69. Filmfestspiele Cannes 2016
Der Staat ist der Feind |
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Vollgestopft mit Menschen und Möbeln: Cristi Puius Sieranevada | ||
(Foto: Arte France Cinéma) |
»Saddam Hussein in die Knie zu zwingen, war den Tod von 500.000 irakischen Kindern wert.«
– Madeleine Albright, US-Außenministerin 1997-2001, zitiert im rumänischen Film Sieranevada
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Auf dem Weg zum Ken Loach-Film schwärmt Andreas vom BR über Allain Guiraudies Rester vertical. Und sagt etwas Kluges: Der Film sei toll, »nur manchmal unnötig kompliziert«. Das ist natürlich ein guter Satz. Es ist schön, wenn ein Film kompliziert ist. Wenn er es dem Publikum nicht leicht macht, nicht um es buhlt, nicht auf den Strich geht. Aber es gibt auch das unnötig Komplizierte. Es gibt natürlich auch das unnötig Unkomplizierte. Und das sehen wir im zeitgenössischen Kino viel, viel mehr.
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Auch anderen ging es so wir mir: Man hat ein bisschen Angst, in einen neuen Ken-Loach-Film zu gehen. Auch hier wieder – wie Woody Allen – ein 80-jähriger, der seine besten Zeiten wirklich hinter sich hat, und dessen letzte Filme so schlecht waren. Dieser hier ist immerhin schon mal kurz.
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I, Daniel Blake erzählt von der Titelfigur, einem Zimmermann aus Newcastle im Nordosten, der bald ins Rentenalter kommt, und einen Herzinfarkt hinter sich hat. Wir sehen ihm dabei zu, wie er mit den Behörden kämpft, wie er einerseits wieder arbeiten will, dafür braucht er aber eine Bescheinigung, die ihm das Gesundheitsamt nicht ausstellen will. Er braucht Arbeitslosenversorgung, und er
braucht eine Arbeitsbefähigkeitsbescheidingung.
Es ist ein aussichtsloser Kampf mit einer Hydra, der zusätzlich dadurch deprimiert, dass Opa Blake offenbar noch nie mit Computern gearbeitet hat und deshalb nicht weiß, wie man eine Maus bedient, scrollt, etc. Das rührt, zugleich glaube ich, sind auch die meisten »kleinen Leute« nicht so doof und unwissend, wie Loach sie hier darstellt und idyllisiert.
Auch sonst ist Daniel naiv, und so grundgut, dass es etwas nervt. Mich
jedenfalls. Er ist nett zu Schwarzen, gefallenen Frauen, Arbeitskollegen, zu Kindern. Er freut sich über Fußball. »Newcastle United« ist übrigens, btw, gerade an diesem Mittwoch endgültig aus der Premier League abgestiegen.
Er ist der gute Mensch von Newcastle. Das rührt oft, aber ist auch naive Schwarzweißmalerei und Kino als moralische Anstalt.
Ist nur mir aufgefallen, dass der Zimmermanns-Beruf ebenso eine christliche Metapher ist, wie die – ausgerechnet! –
Fische, die Daniel für die Kinder der alleinerziehenden Frau schnitzt, der er hilft?
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Dies ist kein Film, bei dem man lachen soll, wie sonst oft bei Loach. Interessant zu beobachten, wie der forcierte Lachwille allzuvieler Kollegen von Minute zu Minute erstarb.
Dies ist ein wütender, zorniger Film, und in Wut und Zorn liegt seine Stärke. Er will zeigen, wie die Behörden und die Bürokratie die Menschen kaputt machen, wie Behörden und Bürokratie vor allem dazu dienen, absurde Beschäftigungsspiele zu erfinden und Formular- und Verfahrenskomplexität so zu
steigern, dass viele Leute frustriert aufgeben oder scheitern, jedenfalls die Statistik befreien. »It’s a monumental farce«, sagt Daniel einmal, »wir schreiben Bewerbungen für Jobs, die es nicht gibt. Das kostet mich Zeit, die Behörde Zeit, die Unternehmer Zeit«. Das Ziel sei, ihn langsam zu zermalmen.
Die Verantwortlichen werden benannt: »All those fucking Tories.«
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Soweit kann ich die Agenda dieses Films unterschreiben. Auch weiterhin: Denn Daniel scheitert an allen Fronten. Am Ende, kurz vor einem entscheidenden Verfahren, stirbt er an seinem zweiten Infarkt – auf der Behördentoilette.
Bei der Beerdigung wird dann seine sehr pathetische Selbstbeschreibung verlesen, eine typische Filmszene: »I am not a customer. I am not a client. I am not begging for anything. I am a citizen. Nothing more, nothing less.«
Da heißt es dann aber
auch: »The state digged him to an early grave.« Der Staat ist der Feind. Das stimmt. Aber: der Staat sei der Feind sagen natürlich auch die Neoliberalen.
Loach würde die Idee des Staates im Gegensatz zu diesen immer teilen. Er spielt nur die Realität gegen die Idee aus.
So lautet das Fazit: I, Daniel Blake ist besser als die letzten Loach-Filme. Trotzdem als Film überhaupt nicht aufregend,
sondern vorhersehbar, aber als politisches Manifest stark.
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Donnerstag war ein anwechslungsreicher Abend in unserem Lieblingslokal »Le Crillon«. Zuerst mit Nil und Engin und anderen Freuden aus Istanbul, dann kam Emma dazu, die zum ersten Mal in Cannes ist, es aber geschafft hat, gleich am ersten Abend eine Karte für den Woody Allen im Lumière zu ergattern – »ich hab mit dem Mann am Akkreditierungsschalter geflirtet.«
Später dann Ernesto aus Chile, den ich auch immer hier treffe. Ich erzähle ihm vom ersten Abend, als an einem Tisch
gleich sechs mexikanische Frauen saßen, alle ziemlich gutaussehend. Und ich, offenbar noch im Clark-Gable-Modus des 30er-Jahre Hollywoods bei Woody Allen fragte: »Girls, do you have a lighter for me!«, gingen drei Hände nach oben – »yeah,we have some fire.«
»The Mexicans – they are mad«, sagt Ernesto, und meint es als Lob. »Mexico, that is the future and the past.« Yucatan ist der Ort, an dem einst ein Asteroid die Erde traf: »Mexiko ist das Land, das Kontakt hatte. Es ist
spirituell anders als der Rest.«
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Der bisher beste Film im Wettbewerb ist Sieranevada von Cristi Puiu aus dem Kinowunderland Rumänien, der erste von gleich zwei rumänischen Filmen im Wettbewerb. Ein bestechendes Werk, voller Dichte und Intensität. Ein kurzweiliger Film, trotz fast drei Stunden Laufzeit. Der größte Teil des Films spielt in einer Wohnung. Die bewegte Kamera sorgt dafür, dass bis zum Schluss vieles unübersichtlich bleibt, aber trotzdem aus einem Guss.
Puiu erzählt anhand einer Hauptfigur, einem Arzt, von einer Familie, die sich an einem einzigen Tag – drei Tage nach dem »Charlie Hebdo«-Anschlägen – zu einer Familienfeier in einer Wohnung trifft. Ein Dutzend Leute kommen und gehen, außer den Familienmitgliedern begegnet man noch ein paar Nachbarn, einem Priester mit seinem Gefolge, und einer Freundin einer 20-jährigen, die den ganzen Abend in der Wohnung abwechselnd kotzt und schläft. Pack schlägt sich und verträgt sich. In den Gesprächen geht es um Sex und Paranoia, kleine und größere Sünden, auch die des Kommunismus und der orthodoxen Kirche. Die Massaker beider Seiten werden erwähnt – »Wer hat mehr umgebracht?« –, die jeweiligen Feinde sehen in Kirche wie Kommunismus das Böse schlechthin. Der 11. September und Fukushima. Im Zentrum steht weniger die Liebe, als ein sehr warmherziger Humor. Und stilistisch sind Regie und Kamera dieses Films ebenso großartig wie die Darsteller: Erstaunlich, mit welch geringen Mitteln den Rumänen immer wieder Intensität und dramaturgische Dichte gelingen, die wahrhaftiger ist, als das stargespickte Hollywood – davon können viele größere Kinonationen eine Menge lernen. Das ist ganz einfach und so schwer.
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Allein die Anfangsszene, in der die Hauptfigur und seine Ehefrau im Auto sitzen, hätte kaum ein deutscher Regisseur so hinbekommen, so einfach, klar, die Figuren umfassend charakterisierend.
Dabei Dialoge über eine Kinderfeier, der lustige Streit über das Verhältnis von Disneys Schneewittchen zur Vorlage der Brüder Grimm. »Disney macht, was es will«, »Religion ist Opium fürs Volk«, »Die Kirche soll erstmal Steuern zahlen.«
Erstaunlich, wie hier alle Erwartungen an das Kino
erfüllt werden, ohne dass der Film alles bedient.
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Erstaunlich auch, wie sich diese rumänischen Filme ähneln: Immer wieder überraschend große Wohnungen (fünf oder sechs Zimmer, zwei Bäder), deren Raum durch allerlei alte, zusammengetragene Möbel übertrieben vollgestopft und verengt ist, und durch die Menschen noch zusätzlich enger wird.
Immer wieder Hektik: Ein ständiges Hin und Her: Türen gehen auf und zu, Menschen wechseln Räume, Gesprächsthemen, Seelenzustände. Einer weint, ein anderer lacht, alle schreien sich an. Es
ist peinlich und intim und für und Außenstehende sehr lustig.
Es geht um Doppelmoral, es geht um enttäuschte Erwartungen, um Verdacht und stille Vorwürfe, um den Preis des Alterns. Es geht also um das ganz normale Leben, weniger bürgerlich als in dänischen Dogma-Filmen, diesen aber doch in vielem ähnlich, aber mit weniger Moral ausgestattet, südländischer also, lebendiger.
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Es ist eine großartige Inszenierungsleistung Puius, die allemal den Regiepreis wert ist: Wie hier alles ganz selbstverständlich wirkt, wie gerade spontan geschehend. Und das ist natürlich inszeniert. so wie man während des Films überlegt, ob hier einer die Kamera überhaupt mal ausmacht, oder a la Victoria aus einer Einstellung erzählt würde. Natürlich wird geschnitten.
Ein
faszinierender Film, der einmal mehr auch die Stärke von Cannes belegt, die Fähigkeit des Festivals, zu fesseln wie zu überraschen. Und in Cannes triumphiert die Überraschung noch immer über das Vertraute.
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»Willkommen im Lieblingssaal von Jean-Luc Godard!« sagt Thierry Frémaux, der künstlerische Leiter von Cannes im »Salle Debussy«, dem zweitgrößten Kino des Festivals. Hier finden die meisten Pressevorführungen statt, und auch die Premieren der Reihe »Un Certain Regard«, der zweitwichtigsten Sektion des Festivals.
Am Donnerstagabend wird eröffnet, es läuft der ägyptische Film Eshtebak (Clash) von Mohammed Diab. Bevior es losgeht, werden aber erst einmal das Programm der Sektion und die Jury vorgestellt: Über die diesjährigen fünf Preise entscheiden die Österreicherin Jessica Hausner, der Schwede Ruben Ostlund, die Französin Celine Salette und Diego Luna. Der Mexikaner lobt das Festival bei seiner Vorstellung am charmantesten: Es sei »ein geniales
Geschenk« hier in der Jury zu sein, »eines Tages waren wir hier mit unseren Filmen«, jetzt entscheide man über Preise und »Un Certain Regard« sei »die beste Sektion dieses Festivals«. Präsidentin ist die Schweizerin Marthe Keller, die auf der Bühne einmal mehr toll aussieht – wie alt ist sie eigentlich? 71, sagt Wikipedia.
Hier in Cannes ist die Nebenreihe wirklich Teil des Festivals. Der Direktor stellt sie vor. Undenkbar, dass Dieter Kosslik bei der Berlinale das Panorama so
präsentierte.
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Vor zwölf oder elf Jahren, als ich noch »Korrespondent« der Semaine de la Critique war, habe ich Nicole Gerhards hier in Cannes kennengelernt. Die Berliner Produzentin von »NiKo Film« schafft es immer wieder, bei den ganz großen Festival vertreten zu sein. Emily Atefs Das Fremde in mir lief 2008 in der Semaine. Jetzt hat sie den Eröffnungsfilm koproduziert.
Vorne auf der Bühne stehen dann
irgendwann 28 (!) Leute, der Regisseur sagt »I am proud to be here« und sagt auch, dass die Cannes-Teilnahme den Film vor der Zensur retten könne: »Being here is giving the film a better chance.«
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Die hat Clash verdient, aber auch nötig. Der Film bietet anfangs, hart gesagt, politisches Bauerntheater: Naiv aber sympathisch. Mit der Zeit wird es besser. Erzählt wird aus dem Jahr 2013, dem Jahr der Absetzung der demokratisch gewählten, aber undemokratisch agierenden Regierung Mursi der islamistischen Muslimbrüder durch das laizistisch orientierte Militär. Bei uns nennt
man das Putsch und empört sich über Präsident Sidi, vergisst dabei aber gern, dass die Proteste gegen die Muslimbrüder die größten in Ägyptens Geschichte waren, weit größer, als die Arabellion.
Der Film versammelt ca 15 Figuren in einem Gefängniswagen der Polizei. Sie stammen aus verschiedensten politischen und sozialen Gruppen. Anfangs zerfleischen sie sich, dann solidarisieren sie sich. Ereignisse peppen das Ganze zusätzlich auf. Aber alles wirkt berechnet, alle Figuren sind
bis zum Schluss Bedeutungsträger, die ihre Standpunkte getreulich aufsagen, alles ist recht naturalistisch erzählt, wenn auch erhitzt.
Der Film ist interessant, solide, aber nicht richtig gut.
(to be continued)