12.05.2016
69. Filmfestspiele Cannes 2016

Menschen-Zoo und Art-Deco

Café Society
In einer Kutsche fahren passt gut zu Cannes, dem Karneval der Tiere und Woody Allen: Café Society
(Foto: Warner Bros. Entertainment GmbH)

Die Würde des Rummelplatzes: Das Festival eröffnet mit Woody Allen und ist eine Traumfabrik eigener Art – Cannes-Notizen, 2. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Live everyday like its your last and one day you'll be right.«
– Woody Allen

»Dreams are dreams.« – Dieser Satz fällt zweimal in Woody Allens Café Society. »Dreams are dreams«, das klingt wie Träume sind Schäume. Traum und Wirk­lich­keit, Sein und Schein und ihre Differenz stehen im Zentrum des Films, mit dem am Donners­tag­abend bei für Cannes sehr unty­pi­schem Wind und Niesel­re­gen­wetter die 69. Ausgabe der Film­fest­spiele offiziell eröffnet wurde. Dass Träume uns auch eine Wahrheit erzählen, zeigt sich aller­dings ganz klar gegen Ende des Films.

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»Life is a comedy, written by a sadistic comedy-writer.« – »Das Leben ist eine Komödie, verfasst von einem sadis­ti­schen Autor.« Dieser andere Dialog­satz aus Woody Allens Cannes-Eröff­nungs­film könnte auch als Beschrei­bung des ganzen Festi­val­be­triebs taugen, der von nun an knapp zwei Wochen lang das sonst eher beschau­liche Urlaubs­städt­chen an der Croisette gefangen hält.
Auf Allens Film selbst trifft der Satz aber nicht zu: Eher milde, wenn man so will auch ein bisschen alter­weise und abgeklärt wirkt dieser Film, in jedem Fall melan­cho­lisch und auf angenehme Weise sehr nost­al­gie­er­füllt wirkt diese Zeitreise in die dreißiger Jahre. Wenn man den Trailer gesehen hat, ist das Ergebnis enttäu­schend.

Ließ dieser Trailer, an Irre­füh­rung grenzend, noch eine bissige Hollywood-Satire und Selbst­re­fle­xion des Mediums Film erwarten, so entpuppt sich dieser ganze Aspekt schnell als nur ein Neben­strang einer komplexen Liebes­ge­schichte. Der junge Bob ist Spross einer klein­bür­ger­li­chen, zwischen Spießig­keit und Amoral gespal­tenen jüdischen Familie aus New York. Er kommt nach Los Angeles, um sich dort von seinem Onkel einen Job besorgen zu lassen. Denn dieser Onkel ist der Einzige in der Familie, der es geschafft hat, dem Umfeld zu entkommen. Heute ist er ein einfluss­rei­cher Agent in Hollywood. Während er langsam in der Filmszene Fuß fasst, verliebt sich Bob nebenbei in Vonnie (Kristin Stewart), die Sekre­tärin seines Onkels. Was er nicht weiß: Vonnie hat auch eine Affaire mit seinem Onkel, und so entspinnt sich ein turbu­lenter Liebes­händel, der bald nicht nur an der Westküste, sondern auch in New York spielt, wo Bob einen erfolg­rei­chen Nacht-Club aufmacht, und Bobs Familie, besonders seinen Gangs­ter­bruder und seine mit einem Kommu­nisten verhei­ra­tete Schwester mitein­schließt.

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So weit der Plot. Es geht also irgendwie um Familie, es geht vor allem um die Liebe, und was man bereit ist, dafür zu opfern, und um das Verhältnis von Liebe und Ehe. Der Onkel lässt sich scheiden – um wieder zu heiraten. Und zwar die Frau, die er wirklich liebt. Und Bob heiratet eine Frau, die er schätzt, und begehrt, weil er die, die er liebt, nicht bekommen kann. »Life is not rational. You fall in love, you marry someone you don’t love.«All das ist in dem Film, Woody Allen weiß womöglich selbst genau, wovon er da erzählt, und trotzdem ist er alles andere als ernst, sondern eine Komödie.
Was Allen eigent­lich inter­es­siert, sind viel­leicht einfach die histo­ri­schen Aspekte. Dies ist eine Zeitreise in die dreißiger Jahre, in Art-Deco-Design und das Hollywood in seiner größten Zeit. Dies ist vor allem auch ein präch­tiger Ausstat­tungs­film, voller Nostalgie für die 30er Jahre, etwas clean viel­leicht, aber ohne die Über­hit­zung des »Great Gatsby«. Allen erzählt nicht frei von Sehnsucht, jeden­falls von Faszi­na­tion, von jüdischen Gangstern, Mobstern, Club­be­sit­zern, von korrupten Poli­ti­kern, von Wirt­schafts­bossen mit »under­graded fiancees«.

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Dies ist alles in allem ein etwas müder, irgend­wann dahin­plät­schernder Film, ein Alters­werk, dem an jeder Stelle Schärfe fehlt, trotz spitzer Dialoge. Der gut ist, aber spürbar besser sein könnte, wenn sich Allen ein wenig mehr Mühe gäbe. Kristen Stewart ist sehr gut, Jesse Eisenberg noch besser.
»He is too conscious, I dont like him«, meinte aller­dings Ernesto aus Chile am Abend. Sich der Dinge zu bewusst: ein Kommentar, über den man nach­denken sollte.

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Allens Film bietet trotz solcher Einwände alles, was man von einem perfekten Eröff­nungs­film wie von einer Woody-Allen-Komödie erwarten darf: Große Party? Durchaus! Unter­hal­tung? Ganz klar. Seine tiefere Bedeutung liegt vor allem darin, dass er vorführt, dass die Dinge oft nicht so sind wie sie zu sein scheinen. Die Vermutung, dass es also nur um den Schein gehe, nicht um das, was »wirklich« dahinter steckt – dieser Gedanke lässt sich gut auch auf Cannes beziehen.

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Die Selbst­be­schrei­bung dieses Festival lautet: »Karneval der Tiere« – so heißt Saint-Saens' Suite, das die tradi­tio­nelle Begleit­me­lodie des Festi­val­trai­lers bildet, der vor jedem Film gezeigt wird, und den man auch beim Parcours auf dem roten Teppich spielt, wenn hier allabend­lich die Stars und ihre Regis­seure im Blitz­licht­ge­witter Hunderter von Photo­gra­phen den Weg ins Palais du Cinema beschreiten. Sie tun das vor Dutzenden von Fern­seh­ka­meras und vor manchmal mehreren tausend Fans, die sich krei­schend und johlend in dichten Trauben um den roten Teppich drängen.
Würde und Boulevard, eine fast höfische Zeremonie und die Vulga­rität eines Rummel­platzes, liegen eng beiein­ander in diesem Film­fes­tival, das ohne Frage das Wich­tigste der Welt ist, und selbst eine Art Karneval der Filmtiere, ein großer Menschen- und Kino-Zoo, in dem sich alles findet: Popu­listen und Autisten, Zarte und Enga­gierte, Händler und Helden, Autoren­filmer und Markt­schreier.

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Cannes, der erste Tag bevor es richtig losgeht, wie oft hab ich das schon erlebt? Die eigenen Vorbe­rei­tungen sind profes­sio­na­li­siert, Routine. Zugleich habe ich den Eindruck, dass diesmal am Dienstag alles voller und hekti­scher war, als sonst, die Schlangen länger. Oder die Leute haben einfach einen ähnlichen Rhythmus. Nil aus Istanbul ging es aller­dings am Dienstag ähnlich.
Ande­rer­seits meinte sie heute nach dem Eröff­nungs­film, ihr Eindruck sei, die Scree­nings seien ein bisschen leerer. Zumindest sind offenbar die Hotel­preise in diesem Jahr zurück­ge­gangen.

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Emma, die für einen Verleih arbeitet, erzählt von den horrenden Inter­view­preisen. 800 Euro zahlt der deutsche Verleih für jeden (!) deutschen Inter­view­platz in einem Round­table, 1200 gar für ein Ferse­h­in­ter­view, das dann 3-5 Minuten lang ist. Ohne Sende­ga­rantie!

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Ugo Busaporco, der italie­ni­sche Kritiker, der aus Verona kommt, erzählt, dass er in Cannes Venedig und sogar Berlin glück­li­cher sei, als zuhause, weil er dort frei sei, zuhause aber als Festi­val­leiter von Poli­ti­kern belämmert würde. Über seine Heimat­stadt sagt er: »If you want to know Verona, watch Senso from Visconti«, sagt Ugo, »the history of Verona is military and prosti­tutes.« Verona sei »die einzige Stadt Europas, die Gesetze gegen Homo­se­xu­elle erlassen hat, und deshalb jährlich eine Strafe an die EU zahlen muss.«
Zum Zustand der Film­kritik meint er: »I am very sad, today everyone produces high­ligh­t­ened noise-shit.«

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Gewettet hat Ugo bisher noch nicht. Die schon tradi­tio­nelle Wettrunde am Vorabend des Festivals zeigte sich ziemlich gespalten: Zweimal Jarmusch, ansonsten Park Chan-wook, Assayas, Jeff Nichols, Verhoeven. Ich selbst habe auf Maren Ade gesetzt – aus Über­zeu­gung, aber auch weil alle anderen Preise nicht weniger unwahr­schein­lich sind.

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Auch das bewährte Orakel der Firma Weltkino, die in den letzten Jahren immer den Sieger aller drei großen A-Festivals gekauft hatten, ist diesmal wenig aussa­ge­kräftig: Denn die Leipziger Firma hat gleich drei Filme gekauft: Die von Jim Jarmusch, von Xavier Dolan und von Olivier Assayas.

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»Hoffnung ist in diesem Jahr das Thema«, sagt Ernesto, »Glück, wir sind umgeben von Polizei und Über­wa­chungs­technik. Da muss das Kino einen Kontra­punkt setzen.«
»You Germans«, sagt er zu meiner Vermutung, die Waffen seien wohl kaum geladen. Selbst wenn das stimme: »There are Snipers in every building.« Chile­ni­sche Erfah­rungen.

(to be continued)