14.05.2016
69. Filmfestspiele Cannes 2016

Der Staat ist der Feind

Cristi Puius Sieranevada
Vollgestopft mit Menschen und Möbeln: Cristi Puius Sieranevada
(Foto: Arte France Cinéma)

Rumänen lügen nicht, Clash in Ägypten, und der gute Mensch von Newcastle – Cannes-Notizen, 4. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Saddam Hussein in die Knie zu zwingen, war den Tod von 500.000 iraki­schen Kindern wert.«
– Madeleine Albright, US-Außen­mi­nis­terin 1997-2001, zitiert im rumä­ni­schen Film Sier­an­evada

+ + +

Auf dem Weg zum Ken Loach-Film schwärmt Andreas vom BR über Allain Guirau­dies Rester vertical. Und sagt etwas Kluges: Der Film sei toll, »nur manchmal unnötig kompli­ziert«. Das ist natürlich ein guter Satz. Es ist schön, wenn ein Film kompli­ziert ist. Wenn er es dem Publikum nicht leicht macht, nicht um es buhlt, nicht auf den Strich geht. Aber es gibt auch das unnötig Kompli­zierte. Es gibt natürlich auch das unnötig Unkom­pli­zierte. Und das sehen wir im zeit­genös­si­schen Kino viel, viel mehr.

+ + +

Auch anderen ging es so wir mir: Man hat ein bisschen Angst, in einen neuen Ken-Loach-Film zu gehen. Auch hier wieder – wie Woody Allen – ein 80-jähriger, der seine besten Zeiten wirklich hinter sich hat, und dessen letzte Filme so schlecht waren. Dieser hier ist immerhin schon mal kurz.

+ + +

I, Daniel Blake erzählt von der Titel­figur, einem Zimmer­mann aus Newcastle im Nordosten, der bald ins Renten­alter kommt, und einen Herz­in­farkt hinter sich hat. Wir sehen ihm dabei zu, wie er mit den Behörden kämpft, wie er einer­seits wieder arbeiten will, dafür braucht er aber eine Beschei­ni­gung, die ihm das Gesund­heitsamt nicht ausstellen will. Er braucht Arbeits­lo­sen­ver­sor­gung, und er braucht eine Arbeits­be­fähig­keits­be­schei­din­gung.
Es ist ein aussichts­loser Kampf mit einer Hydra, der zusätz­lich dadurch depri­miert, dass Opa Blake offenbar noch nie mit Computern gear­beitet hat und deshalb nicht weiß, wie man eine Maus bedient, scrollt, etc. Das rührt, zugleich glaube ich, sind auch die meisten »kleinen Leute« nicht so doof und unwissend, wie Loach sie hier darstellt und idyl­li­siert.
Auch sonst ist Daniel naiv, und so grundgut, dass es etwas nervt. Mich jeden­falls. Er ist nett zu Schwarzen, gefal­lenen Frauen, Arbeits­kol­legen, zu Kindern. Er freut sich über Fußball. »Newcastle United« ist übrigens, btw, gerade an diesem Mittwoch endgültig aus der Premier League abge­stiegen.
Er ist der gute Mensch von Newcastle. Das rührt oft, aber ist auch naive Schwarz­weiß­ma­lerei und Kino als mora­li­sche Anstalt.
Ist nur mir aufge­fallen, dass der Zimmer­manns-Beruf ebenso eine christ­liche Metapher ist, wie die – ausge­rechnet! – Fische, die Daniel für die Kinder der allein­er­zie­henden Frau schnitzt, der er hilft?

+ + +

Dies ist kein Film, bei dem man lachen soll, wie sonst oft bei Loach. Inter­es­sant zu beob­achten, wie der forcierte Lachwille allzu­vieler Kollegen von Minute zu Minute erstarb.
Dies ist ein wütender, zorniger Film, und in Wut und Zorn liegt seine Stärke. Er will zeigen, wie die Behörden und die Büro­kratie die Menschen kaputt machen, wie Behörden und Büro­kratie vor allem dazu dienen, absurde Beschäf­ti­gungs­spiele zu erfinden und Formular- und Verfah­rens­kom­ple­xität so zu steigern, dass viele Leute frus­triert aufgeben oder scheitern, jeden­falls die Statistik befreien. »It’s a monu­mental farce«, sagt Daniel einmal, »wir schreiben Bewer­bungen für Jobs, die es nicht gibt. Das kostet mich Zeit, die Behörde Zeit, die Unter­nehmer Zeit«. Das Ziel sei, ihn langsam zu zermalmen.
Die Verant­wort­li­chen werden benannt: »All those fucking Tories.«

+ + +

Soweit kann ich die Agenda dieses Films unter­schreiben. Auch weiterhin: Denn Daniel scheitert an allen Fronten. Am Ende, kurz vor einem entschei­denden Verfahren, stirbt er an seinem zweiten Infarkt – auf der Behör­den­toi­lette.
Bei der Beer­di­gung wird dann seine sehr pathe­ti­sche Selbst­be­schrei­bung verlesen, eine typische Filmszene: »I am not a customer. I am not a client. I am not begging for anything. I am a citizen. Nothing more, nothing less.«
Da heißt es dann aber auch: »The state digged him to an early grave.« Der Staat ist der Feind. Das stimmt. Aber: der Staat sei der Feind sagen natürlich auch die Neoli­be­ralen.
Loach würde die Idee des Staates im Gegensatz zu diesen immer teilen. Er spielt nur die Realität gegen die Idee aus.
So lautet das Fazit: I, Daniel Blake ist besser als die letzten Loach-Filme. Trotzdem als Film überhaupt nicht aufregend, sondern vorher­sehbar, aber als poli­ti­sches Manifest stark.

+ + +

Donnerstag war ein anwechs­lungs­rei­cher Abend in unserem Lieb­lings­lokal »Le Crillon«. Zuerst mit Nil und Engin und anderen Freuden aus Istanbul, dann kam Emma dazu, die zum ersten Mal in Cannes ist, es aber geschafft hat, gleich am ersten Abend eine Karte für den Woody Allen im Lumière zu ergattern – »ich hab mit dem Mann am Akkre­di­tie­rungs­schalter geflirtet.«
Später dann Ernesto aus Chile, den ich auch immer hier treffe. Ich erzähle ihm vom ersten Abend, als an einem Tisch gleich sechs mexi­ka­ni­sche Frauen saßen, alle ziemlich gutaus­se­hend. Und ich, offenbar noch im Clark-Gable-Modus des 30er-Jahre Holly­woods bei Woody Allen fragte: »Girls, do you have a lighter for me!«, gingen drei Hände nach oben – »yeah,we have some fire.«
»The Mexicans – they are mad«, sagt Ernesto, und meint es als Lob. »Mexico, that is the future and the past.« Yucatan ist der Ort, an dem einst ein Asteroid die Erde traf: »Mexiko ist das Land, das Kontakt hatte. Es ist spiri­tuell anders als der Rest.«

+ + +

Der bisher beste Film im Wett­be­werb ist Sier­an­evada von Cristi Puiu aus dem Kino­wun­der­land Rumänien, der erste von gleich zwei rumä­ni­schen Filmen im Wett­be­werb. Ein bestechendes Werk, voller Dichte und Inten­sität. Ein kurz­wei­liger Film, trotz fast drei Stunden Laufzeit. Der größte Teil des Films spielt in einer Wohnung. Die bewegte Kamera sorgt dafür, dass bis zum Schluss vieles unüber­sicht­lich bleibt, aber trotzdem aus einem Guss.

Puiu erzählt anhand einer Haupt­figur, einem Arzt, von einer Familie, die sich an einem einzigen Tag – drei Tage nach dem »Charlie Hebdo«-Anschlägen – zu einer Fami­li­en­feier in einer Wohnung trifft. Ein Dutzend Leute kommen und gehen, außer den Fami­li­en­mit­glie­dern begegnet man noch ein paar Nachbarn, einem Priester mit seinem Gefolge, und einer Freundin einer 20-jährigen, die den ganzen Abend in der Wohnung abwech­selnd kotzt und schläft. Pack schlägt sich und verträgt sich. In den Gesprächen geht es um Sex und Paranoia, kleine und größere Sünden, auch die des Kommu­nismus und der ortho­doxen Kirche. Die Massaker beider Seiten werden erwähnt – »Wer hat mehr umge­bracht?« –, die jewei­ligen Feinde sehen in Kirche wie Kommu­nismus das Böse schlechthin. Der 11. September und Fukushima. Im Zentrum steht weniger die Liebe, als ein sehr warm­her­ziger Humor. Und stilis­tisch sind Regie und Kamera dieses Films ebenso großartig wie die Darsteller: Erstaun­lich, mit welch geringen Mitteln den Rumänen immer wieder Inten­sität und drama­tur­gi­sche Dichte gelingen, die wahr­haf­tiger ist, als das star­ge­spickte Hollywood – davon können viele größere Kino­na­tionen eine Menge lernen. Das ist ganz einfach und so schwer.

+ + +

Allein die Anfangs­szene, in der die Haupt­figur und seine Ehefrau im Auto sitzen, hätte kaum ein deutscher Regisseur so hinbe­kommen, so einfach, klar, die Figuren umfassend charak­te­ri­sie­rend.
Dabei Dialoge über eine Kinder­feier, der lustige Streit über das Verhältnis von Disneys Schnee­witt­chen zur Vorlage der Brüder Grimm. »Disney macht, was es will«, »Religion ist Opium fürs Volk«, »Die Kirche soll erstmal Steuern zahlen.«
Erstaun­lich, wie hier alle Erwar­tungen an das Kino erfüllt werden, ohne dass der Film alles bedient.

+ + +

Erstaun­lich auch, wie sich diese rumä­ni­schen Filme ähneln: Immer wieder über­ra­schend große Wohnungen (fünf oder sechs Zimmer, zwei Bäder), deren Raum durch allerlei alte, zusam­men­ge­tra­gene Möbel über­trieben voll­ge­stopft und verengt ist, und durch die Menschen noch zusätz­lich enger wird.
Immer wieder Hektik: Ein ständiges Hin und Her: Türen gehen auf und zu, Menschen wechseln Räume, Gesprächs­themen, Seelen­zu­stände. Einer weint, ein anderer lacht, alle schreien sich an. Es ist peinlich und intim und für und Außen­ste­hende sehr lustig.
Es geht um Doppel­moral, es geht um enttäuschte Erwar­tungen, um Verdacht und stille Vorwürfe, um den Preis des Alterns. Es geht also um das ganz normale Leben, weniger bürger­lich als in dänischen Dogma-Filmen, diesen aber doch in vielem ähnlich, aber mit weniger Moral ausge­stattet, südlän­di­scher also, leben­diger.

+ + +

Es ist eine groß­ar­tige Insze­nie­rungs­leis­tung Puius, die allemal den Regie­preis wert ist: Wie hier alles ganz selbst­ver­s­tänd­lich wirkt, wie gerade spontan gesche­hend. Und das ist natürlich insze­niert. so wie man während des Films überlegt, ob hier einer die Kamera überhaupt mal ausmacht, oder a la Victoria aus einer Einstel­lung erzählt würde. Natürlich wird geschnitten.
Ein faszi­nie­render Film, der einmal mehr auch die Stärke von Cannes belegt, die Fähigkeit des Festivals, zu fesseln wie zu über­ra­schen. Und in Cannes trium­phiert die Über­ra­schung noch immer über das Vertraute.

+ + +

»Will­kommen im Lieb­lings­saal von Jean-Luc Godard!« sagt Thierry Frémaux, der künst­le­ri­sche Leiter von Cannes im »Salle Debussy«, dem zweit­größten Kino des Festivals. Hier finden die meisten Pres­se­vor­füh­rungen statt, und auch die Premieren der Reihe »Un Certain Regard«, der zweit­wich­tigsten Sektion des Festivals.
Am Donners­tag­abend wird eröffnet, es läuft der ägyp­ti­sche Film Eshtebak (Clash) von Mohammed Diab. Bevior es losgeht, werden aber erst einmal das Programm der Sektion und die Jury vorge­stellt: Über die dies­jäh­rigen fünf Preise entscheiden die Öster­rei­cherin Jessica Hausner, der Schwede Ruben Ostlund, die Französin Celine Salette und Diego Luna. Der Mexikaner lobt das Festival bei seiner Vorstel­lung am char­man­testen: Es sei »ein geniales Geschenk« hier in der Jury zu sein, »eines Tages waren wir hier mit unseren Filmen«, jetzt entscheide man über Preise und »Un Certain Regard« sei »die beste Sektion dieses Festivals«. Präsi­dentin ist die Schwei­zerin Marthe Keller, die auf der Bühne einmal mehr toll aussieht – wie alt ist sie eigent­lich? 71, sagt Wikipedia.
Hier in Cannes ist die Neben­reihe wirklich Teil des Festivals. Der Direktor stellt sie vor. Undenkbar, dass Dieter Kosslik bei der Berlinale das Panorama so präsen­tierte.

+ + +

Vor zwölf oder elf Jahren, als ich noch »Korre­spon­dent« der Semaine de la Critique war, habe ich Nicole Gerhards hier in Cannes kennen­ge­lernt. Die Berliner Produ­zentin von »NiKo Film« schafft es immer wieder, bei den ganz großen Festival vertreten zu sein. Emily Atefs Das Fremde in mir lief 2008 in der Semaine. Jetzt hat sie den Eröff­nungs­film kopro­du­ziert.
Vorne auf der Bühne stehen dann irgend­wann 28 (!) Leute, der Regisseur sagt »I am proud to be here« und sagt auch, dass die Cannes-Teilnahme den Film vor der Zensur retten könne: »Being here is giving the film a better chance.«

+ + +

Die hat Clash verdient, aber auch nötig. Der Film bietet anfangs, hart gesagt, poli­ti­sches Bauern­theater: Naiv aber sympa­thisch. Mit der Zeit wird es besser. Erzählt wird aus dem Jahr 2013, dem Jahr der Absetzung der demo­kra­tisch gewählten, aber unde­mo­kra­tisch agie­renden Regierung Mursi der isla­mis­ti­schen Muslim­brüder durch das laizis­tisch orien­tierte Militär. Bei uns nennt man das Putsch und empört sich über Präsident Sidi, vergisst dabei aber gern, dass die Proteste gegen die Muslim­brüder die größten in Ägyptens Geschichte waren, weit größer, als die Arabel­lion.
Der Film versam­melt ca 15 Figuren in einem Gefäng­nis­wagen der Polizei. Sie stammen aus verschie­densten poli­ti­schen und sozialen Gruppen. Anfangs zerflei­schen sie sich, dann soli­da­ri­sieren sie sich. Ereig­nisse peppen das Ganze zusätz­lich auf. Aber alles wirkt berechnet, alle Figuren sind bis zum Schluss Bedeu­tungs­träger, die ihre Stand­punkte getreu­lich aufsagen, alles ist recht natu­ra­lis­tisch erzählt, wenn auch erhitzt.
Der Film ist inter­es­sant, solide, aber nicht richtig gut.

(to be continued)