21.07.2016
Cinema Moralia – Folge 136

Und das Leben geht weiter...

FADO
Szene aus Veit Harlans Opfergang
(Foto: Deutsche Kinemathek)

Geschichte und Gegenwart, die schleichende Rückkehr des NS-Kinos ins öffentliche Bewußtsein und andere Schatten der Geschichte, der Tod von Abbas Kiarostami und Götz George – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 136. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Die Fälschung unter­scheidet sich vom Original dadurch, dass sie echter aussieht.«
Ernst Bloch

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Ein Gerücht hält sich harttnä­ckig: Dass in Deutsch­land Filme der Nazi-Zeit verboten seien. Noch der Titel eines Doku­men­tar­films sugge­rierte das vor wenigen Jahren. Tatsäch­lich ist nichts verboten. Sie stehen nur unter Vorbehalt. Das heißt, sie dürfen nur im Rahmen wissen­schaft­li­cher Veran­stal­tungen oder begleitet von der Einfüh­rung eines Experten gezeigt werden. Das geht auf einen Beschluss der Alli­ierten von 1945 zurück.
Man kann darüber streiten, denn die eigent­lich gefähr­li­chen – also sugges­tiven, nicht plumpen – NS-Filme stehen nicht unter Vorbehalt. Man kann sie-, und nahezu 90 Prozent des NS-Bestands der Murnau-Stiftung wie auch fast alle der noch gut 40 Vorbe­halts­filme derzeit längst auf You-Tube einsehen, wenn auch zum Teil in lausigen Kopien, denen man auch nicht immer trauen kann. Etwa Morgenrot von 1932, den ersten Film, den Hitler nach der Ernennung zum Reichs­kanzler am 2.2.1933 im Berliner Ufa-Palast am Zoo anschaute, ein im Ersten Weltkrieg ange­sie­delter U-Boot-Opfergang, findet man in mehreren Fassungen, die aber alle nicht volls­tändig sind.
Dieses Massen­kino und der Unter­hal­tungs­film, nicht »der« »Propa­gan­da­film«, sind wirklich gefähr­lich. Ein breiter film­wis­sen­schaft­li­cher Konsens besteht inzwi­schen darin, dass jeder deutsche Film nach 1933 vom Regime auch propa­gan­dis­tisch funk­tio­na­li­siert wurde – dass diese Indienst­nahme aber keines­wegs in jedem Fall den film-ästhe­ti­schen Wert noch den Unter­hal­tungs­cha­rakter des jewei­ligen Werkes einschränkt.
Trotzdem das Grund­ge­setz klar formu­liert, »Zensur findet nicht statt«, gibt es von den meisten NS-Filmen keine wissen­schaft­lich-kritische Ausgabe – im Unter­schied zu plumper Propa­ganda in Schrift­form wie Hitlers »Mein Kampf« –, was im Umkehr­schluss nur zeigt, für wie bedeutend und gefähr­lich man bei den Verant­wort­li­chen das NS-Kino offenbar hält. Die in Deutsch­land missliche Lage eines Urhe­ber­rechts, das die Urheber nicht schützt, Künstler und Wissen­schaftler benach­tei­ligt, und nur den Verwer­tern und in diesem Fall de facto zu 90 Prozent den Erben alter Nazis dient, tut ein Übriges. Zuwenig nutzt die Öffent­lich­keit, nutzen auch die Medien bislang den vom Zitat­recht gesetzten recht­li­chen Rahmen in vollem Umfang aus, nach dem auch ein »Zensur­ef­fekt de facto« vom Art 5 GG untersagt wird.

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Jetzt aber kommt Bewegung in die Ange­le­gen­heit: Recht­zeitig zum bevor­ste­henden hundert­jäh­rigen Jubiläum der Ufa im kommenden Jahr und der erst­ma­ligen Heraus­gabe zweier berühmter NS-Filme – Veit Harlans Todesmelo Opfergang, ein deutsches Vertigo, und der Storm-Verfil­mung Immensee – auf DVD/BluRay durch Concorde hat das Bundes­kul­tur­mi­nis­te­rium (BKM) gerade einen eher vor der Öffent­lich­keit versteckten, sagen wir: diskret gehand­habten »Runden Tisch« zum Thema veran­staltet, bei dem die deutschen Film-Archive ebenso gehört wurden, wie die FSK und der Zentralrat der Juden.
Ein solches Treffen war dringend nötig. Denn die schlei­chende Rückkehr des NS-Kinos ins öffent­liche Bewusst­sein findet längst statt, das öffent­liche Interesse an Vorbe­halts­filmen und dem NS-Kino wird im In- und Ausland immer größer. Zugleich sind die Filme wie alles analoge Film­ma­te­rial von Zerfall bedroht. Ohne Restau­rie­rung und Digi­ta­li­sie­rung würden diese Filme früher oder später aus dem öffent­li­chen Bewusst­sein verschwinden.
Aber bei den soge­nannten Vorbe­halts­filmen handelt es sich um einen essen­zi­ellen Teil des deutschen Filmerbes, das eine ebenso sorgsame Behand­lung zu erfahren hat, wie das Kino aller anderen Epochen. Das Filmerbe ist unteilbar, man kann und darf seinen unge­liebten Teil nicht ausschlagen. Denn das Verdrängte kehrt zurück, ist schon zurück­ge­kehrt – man sieht es jeden Tag im deutschen Kino.

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Im Übrigen: Ein Nazi, ob Alt oder Neo, der einen Vorbe­halts­film sehen will, kann das ohne Probleme tun: es gibt entspre­chende Netzwerke, zu denen gerade jene, die sich unver­dächtig infor­mieren wollen, keinen Zugang haben. Ihnen sollte man sorg­fältig edierte und gut kommen­tierte Ausgaben zur Verfügung stellen.
Vergleichbar mit der kriti­schen Edition von »Mein Kampf« sollten – »gerade heute«! – wissen­schaft­lich aufbe­rei­tete Fassungen wichtiger NS-Filme zugäng­lich gemacht werden.
Erst mit breit zugäng­li­chen, nur im Einzel­fall restriktiv gehand­habten Ausgaben wäre eine reflek­tierte, von Experten ange­lei­tete Rezeption dieser Filme im Kino möglich.

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Vor über 83 Jahren ging der Berliner Reichstag in Flammen auf. Die Folgen sind bekannt, die Hinter­gründe bis heute unklar. Wenn auch bis heute ungeklärt ist, wer den Reichstag tatsäch­lich ange­zündet hat, ist eines unbe­stritten: Der Brand nützte den Natio­nal­so­zia­listen, die nun den will­kom­menen Vorwand hatten, um in der Folge ihre Gegner zu verhaften, einzu­sperren, in die Flucht zu treiben oder zu töten. Der Brand war dafür der äußere, höchst will­kom­mene Anlass. Ein Gottes­ge­schenk sozusagen.
Auch wenn sich der Brand scheinbar gegen die NS-Regierung richtete – er nutzte ihr. Es gibt gute Gründe zu vermuten, dass die Nazis ihn selbst gelegt und den poten­zi­ellen Staats­streich insze­niert haben, um damit einen Vorwand für die Ausschal­tung ihrer Gegner zu schaffen. Das Verhalten von Göring und anderen NS-Amts­trä­gern ist verdächtig. Deckten sie den Rückzug anderer Brand­stifter? Es gibt viele Unge­reimt­heiten und offene Fragen.

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Heute vor 72 Jahren miss­glückte das Attentat gegen Hitler. Man feiert die Atten­täter als Helden, zu Recht, auch wenn sich unter ihnen nicht wenige befanden, die über­zeugte Anti­de­mo­kraten waren, oder Ex-Nazi-Bonzen wie der immer gern von den Atten­tats­his­to­ri­kern aus Scham­ge­fühl unter den Teppich gekehrte SA-Graf Wolf-Heinrich von Helldorff, der gerade noch in dem sonst erstaun­lich geglückten ARD/arte-Doku-Drama »Der Traum von Olympia« die Schur­ken­rolle zu spielen hatte. Wäre das Attentat seiner­zeit geglückt, hätten man es einen »Mili­tär­putsch« genannt.
Oder ein zweites Gedan­ken­spiel: Wenn die Reichs­wehr 1934 gegen die Nazis geputscht und Hitler getötet hätte – wären sie unsere Helden oder üble Caudillos? Würden wir diese Gewalt richtig finden oder auf dem Grundsatz der »Gewalt­frei­heit unter allen Umständen« beharren?
Mich wundert jeden­falls die Einstim­mig­keit mit der alle den Mili­tär­putsch in der Türkei verur­teilen und sich freuen, dass die »demo­kra­tisch gewählte Regierung« den Putsch abwehren konnte. Auch Hitler wurde seiner­zeit »demo­kra­tisch gewählt.«
Also etwas mehr Gehirn­schmalz und Argumente bitte.

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In Berlin fand heute im Bend­ler­block ein feier­li­ches Gelöbnis und viel Mili­tär­ka­pel­len­musik statt – der Geist Stauf­fen­bergs wird bedient. Merk­würdig und bei aller Terror­ge­fahr doch gerade der Armee einer wehr­haften Demo­kratie unan­ge­messen wirkt aber, dass dieses Tsching­d­erassabum unter Ausschluss der Öffent­lich­keit statt­findet, dass das Gelöbnis der Bürger­armee vor den Bürgern mit weit­rei­chenden Absper­rungen offenbar geschützt werden muss.

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»Wer sich dem Sog fremder Phantasie nie ausge­setzt hat, kann sehr schwer eigene entwi­ckeln; kann Bedro­hungen und Zwänge der wirk­li­chen Welt kaum Aktivität entge­gen­setzen, nicht einmal Toleranz. Denn der, der Muße nicht kennen­ge­lernt hat, bleibt ohne Initia­tive. Der Mensch, der nicht träumt, wird wahn­sinnig. Eine Gesell­schaft, die den Traum wegfil­tert, ist anfällig dem Wahn. 'Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer', heißt eines der eindrucks­vollsten von Goyas Capric­cios. Intel­lek­tu­eller Trägheit entspricht schnell mora­li­sche Leere. Sie ist auffüllbar zum Beispiel mit poli­ti­schem Chaos.«
Fritz J. Raddatz

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Der Wind wird uns tragen, Der Geschmack der Kirsche, Wo ist das Haus meines Freundes?, Und das Leben geht weiter – schon die Titel seiner Filme atmen eine ihrer wesent­li­chen Eigen­schaften: Das lyrische Element durch­zieht das Werk des persi­schen Regis­seurs Abbas Kiaros­tami.
Kiaros­t­amis Filme waren auf den ersten Blick einfach und direkt, auf den zweiten eröff­neten sie ein ganzes Kalei­do­skop von Ebenen, Bedeu­tungen und Vers­tänd­nis­mög­lich­keiten. Es ist ein Werk voller Wider­sprüche: Kiaros­tami war ein Kenner der Film­ge­schichte, doch er arbeitete gern mit Laien, und schätzte die Impro­vi­sa­tion. Von der Welt zeigte er lange ein quasi natu­ra­lis­ti­sches Bild, zeigte Vorge­fun­denes. Zugleich hatte er keine Scheu, seine Bilder dann mit Vivaldi oder Mozart zu unter­legen.
Kiaros­t­amis Kino war langsam und er erzählte mit Plan­se­quenzen, die dem Zuschauer viel Zeit gaben, sich auf die Welt einzu­lassen, die sie zeigten. Aber diese langen Einstel­lungen hatten immer etwas ganz Heiteres und Selbst­ver­s­tänd­li­ches, sie wirkten nie so manie­riert und bemüht, nie so bedeu­tungs­schwer und symbo­lis­tisch wie 80 Prozent des gegen­wär­tigen Kunst-Kinos. In dieser Selbst­ver­s­tänd­lich­keit lag die ganze Kunst und das Geheimnis dieses Regis­seurs.
In den 90er Jahren hatte Kiaros­tami seine große Zeit. Da wurde er und mit ihm das ganze iranische Autoren­kino für den Westen entdeckt, ein Kino, das so anders war, als der Autoren­film des Westens. Aufge­wachsen war Kiaros­tami als Sohn eines Fres­ken­ma­lers, nach einem Kunst­stu­dium war er zunächst Werbe­filmer gewesen, und hatte in den 70ern mit Spiel­filmen begonnen. Von Anfang an nutzte er die Lücken der strikten Zensur und prägte mit zwei prin­zi­pi­ellen Entschei­dungen – die auch von vielen Kollegen über­nommen werden – das Gesicht des persi­schen Kinos bis heute: Viele seiner Filme stellen Kinder ins Zentrum, weil die auf der Leinwand Dinge alle­go­risch tun und stell­ver­tre­tend erleben dürfen, die Erwach­senen dort versagt sind – und er drehte gern in Autos: Weil das Auto gewis­ser­maßen ein dritter, der reli­giösen Zensur schwer fassbarer Raum ist, nicht recht drinnen, aber auch nicht draußen. Dort spielt Ten, ein in zehn Einstel­lungen gedrehter Film, komplett, aber auch ein Großteil von Der Geschmack der Kirsche, mit dem Kiaros­tami 1997 die Goldene Palme von Cannes gewann. So war Kiaros­tami, der jetzt in seiner zweiten Heimat Paris an Krebs gestorben ist, kein Regisseur direkt poli­ti­scher Filme, aber einer, der politisch Filme machte.

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Im groß­ar­tigen Haliflor, das eine feste Bank ist, wenn man mittwochs ein CM fertig­schreiben will, treffe ich Sasha, die ich aus Postdam kenne, wo sie Film studiert, die ursprüng­lich aus Serbien kommt, und die mir vom jugo­sla­wi­schen Archiv erzählt. Wir reden über Kusturica, Tito und Veit Harlan, was für eine Kombi­na­tion. Under­ground war der aller­erste Film, über den ich was in einer Zeitung schrieb, 1996 in der längst verges­senen »Wochen­post«. Aus den Boxen läuft »Tu vou fa americano«, ein tolles Lied aus der Nach­kriegs­zeit. »Wir müssen es abschüt­teln« sagt Sasha – aber was genau?

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Götz George ist auch gestorben, was mich weniger berührt hat, als bei Kiaros­tami. Im Radio habe ich darüber geredet, und mich schwer getan, ganz fair zu sein. Wie redet man über einen groß­ar­tigen Schau­spieler, der als solcher doch auch ganz klare Grenzen gehabt hat, und wie lässt man wenigs­tens durch­bli­cken, dass der Mann ein Kotz­bro­cken sein konnte, ein unglaub­lich eitler obendrein?
Man vergisst gern, wie erotisch er wirkte. Er war ein Sex-Symbol, er war längst nicht so steif wie die über­wie­gende Zahl dieser deutschen Post-NS-Körper des Nach­kriegs­kinos.
Auf die Frage, wie George, dem ich zweimal begegnet bin, persön­lich war, kann ich so freund­lich wie wahr­heits­gemäß sagen, dass George sensibel war. Das bedeutet ja aufnah­me­fähig, offen, geöffnet und demzu­folge verwundbar auch, verwundbar im besten Sinn des Wortes – aber manchmal auch im schlech­testen: über­emp­find­lich, er konnte sich so verhalten, dass es zumindest eitel und arrogant wirkte. Dahinter steckte ohne Frage eine tiefe, nie erfüllte Sehnsucht nach Liebe und Aner­ken­nung. Ob die gezeigte Beschei­den­heit echt war? Hard to tell.
Seine wich­tigsten Rollen? Da muss man natürlich die des Schi­manski nennen. Die Figur hat George zwar nicht erfunden, aber er ist mit ihr verschmolzen, und hat für eine bestimmte Zeit mit ihr den Fern­seh­krimi revo­lu­tio­niert.
Noch ein Fern­seh­film muss genannt werden: Aus einem deutschen Leben von Kotulla, dann natürlich der Totmacher von Karmakar. Die abgrün­digen Bösen hat er weniger gut gespielt, sein Mengele in einem fast verges­senen Film ist peinlich und sein Auftritt als sein Vater im Dokudrama George zeigt nur, wie meilen­weit entfernt er von dessen Quali­täten immer blieb. Er stand auch immer im Schatten Heinrich Georges und mir scheint, dass er am besten immer dann war, wenn er eine Rolle spielte, in der man sich seinen furcht­baren auch furchtbar genialen Alten nicht vorstellen kann: Thriller wie Die Katze oder Der Sandmann und moderne Melo­dramen wie Solo für Klari­nette.
Und natürlich die Komödien: George konnte im Kino auch frei­willig böse sein: bei Dietl in Schtonk und Rossini...

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Zum Abschluß ein Fundstück, das man nicht allzu ernst nehmen sollte, das zu verschweigen ich heute aber zu eitel bin: »Zehn groß­ar­tige Filme die Godard beein­flusst haben

(to be continued)