Cinema Moralia – Folge 138
Die Spur führt nach Berlin... |
||
Angela Schanalecs Der traumhafte Weg | ||
(Foto: Piffl) |
»Der Wettbewerb läuft nebenbei, die Piazza ist eh meistens scheiße und das Publikum schon arg konservativ – die Hauptsache in Locarno ist klarerweise die Retrospektive.« Ein Freund aus Wien formuliert die Lage mit gebotener Klarheit; wir wollen seinen Namen hier aber nicht hinschreiben, damit er auch weiterhin eingeladen wird; die Pressedamen sind auch in Locarno empfindlich. »I hate Locarno« formulierte dieses Jahr ein anderer Freund von der iberischen Halbinsel und eine Kollegin aus einem auch gerade noch europäischen Land fügte hinzu: »Ich mag es nicht, aber wir können hier halt ganz gut verdienen. Das ist die Lage: Zwei, drei Handvoll Filmkritiker und zwei weitere Dutzend, die sich auch noch so nennen, kommen hierher, und die meisten mögen das Festival nicht, halten den Wettbewerb für überschätzt und gehen nur widerwillig in die Filme. Einige freuen sich immerhin auf die Retro, andere nicht mal das, sondern sie machen Urlaub. Bis vor ein paar Jahren kam hier immer ein älterer Herr aus dem Osten der Republik, ließ sich sechs Tage einladen, lag fünf Tage am – zugegeben im Verhältnis zu vielen Filmen verlockenden – Lago Maggiore und hing am sechsten Tag mit Sonnenbrand über der Fast-Forward-Taste im Video-Raum, wo er im Schnelldurchlauf den Tipps der Kollegen hinterherhechtete, um dann seinen sogenannten ›Festivalbericht‹ abzuseilen.«
Wie alle anderen auch klingt dann in den Berichten das Festival von Locarno jedes Mal wie der Nabel der Filmwelt, wie ein wirklich wichtiger Ort. Das ist Unfug. Locarno ist die Nummer fünf in Europa, neben Cannes, Venedig und Berlin ist auch San Sebastian ganz eindeutig besser, wichtiger und sympathischer. Selbst die Retrospektive übrigens (wobei die im Tessin schon das einzige ist, was wirklich »A«-Format hat). Locarno ist vor allem ein A-Festival aus Tradition und weil die Schweiz Geld
hat.
In besseren Jahren ist das akzeptabel, in schlechteren wie dieses Jahr sind die Filme mehrheitlich kaum zum Aushalten. Da wirkt das Festival mitunter wie eine einzige gro ße Werbeaktion des Tessiner Tourismusverbands.
+ + +
Es ist schwer, dieses Gemotze Außenstehenden zu erklären, die immer nur »Piazza Piazza« hören. Es ist schwer, ihnen klarzumachen, dass die mittelalterliche »Piazza Grande« in Locarno zwar wunderschön ist, aber nicht nur in Bezug auf das ebenfalls mittelalterlich anmutende Trottoir ein holpriges und mühsam begehbares Gelände. Entgegen aller äußeren Annahmen, laufen die meisten Filme auch in Locarno in Kinos. Es gibt den Wettbewerb um den Leoparden, dann noch einen, der in vieler Hinsicht besser, jedenfalls spannender ist, Dann viele Nebenreihen, die eher austauschbar sind. Und die sogenannten Piazza-Vorstellungen. Das sind Filme »mit Stars«, die sämtlich außer Konkurrenz laufen, und an den ein Locarno-Direktor mehr als jeder andere gemessen wird. Denn diese Filme haben vor allem die Aufgabe, attraktiv genug zu sein, um mindestens 6000, am besten bis zu 9000 Menschen anzulocken. Das ist wichtig für die Gastwirte.
Am Abend gegen 19 Uhr beginnt die Piazza sich zu füllen. Ringsum in den Arkaden liegen Restaurants, von denen die meisten hier ziemlich unfreundliches Personal haben, und alle sämtlich überteuert sind. Es gibt entweder richtig teures Essen oder in Soße ertränkte Nudeln und Gummi-Pizza für 15 Franken aufwärts. Das halbe Bier für 5 Franken aufwärts.
Dazu gibt es ein bis zwei Filme zu gucken. Die zweiten Filme können Klassiker sein, die mit Ehrengästen verbunden sind, die ersten sind
das nie. Denn um diesem Publikum zu gefallen, müssen die Filme nicht nur Stars haben, sondern auch gefällig sein, ein »wichtiges« Thema versöhnlich und stilistisch unprovokativ. Sonst wandert das Publikum ab. Es soll aber essen und trinken. Die in der Mitte des Platzes dürfen Bier und wein aus Plastikbechern trinken, und mitgebrachte Brotzeit.
Es könnte alles ganz schön sein, wenn das Essen und vor allem die Filme besser wären. So ist es eine Art »Kulinarisches Kino« – mehr
noch die bildungsbürgerliche Form von Ballermann.
+ + +
Da lief dann zum Beispiel Paula. Paula Modersohn-Becker ist eine große Malerin und eine Ikone des Feminismus. Bereits drei Mal ist ihr kurzes Leben zwischen 1876 und 1907 in Dokumentarfilmen gewürdigt worden, aber nie so bieder und verfehlt wie jetzt im ersten Spielfilm über die Bremer Malerin vom Berliner Christian Schwochow.
Einfach Paula – schon dieser Titel verrät die anbiedernde und respektlose Haltung gegenüber der Hauptfigur, die sich durch den ganzen Film zieht. Die Malerin wird hier offenbar vor allem als junges unreifes Mädchen gesehen, nicht als ernstzunehmende erwachsene Künstlerin.
Vielleicht liegt es ja daran, dass an diesem Film von den Drehbuchautoren bis zum Cutter nur Männer mitwirkten –
jedenfalls geht es so gut wie gar nicht um Kunst und Intellekt in diesem Film, sondern um Klischees eines Künstlerinnen-Lebens, und Alibi-Bilder hinter denen sich eine kreuzbrave erzkonservative 08/15-Beziehungsstory versteckt: Denn im Zentrum steht weder die Malerei, noch die Persönlichkeit Modersohn-Beckers, sondern der Gender-Trouble zwischen den Ehegatten.
Die Malerei erscheint nur als ein Mittel zum Zweck im Liebesreigen, und zum großen Finale des Films wird die
Schwangerschaft und Geburt des gemeinsamen Kindes ausgewalzt – als wäre dieses die Hauptsache, weswegen wir uns heute für Paula Modersohn-Becker interessieren.
Eine reaktionäre Botschaft, ästhetisch präsentiert im Weichzeichner-Kitsch wie aus der Margarine-Werbung. Und welch ein krasser Widerspruch: Wir haben es mit einer Künstlerin zu tun, die immerhin den Expressionismus mit erfand – ausgerechnet so ein Mensch wird absolut spießbürgerlich und un-expressionistisch erzählt.
+ + +
Dass jetzt nur die Männer schuld sind, kann man aber auch nicht sagen: Denn auf der Piazza-Bühne standen dann die Förderchefinnen von der Filmstiftung NRW, die unverständliche, skandalös 1,3 Millionen Euro gegeben hat, womit andere allein zwei Filme machen (ja ja, ich weiß schon, wie Förderung funktioniert und dass es so ist »wie es ist«, aber das ist ja das Problem), und vom Medienboard und Frau Berg von der FFA und Frau Buhl vom WDR. Die konnten dann gemeinsam mit den Produzentinnen mal erleben, wie es ist, wenn 8000 Zuschauer am Ende quasi nicht applaudieren. Was man angesichts der Piazza wie gesagt nicht überbewerten darf, aber immerhin.
+ + +
Auf dem Hinflug hatte ich Christian Schwochow getroffen. »Du wirst den Film nicht mögen« hatte er mir prophezeit. Auf meine Frage, warum denn, war seine Antwort: »Du hast mir mal gesagt, dass Du Dich nicht für Geschichten interessierst.« So hatte ich das zwar bestimmt nie gesagt, sondern eher, dass ich glaube, in Deutschland wird Storytelling, oder werden Drehbücher überschätzt, oder dass hier Filmästhetik und Form und Stil unterbewertet werden, irgendsoetwas halt. Hätte ich da Paula schon gekannt, hätte ich allerdings geantwortet: »Dein Film hat doch gar keine Geschichte.« Oder was soll denn hier bitte die Geschichte sein?
+ + +
Ganz anders Peter Handke – Bin im Wald. Kann sein, dass ich mich verspäte – so der poetische Titel des neuen Dokumentarfilms von Corinna Belz, die vor ein paar Jahren mit Gerhard Richter – Painting bereits ein großartiges Künstlerporträt vorlegte.
Auch in ihrem neuen Film setzt sie
vor allem auf genaue Beobachtung, präzise Gesprächsausschnitte und wohldosierten Einsatz von Archivmaterial. Belz zeigt Peter Handke, jenen bedeutenden österreichischen Schriftsteller, der für viele Jahre das enfant terrible des Literaturbetriebs gegeben hat, als einen kauzigen, sperrigen, mitunter politisch streitbaren Menschen, der sich gern auch mal schlecht gelaunt gibt, aber eben auch als liebenswert und im Grunde sanft erscheint. Er will nur spielen, auch wo er sich in
Streit und Provokation gefällt. Belz beobachtet ihn beim Arbeiten und gelegentlich liest Handke aus seinen Notizbüchern vor, die Regisseurin zeigt Ausschnitte aus den Sechzigern, als Handke noch als Jungfilmer in Oberhausen auftrat, und aus jener Zeit, als er in Deutschland für seine Verteidigung Serbien im jugoslawischen Bürgerkrieg geächtet wurde.
+ + +
»Daring Visions«, »gewagte Visionen« böte das deutsche Kino in diesem Jahr, so Locarnos künstlerischer Leiter Carlo Chatrian zu Beginn des Festivals. Das ist Lob, freilich könnte es auch eine versteckte Spitze enthalten. Denn »gewagt«, das heißt auch: »Latente Zumutung« oder »nicht ganz ausgereift.«
+ + +
Gemischt waren die ersten Reaktionen bei der Vorstellung des deutschen Beitrags Der traumhafte Weg von der Berliner Regisseurin Angela Schanelec. Chatrian hatte sie im »Fevi« schon nicht recht geschickt mit einem Bresson-Vergleich angekündigt. Wenn es das mal gewesen wäre.
Auch dies ist ein Film, der das Erzählen und die Geschichte nicht gerade überbewertet – »Erzählt« wird von
einem Paar, das sich in den 1980er Jahren aus den Augen verliert, und nach 30 Jahren wiedertrifft. Die Regisseurin sträubt sich gegen die Konventionen des Erzählkinos, und zeigt statt Gesichtern Hände und Füsse. Nunja. Muss es sein? Man hat den Eindruck, man soll hier erzogen werden, aber der Film erklärt nicht warum. Eher geht es darum, das Denken zu vergessen und zu akzeptieren – darum geht es allerdings auch an einer Koranschule.
Ausgereift ist dieser Film in jedem Fall, eine Zumutung ist er auch – aber dann eben letztendlich doch eine produktive Zumutung für alle, die radikales, ästhetisch konsequentes, streng konstruiertes Kino schätzen. Schanelec macht No-Nonsense-Filme, macht keine Kompromisse, sondern sie zieht ihr Ding durch. Das mag im Leben unerträglich sein, für große Kunst aber ist es eine essentielle Voraussetzung. Was im Umkehrschluss aber nicht bedeutet, dass alle Filme in diesem Stil schon automatisch große Kunst sind.
+ + +
Nicht alle verstehen das. Die Kritikerin der NZZ, keine Schweizerin, sondern eine Deutsche mit leider meist nicht verlässlichem Geschmack, sah nur eine Regisseurin, die »mit überheblicher Haltung inhaltlich-erzählerische Rätsel aufgibt, die sie nicht aufzulösen gedenkt.«
Liest man den Text weiter, gibt die Autorin allerdings zu, dass sie eine »vergleichsweise altmodische Art« des Filmerzählens, »in zeitlich klar geordneter Abfolge der Szenen, die inhaltlich
aufeinander aufbauen«, und aus Osteuropa kommen, bevorzugt.
Dabei bieten die ehemals hinter dem Eisernen Vorhang gelegene Länder abgesehen von Rumänien heute die ödesten Filmländer Europas, biederes Beflissenheitskino.
Die schönen Japaner findet die junge alte Dame der NZZ natürlich erwartbar einen »kruden japanischen Softporno, den man hier wohl kaum erwartet hätte«. Hohoho...
+ + +
Zum dritten Mal zeigt der argentinische Regisseur Mathias Pineiro in seinem neuen Film Hermia & Helena etwas, das inzwischen zu seiner Spezialität geworden ist: Er erzählt eine ganz zeitgenössische Geschichte aus dem Leben einer Gruppe von Mittzwanzigern bis Mittdreißigern von heute. Zumindest irgendeine von Pineiros Figuren hat immer auch etwas mit Kunst und mit einem Stück von William Shakespeare zu tun: In diesem Fall ist es Camila, die von Agostina Munoz mit flirrendem Magnetismus gespielte etwa 30-jährige Argentinierin, die an einer Übersetzung von Shakespeares »Sommernachtstraum« arbeitet. Sie reist nach New York, merkt dort aber bald, dass ihr die Entfernung aus Buenos Aires und ihrem Familien- und Freundeskreis gar nicht gut tut. Während sie in ihrer Arbeit blockiert scheint, stürzt sie sich, mehr aus Langeweile, in den Trubel der Metropole und bekommt plötzlich mysteriöse Postkarten einer früheren Mitbewohnerin – und so erlebt Camilas im Guten wie im Schlechten ihren persönlichen Mittsommernachtstraum.
Hermia & Helena ist erstens eine intelligente und sehr sehr komische Komödie aus unserer Gegenwart; zweitens eine subtile Ironisierung der US-amerikanischen »Mumblecore«-Filme, die aus dem Leben paarungswilliger, aber mit sich selbst gelangweilter amerikanischer Großstädter erzählen, und drittens eine clevere Shakespeare-Bearbeitung, in der das 400 Jahre alte Stück zuerst in seine Einzelteile zerlegt, dann neu zusammengesetzt, und dadurch mit Leben erfüllt wird. Alles in allem ein zauberhafter beziehungsreicher mittsommerlicher Kinotraum mit mehr als einer Prise Rohmer, und einem Hauch von Woody Allen.
+ + +
Der stark französisch angehauchte japanische Film Wet Woman in the Wind von Shiota Akihiko wiederum erzählt von der Amour Fou zwischen einer jungen Frau und einem Schriftsteller – »Liebe auf der Flucht«.
Zwei Filme an den ersten Tagen kommen aus Ägypten: Brooks, Meadows and Lovely Faces von Altmeister Nousry Nasrallah im Leoparden-Wettbewerb besticht weniger durch große Kinokunst, als dadurch, dass hier im Gewand einer
Familiengeschichte im Soap-Stil der soziale Wandel verhandelt wird, der religiöse Terror der Muslimbrüder und die Enttäuschungen im Gefolge des Arabischen Frühlings. Immerhin weiß Nasrallah wie man viele Menschen glaubwürdig inszeniert. 90 Minuten lang sind oft 10 bis 20, mit unter mehr Figuren im Bild. Bei dem könnten viele deutsche Filmemacher ein Praktikum machen.
Filmisch wie politisch weitaus beeindruckender ist da Akhdar Yabes, der von zwei
Schwestern erzählt. Nach dem Tod der Eltern muss sich die Ältere um ihre junge Schwester kümmern. Zwar lebt die Ältere traditionell. Doch als die Jüngere Heiratsanträge erhält, stoßen die festen Überzeugungen von Anstand und Sitte überraschend schnell an ihre Grenzen.
+ + +
Dario Argento überreichte den Ehrenleopard an Mario Adorf. Eine bewegende, auch beeindruckende Zeremonie. Beeindruckend, weil Adorf, der 40 Jahre in Rom lebte, fließend Italienisch parlierte. Bewegend,weil beide sich sichtlich mochten. Und wichtig: Weil Adorf hier in Locarno für die Sektion geehrt wird, die wirklich zählt: Die Retrospektie »Geliebt und verdrängt«, die von Olaf Möller und dem Frankfurter Filmmuseum DIFF kuratiert wird. Sie präsentiert das leider und vollkommen zu Unrecht zu unbekannte westdeutsche Kino der Nachkriegszeit bis 1963, also vor dem Autorenfilm von Fassbinder und Co.
Dort kann man Schauspieler wie Hildegard Knef, Bernhard Wicki, Karin Baal, Gert Fröbe (!!!) und eben Mario Adorf wiedersehen – stellvertretend für viele Weltstars, die das westdeutsche Kino vor 1962 hervorbrachte, viel mehr als danach: Romy Schneider, Horst Buchholz, Senta Berger, Oskar Werner, Elke Sommer, Klaus Kinski, Curd Jürgens.
Man kann auch einen frischen, ganz unpathetischen westdeutschen Realismus entdecken – Anti-Nazipathos-Kino. Neben bekannten Namen laufen hier auch besonders viele unbekannte Filme, die erst überhaupt wieder wahrzunehmen sind. Ob Helmut Käutners großartiger Schwarzer Kies, oder der Panzerknackerfilm Banktresor 713 von Werner Klingler, oder auch ein Film wie Rosen blühen auf dem Heidegrab von Hans Heinz König – dieser Titel ist Programm: Unter der Rosen-Schönheit liegen kaum verdeckt die Gräber des Zivilisationsbruchs der Nazis. Und immer wieder kehrt in solchen Filmen das Verdrängte zurück.
Darüber ganz ausführlich nächste Woche, dann auch
über den Film, dessen Titel auch Programm ist: Die Spur führt nach Berlin.
+ + +
Interessant wie das alles dann beschrieben wird, wenn ein Journalist in einer überregionalen Zeitung unbedingt positiv klingen möchte (siehe oben)
Da liest sich der erste Absatz so (Anmerkungen in Klammern von mir): »Von einer mangelnden Liebe zum deutschen Kino kann beim Festival in Locarno keine Rede sein. Das hat einerseits natürlich mit nachbarschaftlicher Nähe zu tun – ganz unabhängig davon, dass das mediterrane Klima (!) am Lago Maggiore (!!) nicht nur den
Berliner Sommer (!!!) weit weg erscheinen lässt. Und andererseits bietet die Piazza Grande, wo vor allem publikumswirksame Filme (!!!!) auf der riesigen Freiluft-Leinwand laufen, deutschen Filmemachern eine Plattform, die sie nur zu gern für sommerliche Premieren nutzen. (Adjektive, Adjektive Adjektive: meditteran, publikumswirksam, riesig, sommerlich.. Ein Absatz und noch immer nichts über Film, stattdessen ein Reiseprospekt).
Nach dem späteren Lola-Gewinner Der Staat gegen Fritz Bauer im vergangenen Jahr reiste zur nunmehrigen 69. Auflage des renommierten (Adjektive, Adjektive Adjektive: später, nunmehrig, renommiert) Filmfestes der Regisseur Christian Schwochow an und hatte seinen erst kurz zuvor final fertiggestellten (kann man auch vorfinal fertigstellen?) Film Paula im Gepäck. Für die Weltpremiere am Sonntagabend, zu der der Altstadt-Platz bei traumhaftem Wetter (immer noch Reiseprospekt, immer noch kein Kino) mit über 7 000 Zuschauern bestens gefüllt war, bot sich Locarno in diesem Fall besonders an – wird die Titelrolle der Malerin Paula Modersohn-Becker doch vom Feuchtgebiete-Star Carla Juri gespielt, die als Tessinerin ganz in der
Nähe aufgewachsen ist. (Zwei Absätze, nichts Substantielles auch nur über den ersten Film).
(Obwohl sich der Reinfall nicht verschweigen lässt:) ›Juri ist das große Pfund, mit dem Paula wuchern kann, denn wenige Schauspielerinnen bringen dieser Tage eine derart funkelnde (so schreibt eigentlich nur Marco Schmidt) Präsenz und Energie auf die Leinwand. Selbst wer nicht viel damit
anfangen kann, dass Schwochow in seinem Film die kindlich-aufgekratzte Seite von Modesohn-Becker arg betont (Aha!), kann sich an Juri nicht sattsehen. (Satthören schon, denn Juri nuschelt noch immer und akzentfrei deutsch kann sie leider auch nicht).‹«
+ + +
Stefania Sandrelli, Jane Birkin, Mario Adorf, Harvey Keitel, Roger Corman – sie alle bekommen Ehrenleoparden. Dazu kamen allein an den ersten Tagen bereits eine Handvoll Stars mit ihren neuen Filmen in den Tessin – etwa Matt Damon, der ewige Jason Bourne mit dem neuesten Action-Reißer der Reihe. Alles gut so? Nun...
Es gibt sehr viel der Ehre in Locarno, aber auch wenn man jedem Einzelnen der Genannten die besondere Aufmerksamkeit gönnt, kommt man selbst als professioneller Besucher schon mehr als einmal durcheinander, wer da jetzt gerade wieder im Star-Paternoster der italienischen Schweiz noch oben fährt, und wer bereits wieder von der Bühne hinabbefördert wird.
Unübersehbar ist: Die Filmfestspiele von Locarmo leiden unter Inflation: Preisinflation, Altstar-Inflation und
Filminflation.
Die Folge: Die Aufmerksamkeit verschiebt sich weg von den Filmen der beiden Wettbewerbe und der in diesem Jahr ausgezeichneten Retrospektive hin zu etwas, das mehr oder weniger auch irgendwie mit dem Kino der Welt zu tun hat. Meist weniger. Stattdessen eher wie erwähnt eine große Tourismus-Werbung.
Hoffentlich achtet das Festival in Zukunft wieder etwas mehr darauf, dass das Verh ältnis von Kunst und Glamour nicht aus der Balance gerät.
(to be continued)