nachts findet sich Vincente zunächst am Steuer eines Unfallwagens wieder, den er nicht gesteuert hat, und dann auf der Anklagebank. Er soll die Schuld für den reichen Sohn
der Larrains übernehmen, die hier natürlich anders heißen.
Almendras nennt als sein Vorbild Maurice Pialat, und filmt alles mit einer atmenden, unruhigen, aber auch etwas voyeuristischen Handkamera. Der Film ist ein bisschen großkotzig, ansonsten auch etwas wie sein Titel – aber sehenswert. Ein Portrait der Post-Pinochet-Welt, in der Vincente lernt, nicht zu rebellieren, sondern den Platz, der ihm in der Gesellschaft zusteht, auch auszufüllen.
Ein Dekadenz-Porträt. Und es
wäre nicht nötig gewesen, auch noch Proust lesen zu lassen, eine Stelle aus »Die Welt der Guermantes«, in der es um Unglück und Sadismus geht.
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Vielleicht sollte er noch einen Film über eine andere Stelle des gleichen Buches machen, um der Sache wirklich auf den Grund zu gehen: Dort sinniert Françoise, im Roman die etwas naive, aber darin klarsichtige Lehrmeisterin in Menschenkenntnis: »...so war deshalb der blanke Reichtum, Reichtum ohne Tugend nicht das höchste Gut in Françoises Augen, aber Tugend ohne Reichtum war ebenso wenig ihr Ideal. Reichtum war für sie eine notwendige Voraussetzung der Tugend, ohne ihn blieb die Tugend auch ohne Verdienst und Reiz. Sie trennte beide so wenig voneinander, dass sie schließlich einem die Eigenschaften des andern verlieh, die Tugend mit einigem Komfort versehn wissen wollte und dem Reichtum etwas Erbauliches zuerkannte.«