Cinema Moralia – Folge 137
»Das geht doch nicht, da passiert ja gar nichts!« |
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Eine Welt im Ausnahmezustand zeigt Edward Zwick in The Siege | ||
(Foto: Edward Zwick) |
Immer weniger Menschen sterben an Terrorakten. Und doch lassen sich die Gesellschaften des Westens, insbesondere die deutsche, ins Bockshorn jagen. Wie das geht, hat uns das Kino schon lange erzählt.
Man könnte sich dazu Fritz Langs Mabuse-Filme ansehen, noch frappierender ist aber der vor 9/11 entstandene The Siege (Ausnahmezustand) von Edward Zwick. Bruce Willis spielt darin einen Militär, der den realen Terror ausnutzt, um über den Ausnahmezustand eine faschistoide Diktatur zu installieren – New York sieht plötzlich aus wie Pinochets Chile. Und erschreckend aktuell sind die Internierungslager und folternde Militärs.
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Weniger realistisch im Äußeren und der Form, dafür vielleicht im Empfinden ist Roberto Rodriguez' Planet Terror, gutes Schundkino, das man in beide Richtungen lesen kann: Wenn Zombies abgeknallt werden und die Ekelschwelle immer höher steigt, dann ist das ein Antiterrorkampf als Schlachtplatte. Aber vielleicht ist der Film noch etwas cleverer: Vielleicht macht er uns nur zu
willenlosen Amokschützen? »Sensationell ist Rose McGowan, die ihr amputiertes Bein mit einem Maschinengewehr ersetzt und damit zu ungeahnter Effektivität und Attraktivität aufläuft«, schrieb Michael Althen zu dem Film vor neun Jahren in der FAZ, und weiter großartig: »Im Grunde befreit sich das Kino hier aus dem Abbildungsterror und schwingt sich zu abstrakter Kunst empor. Ein Fall für die Documenta.« Ja! Ein Fall für die Documenta – das könnte auch noch für so manches
gelten, das sich in den letzten zwei Wochen ereignete.
Vorher soll aber erwähnt werden, dass Bruce Willis auch hier einen kleinen kurzen effektiven Auftritt hat.
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»Uncertain States. Künstlerisches Handeln in Ausnahmezuständen« heißt passenderweise der Programmschwerpunkt der Berliner Akademie der Künste in diesem Herbst. Thema ist die Fragilität des Status Quo, ausgelöst durch Kriege, Armut, Terrorismus, Flucht und Zuwanderung. Ein »Erfahrungsraum der Dinge« soll die Grundstruktur des dreimonatigen Programms bilden.
»Die Erfahrung von Ausnahmezuständen ist in die alltägliche Wirklichkeit Europas eingekehrt. Mit 'Uncertain
States' nehmen wir die aktuellen politischen, gesellschaftlichen und individuellen Umbrüche und Unsicherheiten in den künstlerischen Fokus und erinnern gleichzeitig an die existentiellen Notlagen, in die viele Kunstschaffende nach 1933 gerieten. Ihr emotionaler und ästhetischer Umgang mit Auswanderung und Exil ist in den Archiven der Akademie der Künste beispielhaft dokumentiert und wesentlicher Bezugspunkt unserer Ausstellung«, sagt die Filmregisseurin und
Akademie-Präsidentin Jeanine Meerapfel.
Objekte und Dokumente stammen unter anderem auch von den im Film arbeitenden Bertolt Brecht, Hanns Eisler, Valeska Gert, Lilian Harvey.
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Seit etwa 1988 sinkt der Terror in Europa. Mitte der 90er Jahre waren die Zahlen noch einmal höher – aber nur wenn man den Jugoslawien-Krieg mitzählt. Die Zahlen der Todesopfer 2015 und 2016 liegen nach einer aktuellen, u.a. über dpa verbreiteten Statistik im Vergleich weit unter den Zahlen der 1970er- und 1980er-Jahre.
Der Grund dafür, dass zwischen der realen Gefahr und den tatsächlichen Terroropfern in Europa einerseits und der subjektiv empfundenen Terrorgefahr in
Deutschland eine signifikante Lücke klafft, ist reine Hysterie. Das belegt auch eine Umfrage des Pew Research Center: Die Menschen haben vergleichsweise viel Angst vor Terror, vor Flüchtlingen und »dem Zuzug von Ausländern«. Sie haben auch Angst vor den Folgen von griechischen Schulden und Brexit für die Steuerzahler. Sie haben aber vergleichsweise wenig Angst vor Krankheit oder davor im Alter ein Pflegefall zu werden – obwohl diese Aussicht die viel wahrscheinlichere
ist.
Von den 4000 Verkehrstoten reden wir jetzt mal gar nicht – oder herrscht vielleicht Terror auf der Autobahn?
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Es war eine Kapitulationserklärung erster Klasse, was da am vergangenen Freitag im ARD-Fernsehen geschah. Da feilscht die ARD mit ihren Filmemachern und Produzenten und Redaktionen um jede Sendeminute und dann wird einem – wie wir inzwischen wissen: rechtsextremen – Quatschkopf eine Live-Sendezeit von über drei Stunden geboten! Was ist das für ein Signal an zukünftige Täter? Was für ein Signal an Sozialgestörte und Psychopathen, denen die Warholschen »15
Minuten« nicht ausreichen, und die zum Stillen ihres Aufmerksamkeitsdefizits einfach ein paar Menschen über den Haufen schießen müssen?
Jeder potentielle Mörder weiß nun, wie er es anstellen muss, um bei der ARD eine Live-Show zu bekommen.
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»Ein Fall für Zwei« im Ersten. Die längste »Tagesthemen«-Sendung aller Zeiten, länger selbst als am 11.9.2001, von 21.15 Uhr bis 0.27 Uhr, länger als jedes Fußball-Championsleague-Spiel inklusive Verlängerung und Elfmeterschießen, und dann noch im Stehen, weil man ja im deutschen Fernsehen nicht mehr in sitzender Gelassenheit, sondern nur noch hektisch auf dem Sprung die Nachrichten ablesen darf.
Als Terror-Showmaster betätigten sich Thomas Roth und Georg Mascolo, einst
»Spiegel«-Chefredakteur, jetzt sogenannter »Terrorismusexperte« bei der ARD.
Der Eindruck drängte sich auf, dass man in manchen Redaktionen heimlich darauf hoffte, es würde noch etwas passieren. Einem der dilettantischen ARD-Terror-Showmaster entfuhr die Bemerkung: »Das geht doch nicht, da passiert ja gar nichts!« Und auch sonst, dominierte der Eindruck, als ob alle drauf gewartet und ein wenig gehofft hätten. Endlich! Hechel, hechel!! Immer wieder die rhetorische Geste des
»Es musste ja so kommen« – und gleichzeitig soo dilettantisch: Liveschaltungen, die nicht funktionierten, wo aber keiner auf die Idee kam, den Leuten vor Ort – wenn es denn live sein muss – mal ein Mobiltelefon in die Hand zu drücken.
Oder jenen Moment, als sich die Terror-Showmaster mit einem frisch servierten Handy-Video befassten, dass den Mörder zeigte, wie er sich mit einem Bewohner auf einem Parkdeck ein Wortgefecht lieferte. Es war nicht unbedigt gewohnte
ARD-Sprache, aber immerhin bereits beim ersten Mal deutlich verständlich, was die Leute sich zubrüllten. Unter anderem rief der Mörder: »Scheiß-Ausländer«, »Ich bin Deutscher«, da hätte man schon vermuten können, dass der Mann Rechtsextremist ist. Nur zwei Leute verstanden gar nichts: Roth und Mascolo. Und auch beim zweiten und beim dritten Anguck-Versuch brachen sie das Abspielen vorzeitig ab.
Da hatten sie über Stunden nur herumgelabert, nichts zu tun gehabt, geraten und gemutmaßt
und Anekdoten erzählt, und endlich ein paar Fakten, die alle ihre Spekulationen vom »Tagesthemen«-Tisch wischten: keine Isis, keine Islamisten, keine Flüchtlinge, kein Ernstfall.
In der ganzen Zeit kein kritisches Wort zu der Panik, viel Spekulationen über Gefahren, aber keine Spekulation darüber, ob vielleicht all das doch etwas übertrieben sein könnte.
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Deutsche Tote sind offenbar mehr wert als andere – wo war die Sondersendung für die 200 Toten bei Erdogans Ermächtigungsputsch, äh, Reichstagsbrand?
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Der ARD-Reporter brüstet sich noch damit, dass er an der Polizei vorbei hinter die Absperrungen gegangen sei. Zu guter Letzt wird Angela Merkel dann noch vorgeworfen, dass sie sich erst informiert, sich nicht sofort das nächste Mikrophon schnappt – bloß weil der bescheuerte US-Präsident sofort herumgetwittert hat, als die Toten noch gar nicht gezählt waren.
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Das stellt dann immerhin gleich am nächsten Morgen Joachim Krause, Professor und Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel im Deutschlandfunk fest. »In erster Linie habe ich die Hysterie der Medien erlebt, und die, muss ich sagen, war nicht besonders gut. Gestern Abend habe ich den Eindruck gehabt, die Gelassenheit fehlte, auch gerade bei den Medien. Ich hab mir drei Stunden ARD angetan und noch mal kurz ZDF, es war schlimm, muss ich sagen, weil es gab eigentlich nichts zu berichten, und es wurde eigentlich nur im Konjunktiv gesprochen.« Krause traute sich auch den Einsatz der Polizei in München infrage zu stellen: »Das ist in dieser Größenordnung etwas Neues, und ich weiß nicht, ob das tatsächlich gerechtfertigt gewesen ist, aber… ich fand das schon ein bisschen sehr viel.«
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Das Ergebnis des Münchner Amok-Anschlags ist das Abbild einer infantilen, überhysterisierten Gesellschaft, die zwischen Aufgeregtheit und Schreckhaftigkeit changiert, und ihre Mitte immer noch nicht gefunden hat. Wir müssen lernen, Gelassenheit zu entwickeln, das haben wir hier in Deutschland überhaupt nicht.
Die Profiteure warten schon: Die Medien machen mit alldem das Geschäft der Populisten der demokratischen Parteien und vor allem das Geschäft der
Rechtsextremisten. Die wollen ein Angstregime errichten. Sie nutzen den Terror, auch den rechtsextremen, auch den nur vermeintlichen, für ihre Zwecke.
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Immerhin geht Thomas Roth im Herbst in den Ruhestand. Es wird höchste Zeit. Sein Nachfolger ist Ingo Zamperoni, ein Halbitaliener und schon deswegen etwas cooler und mehr gewohnt.
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Werbung für einen Film: »Ein Film, der den Blutdruck senkt und das Gehirn entschleunigt. Dadurch wird der Kopf frei.«
Ja, dann geht doch alle ins Kloster!
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In der nach wie vor offenen Frage der CETA und TTIP Abkommen, die unter anderem die Künste und Medien schwer schädigen würden, will die EU-Kommission nach dem Brexit-Reinfall jetzt offenbar mit dem Kopf durch die Wand. Ihr Plan: CETA und TTIP sollen im Eilverfahren durchgewunken werden, ohne dass die nationalen Parlamente gefragt werden.
Das ginge nur, wenn es auf europäischer Ebene echte Demokratie gäbe.
CETA ist die Blaupause für TTIP, die Sonderklagerechte für Konzerne
und niedrigere Umwelt- und Verbraucherstandards bringen würde.
Die Bundeskanzlerin will offenbar mitspielen und den Bundestag lediglich »um eine Meinungsbildung« bitten. Ob die EU-Kommission mit ihren Plänen durchkommt, die nationalen Parlamente doch noch beteiligt werden oder CETA ganz gekippt wird – das entscheidet sich voraussichtlich auf dem EU-Handelsgipfel in Bratislava am 22. und 23. September.
Wie sehr der Protest bereits wirkt, kann man dieser Tage bei der
SPD bestaunen. Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD), bisher TTIP- und CETA-Befürworter, nennt Junckers Plan »unglaublich töricht.«
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Und wäre Erdogan ein bildender Künstler, unser Beifall wäre ihm sicher. Und der der Documenta.
(to be continued)