11.08.2016
Cinema Moralia – Folge 138

Die Spur führt nach Berlin...

Der traumhafte Weg
Angela Schanalecs Der traumhafte Weg
(Foto: Piffl)

Locarno-Anatomie, No-Nonsense-Kino aus Deutschland, und die Bedeutung des Erzählens – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 138. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Der Wett­be­werb läuft nebenbei, die Piazza ist eh meistens scheiße und das Publikum schon arg konser­vativ – die Haupt­sache in Locarno ist klarer­weise die Retro­spek­tive.« Ein Freund aus Wien formu­liert die Lage mit gebotener Klarheit; wir wollen seinen Namen hier aber nicht hinschreiben, damit er auch weiterhin einge­laden wird; die Pres­se­damen sind auch in Locarno empfind­lich. »I hate Locarno« formu­lierte dieses Jahr ein anderer Freund von der iberi­schen Halbinsel und eine Kollegin aus einem auch gerade noch europäi­schen Land fügte hinzu: »Ich mag es nicht, aber wir können hier halt ganz gut verdienen. Das ist die Lage: Zwei, drei Handvoll Film­kri­tiker und zwei weitere Dutzend, die sich auch noch so nennen, kommen hierher, und die meisten mögen das Festival nicht, halten den Wett­be­werb für über­schätzt und gehen nur wider­willig in die Filme. Einige freuen sich immerhin auf die Retro, andere nicht mal das, sondern sie machen Urlaub. Bis vor ein paar Jahren kam hier immer ein älterer Herr aus dem Osten der Republik, ließ sich sechs Tage einladen, lag fünf Tage am – zugegeben im Verhältnis zu vielen Filmen verlo­ckenden – Lago Maggiore und hing am sechsten Tag mit Sonnen­brand über der Fast-Forward-Taste im Video-Raum, wo er im Schnell­durch­lauf den Tipps der Kollegen hinter­her­hech­tete, um dann seinen soge­nannten ›Festi­val­be­richt‹ abzu­seilen.«

Wie alle anderen auch klingt dann in den Berichten das Festival von Locarno jedes Mal wie der Nabel der Filmwelt, wie ein wirklich wichtiger Ort. Das ist Unfug. Locarno ist die Nummer fünf in Europa, neben Cannes, Venedig und Berlin ist auch San Sebastian ganz eindeutig besser, wichtiger und sympa­thi­scher. Selbst die Retro­spek­tive übrigens (wobei die im Tessin schon das einzige ist, was wirklich »A«-Format hat). Locarno ist vor allem ein A-Festival aus Tradition und weil die Schweiz Geld hat.
In besseren Jahren ist das akzep­tabel, in schlech­teren wie dieses Jahr sind die Filme mehr­heit­lich kaum zum Aushalten. Da wirkt das Festival mitunter wie eine einzige gro ße Werbe­ak­tion des Tessiner Touris­mus­ver­bands.

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Es ist schwer, dieses Gemotze Außen­ste­henden zu erklären, die immer nur »Piazza Piazza« hören. Es ist schwer, ihnen klar­zu­ma­chen, dass die mittel­al­ter­liche »Piazza Grande« in Locarno zwar wunder­schön ist, aber nicht nur in Bezug auf das ebenfalls mittel­al­ter­lich anmutende Trottoir ein holpriges und mühsam begeh­bares Gelände. Entgegen aller äußeren Annahmen, laufen die meisten Filme auch in Locarno in Kinos. Es gibt den Wett­be­werb um den Leoparden, dann noch einen, der in vieler Hinsicht besser, jeden­falls span­nender ist, Dann viele Neben­reihen, die eher austauschbar sind. Und die soge­nannten Piazza-Vorstel­lungen. Das sind Filme »mit Stars«, die sämtlich außer Konkur­renz laufen, und an den ein Locarno-Direktor mehr als jeder andere gemessen wird. Denn diese Filme haben vor allem die Aufgabe, attraktiv genug zu sein, um mindes­tens 6000, am besten bis zu 9000 Menschen anzu­lo­cken. Das ist wichtig für die Gastwirte.

Am Abend gegen 19 Uhr beginnt die Piazza sich zu füllen. Ringsum in den Arkaden liegen Restau­rants, von denen die meisten hier ziemlich unfreund­li­ches Personal haben, und alle sämtlich über­teuert sind. Es gibt entweder richtig teures Essen oder in Soße ertränkte Nudeln und Gummi-Pizza für 15 Franken aufwärts. Das halbe Bier für 5 Franken aufwärts.
Dazu gibt es ein bis zwei Filme zu gucken. Die zweiten Filme können Klassiker sein, die mit Ehren­gästen verbunden sind, die ersten sind das nie. Denn um diesem Publikum zu gefallen, müssen die Filme nicht nur Stars haben, sondern auch gefällig sein, ein »wichtiges« Thema versöhn­lich und stilis­tisch unpro­vo­kativ. Sonst wandert das Publikum ab. Es soll aber essen und trinken. Die in der Mitte des Platzes dürfen Bier und wein aus Plas­tik­be­chern trinken, und mitge­brachte Brotzeit.
Es könnte alles ganz schön sein, wenn das Essen und vor allem die Filme besser wären. So ist es eine Art »Kuli­na­ri­sches Kino« – mehr noch die bildungs­bür­ger­liche Form von Baller­mann.

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Da lief dann zum Beispiel Paula. Paula Modersohn-Becker ist eine große Malerin und eine Ikone des Femi­nismus. Bereits drei Mal ist ihr kurzes Leben zwischen 1876 und 1907 in Doku­men­tar­filmen gewürdigt worden, aber nie so bieder und verfehlt wie jetzt im ersten Spielfilm über die Bremer Malerin vom Berliner Christian Schwochow.
Einfach Paula – schon dieser Titel verrät die anbie­dernde und respekt­lose Haltung gegenüber der Haupt­figur, die sich durch den ganzen Film zieht. Die Malerin wird hier offenbar vor allem als junges unreifes Mädchen gesehen, nicht als ernst­zu­neh­mende erwach­sene Künst­lerin.
Viel­leicht liegt es ja daran, dass an diesem Film von den Dreh­buch­au­toren bis zum Cutter nur Männer mitwirkten – jeden­falls geht es so gut wie gar nicht um Kunst und Intellekt in diesem Film, sondern um Klischees eines Künst­le­rinnen-Lebens, und Alibi-Bilder hinter denen sich eine kreuz­brave erzkon­ser­va­tive 08/15-Bezie­hungs­story versteckt: Denn im Zentrum steht weder die Malerei, noch die Persön­lich­keit Modersohn-Beckers, sondern der Gender-Trouble zwischen den Ehegatten.
Die Malerei erscheint nur als ein Mittel zum Zweck im Liebes­reigen, und zum großen Finale des Films wird die Schwan­ger­schaft und Geburt des gemein­samen Kindes ausge­walzt – als wäre dieses die Haupt­sache, weswegen wir uns heute für Paula Modersohn-Becker inter­es­sieren.

Eine reak­ti­onäre Botschaft, ästhe­tisch präsen­tiert im Weich­zeichner-Kitsch wie aus der Margarine-Werbung. Und welch ein krasser Wider­spruch: Wir haben es mit einer Künst­lerin zu tun, die immerhin den Expres­sio­nismus mit erfand – ausge­rechnet so ein Mensch wird absolut spieß­bür­ger­lich und un-expres­sio­nis­tisch erzählt.

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Dass jetzt nur die Männer schuld sind, kann man aber auch nicht sagen: Denn auf der Piazza-Bühne standen dann die Förder­che­finnen von der Film­stif­tung NRW, die unver­s­tänd­liche, skandalös 1,3 Millionen Euro gegeben hat, womit andere allein zwei Filme machen (ja ja, ich weiß schon, wie Förderung funk­tio­niert und dass es so ist »wie es ist«, aber das ist ja das Problem), und vom Medi­en­board und Frau Berg von der FFA und Frau Buhl vom WDR. Die konnten dann gemeinsam mit den Produ­zen­tinnen mal erleben, wie es ist, wenn 8000 Zuschauer am Ende quasi nicht applau­dieren. Was man ange­sichts der Piazza wie gesagt nicht über­be­werten darf, aber immerhin.

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Auf dem Hinflug hatte ich Christian Schwochow getroffen. »Du wirst den Film nicht mögen« hatte er mir prophe­zeit. Auf meine Frage, warum denn, war seine Antwort: »Du hast mir mal gesagt, dass Du Dich nicht für Geschichten inter­es­sierst.« So hatte ich das zwar bestimmt nie gesagt, sondern eher, dass ich glaube, in Deutsch­land wird Story­tel­ling, oder werden Dreh­bücher über­schätzt, oder dass hier Filmäs­thetik und Form und Stil unter­be­wertet werden, irgends­o­etwas halt. Hätte ich da Paula schon gekannt, hätte ich aller­dings geant­wortet: »Dein Film hat doch gar keine Geschichte.« Oder was soll denn hier bitte die Geschichte sein?

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Ganz anders Peter Handke – Bin im Wald. Kann sein, dass ich mich verspäte – so der poetische Titel des neuen Doku­men­tar­films von Corinna Belz, die vor ein paar Jahren mit Gerhard Richter – Painting bereits ein groß­ar­tiges Künst­ler­por­trät vorlegte.
Auch in ihrem neuen Film setzt sie vor allem auf genaue Beob­ach­tung, präzise Gesprächs­aus­schnitte und wohl­do­sierten Einsatz von Archiv­ma­te­rial. Belz zeigt Peter Handke, jenen bedeu­tenden öster­rei­chi­schen Schrift­steller, der für viele Jahre das enfant terrible des Lite­ra­tur­be­triebs gegeben hat, als einen kauzigen, sperrigen, mitunter politisch streit­baren Menschen, der sich gern auch mal schlecht gelaunt gibt, aber eben auch als liebens­wert und im Grunde sanft erscheint. Er will nur spielen, auch wo er sich in Streit und Provo­ka­tion gefällt. Belz beob­achtet ihn beim Arbeiten und gele­gent­lich liest Handke aus seinen Notiz­büchern vor, die Regis­seurin zeigt Ausschnitte aus den Sech­zi­gern, als Handke noch als Jung­filmer in Ober­hausen auftrat, und aus jener Zeit, als er in Deutsch­land für seine Vertei­di­gung Serbien im jugo­sla­wi­schen Bürger­krieg geächtet wurde.

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»Daring Visions«, »gewagte Visionen« böte das deutsche Kino in diesem Jahr, so Locarnos künst­le­ri­scher Leiter Carlo Chatrian zu Beginn des Festivals. Das ist Lob, freilich könnte es auch eine versteckte Spitze enthalten. Denn »gewagt«, das heißt auch: »Latente Zumutung« oder »nicht ganz ausge­reift.«

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Gemischt waren die ersten Reak­tionen bei der Vorstel­lung des deutschen Beitrags Der traum­hafte Weg von der Berliner Regis­seurin Angela Schanelec. Chatrian hatte sie im »Fevi« schon nicht recht geschickt mit einem Bresson-Vergleich angekün­digt. Wenn es das mal gewesen wäre.
Auch dies ist ein Film, der das Erzählen und die Geschichte nicht gerade über­be­wertet – »Erzählt« wird von einem Paar, das sich in den 1980er Jahren aus den Augen verliert, und nach 30 Jahren wieder­trifft. Die Regis­seurin sträubt sich gegen die Konven­tionen des Erzähl­kinos, und zeigt statt Gesich­tern Hände und Füsse. Nunja. Muss es sein? Man hat den Eindruck, man soll hier erzogen werden, aber der Film erklärt nicht warum. Eher geht es darum, das Denken zu vergessen und zu akzep­tieren – darum geht es aller­dings auch an einer Koran­schule.

Ausge­reift ist dieser Film in jedem Fall, eine Zumutung ist er auch – aber dann eben letzt­end­lich doch eine produk­tive Zumutung für alle, die radikales, ästhe­tisch konse­quentes, streng konstru­iertes Kino schätzen. Schanelec macht No-Nonsense-Filme, macht keine Kompro­misse, sondern sie zieht ihr Ding durch. Das mag im Leben uner­träg­lich sein, für große Kunst aber ist es eine essen­ti­elle Voraus­set­zung. Was im Umkehr­schluss aber nicht bedeutet, dass alle Filme in diesem Stil schon auto­ma­tisch große Kunst sind.

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Nicht alle verstehen das. Die Kriti­kerin der NZZ, keine Schwei­zerin, sondern eine Deutsche mit leider meist nicht verläss­li­chem Geschmack, sah nur eine Regis­seurin, die »mit über­heb­li­cher Haltung inhalt­lich-erzäh­le­ri­sche Rätsel aufgibt, die sie nicht aufzu­lösen gedenkt.«
Liest man den Text weiter, gibt die Autorin aller­dings zu, dass sie eine »vergleichs­weise altmo­di­sche Art« des Film­erzäh­lens, »in zeitlich klar geord­neter Abfolge der Szenen, die inhalt­lich aufein­ander aufbauen«, und aus Osteuropa kommen, bevorzugt.
Dabei bieten die ehemals hinter dem Eisernen Vorhang gelegene Länder abgesehen von Rumänien heute die ödesten Film­länder Europas, biederes Beflis­sen­heits­kino.
Die schönen Japaner findet die junge alte Dame der NZZ natürlich erwartbar einen »kruden japa­ni­schen Softporno, den man hier wohl kaum erwartet hätte«. Hohoho...

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Zum dritten Mal zeigt der argen­ti­ni­sche Regisseur Mathias Pineiro in seinem neuen Film Hermia & Helena etwas, das inzwi­schen zu seiner Spezia­lität geworden ist: Er erzählt eine ganz zeit­genös­si­sche Geschichte aus dem Leben einer Gruppe von Mitt­zwan­zi­gern bis Mitt­dreißi­gern von heute. Zumindest irgend­eine von Pineiros Figuren hat immer auch etwas mit Kunst und mit einem Stück von William Shake­speare zu tun: In diesem Fall ist es Camila, die von Agostina Munoz mit flir­rendem Magne­tismus gespielte etwa 30-jährige Argen­ti­nierin, die an einer Über­set­zung von Shake­speares »Sommer­nachts­traum« arbeitet. Sie reist nach New York, merkt dort aber bald, dass ihr die Entfer­nung aus Buenos Aires und ihrem Familien- und Freun­des­kreis gar nicht gut tut. Während sie in ihrer Arbeit blockiert scheint, stürzt sie sich, mehr aus Lange­weile, in den Trubel der Metropole und bekommt plötzlich myste­riöse Post­karten einer früheren Mitbe­woh­nerin – und so erlebt Camilas im Guten wie im Schlechten ihren persön­li­chen Mitt­som­mer­nachts­traum.

Hermia & Helena ist erstens eine intel­li­gente und sehr sehr komische Komödie aus unserer Gegenwart; zweitens eine subtile Ironi­sie­rung der US-ameri­ka­ni­schen »Mumb­le­core«-Filme, die aus dem Leben paarungs­wil­liger, aber mit sich selbst gelang­weilter ameri­ka­ni­scher Großs­tädter erzählen, und drittens eine clevere Shake­speare-Bear­bei­tung, in der das 400 Jahre alte Stück zuerst in seine Einzel­teile zerlegt, dann neu zusam­men­ge­setzt, und dadurch mit Leben erfüllt wird. Alles in allem ein zauber­hafter bezie­hungs­rei­cher mitt­som­mer­li­cher Kinotraum mit mehr als einer Prise Rohmer, und einem Hauch von Woody Allen.

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Der stark fran­zö­sisch ange­hauchte japa­ni­sche Film Wet Woman in the Wind von Shiota Akihiko wiederum erzählt von der Amour Fou zwischen einer jungen Frau und einem Schrift­steller – »Liebe auf der Flucht«.
Zwei Filme an den ersten Tagen kommen aus Ägypten: Brooks, Meadows and Lovely Faces von Altmeister Nousry Nasrallah im Leoparden-Wett­be­werb besticht weniger durch große Kinokunst, als dadurch, dass hier im Gewand einer Fami­li­en­ge­schichte im Soap-Stil der soziale Wandel verhan­delt wird, der religiöse Terror der Muslim­brüder und die Enttäu­schungen im Gefolge des Arabi­schen Frühlings. Immerhin weiß Nasrallah wie man viele Menschen glaub­würdig insze­niert. 90 Minuten lang sind oft 10 bis 20, mit unter mehr Figuren im Bild. Bei dem könnten viele deutsche Filme­ma­cher ein Praktikum machen.
Filmisch wie politisch weitaus beein­dru­ckender ist da Akhdar Yabes, der von zwei Schwes­tern erzählt. Nach dem Tod der Eltern muss sich die Ältere um ihre junge Schwester kümmern. Zwar lebt die Ältere tradi­tio­nell. Doch als die Jüngere Heirats­an­träge erhält, stoßen die festen Über­zeu­gungen von Anstand und Sitte über­ra­schend schnell an ihre Grenzen.

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Dario Argento über­reichte den Ehren­leo­pard an Mario Adorf. Eine bewegende, auch beein­dru­ckende Zeremonie. Beein­dru­ckend, weil Adorf, der 40 Jahre in Rom lebte, fließend Italie­nisch parlierte. Bewegend,weil beide sich sichtlich mochten. Und wichtig: Weil Adorf hier in Locarno für die Sektion geehrt wird, die wirklich zählt: Die Retro­spektie »Geliebt und verdrängt«, die von Olaf Möller und dem Frank­furter Film­mu­seum DIFF kuratiert wird. Sie präsen­tiert das leider und voll­kommen zu Unrecht zu unbe­kannte west­deut­sche Kino der Nach­kriegs­zeit bis 1963, also vor dem Autoren­film von Fass­binder und Co.

Dort kann man Schau­spieler wie Hildegard Knef, Bernhard Wicki, Karin Baal, Gert Fröbe (!!!) und eben Mario Adorf wieder­sehen – stell­ver­tre­tend für viele Weltstars, die das west­deut­sche Kino vor 1962 hervor­brachte, viel mehr als danach: Romy Schneider, Horst Buchholz, Senta Berger, Oskar Werner, Elke Sommer, Klaus Kinski, Curd Jürgens.

Man kann auch einen frischen, ganz unpa­the­ti­schen west­deut­schen Realismus entdecken – Anti-Nazi­pa­thos-Kino. Neben bekannten Namen laufen hier auch besonders viele unbe­kannte Filme, die erst überhaupt wieder wahr­zu­nehmen sind. Ob Helmut Käutners groß­ar­tiger Schwarzer Kies, oder der Panzer­kna­cker­film Bank­tresor 713 von Werner Klingler, oder auch ein Film wie Rosen blühen auf dem Heidegrab von Hans Heinz König – dieser Titel ist Programm: Unter der Rosen-Schönheit liegen kaum verdeckt die Gräber des Zivi­li­sa­ti­ons­bruchs der Nazis. Und immer wieder kehrt in solchen Filmen das Verdrängte zurück.
Darüber ganz ausführ­lich nächste Woche, dann auch über den Film, dessen Titel auch Programm ist: Die Spur führt nach Berlin.

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Inter­es­sant wie das alles dann beschrieben wird, wenn ein Jour­na­list in einer über­re­gio­nalen Zeitung unbedingt positiv klingen möchte (siehe oben)
Da liest sich der erste Absatz so (Anmer­kungen in Klammern von mir): »Von einer mangelnden Liebe zum deutschen Kino kann beim Festival in Locarno keine Rede sein. Das hat einer­seits natürlich mit nach­bar­schaft­li­cher Nähe zu tun – ganz unab­hängig davon, dass das medi­ter­rane Klima (!) am Lago Maggiore (!!) nicht nur den Berliner Sommer (!!!) weit weg erscheinen lässt. Und ande­rer­seits bietet die Piazza Grande, wo vor allem publi­kums­wirk­same Filme (!!!!) auf der riesigen Freiluft-Leinwand laufen, deutschen Filme­ma­chern eine Plattform, die sie nur zu gern für sommer­liche Premieren nutzen. (Adjektive, Adjektive Adjektive: medit­teran, publi­kums­wirksam, riesig, sommer­lich.. Ein Absatz und noch immer nichts über Film, statt­dessen ein Reise­pro­spekt).
Nach dem späteren Lola-Gewinner Der Staat gegen Fritz Bauer im vergan­genen Jahr reiste zur nunmeh­rigen 69. Auflage des renom­mierten (Adjektive, Adjektive Adjektive: später, nunmehrig, renom­miert) Film­festes der Regisseur Christian Schwochow an und hatte seinen erst kurz zuvor final fertig­ge­stellten (kann man auch vorfinal fertig­stellen?) Film Paula im Gepäck. Für die Welt­pre­miere am Sonn­tag­abend, zu der der Altstadt-Platz bei traum­haftem Wetter (immer noch Reise­pro­spekt, immer noch kein Kino) mit über 7 000 Zuschauern bestens gefüllt war, bot sich Locarno in diesem Fall besonders an – wird die Titel­rolle der Malerin Paula Modersohn-Becker doch vom Feucht­ge­biete-Star Carla Juri gespielt, die als Tessi­nerin ganz in der Nähe aufge­wachsen ist. (Zwei Absätze, nichts Substan­ti­elles auch nur über den ersten Film).
(Obwohl sich der Reinfall nicht verschweigen lässt:) ›Juri ist das große Pfund, mit dem Paula wuchern kann, denn wenige Schau­spie­le­rinnen bringen dieser Tage eine derart funkelnde (so schreibt eigent­lich nur Marco Schmidt) Präsenz und Energie auf die Leinwand. Selbst wer nicht viel damit anfangen kann, dass Schwochow in seinem Film die kindlich-aufge­kratzte Seite von Modesohn-Becker arg betont (Aha!), kann sich an Juri nicht sattsehen. (Satthören schon, denn Juri nuschelt noch immer und akzent­frei deutsch kann sie leider auch nicht).‹«

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Stefania Sandrelli, Jane Birkin, Mario Adorf, Harvey Keitel, Roger Corman – sie alle bekommen Ehren­leo­parden. Dazu kamen allein an den ersten Tagen bereits eine Handvoll Stars mit ihren neuen Filmen in den Tessin – etwa Matt Damon, der ewige Jason Bourne mit dem neuesten Action-Reißer der Reihe. Alles gut so? Nun...

Es gibt sehr viel der Ehre in Locarno, aber auch wenn man jedem Einzelnen der Genannten die besondere Aufmerk­sam­keit gönnt, kommt man selbst als profes­sio­neller Besucher schon mehr als einmal durch­ein­ander, wer da jetzt gerade wieder im Star-Pater­noster der italie­ni­schen Schweiz noch oben fährt, und wer bereits wieder von der Bühne hinab­be­för­dert wird.
Unüber­sehbar ist: Die Film­fest­spiele von Locarmo leiden unter Inflation: Preis­in­fla­tion, Altstar-Inflation und Film­in­fla­tion.
Die Folge: Die Aufmerk­sam­keit verschiebt sich weg von den Filmen der beiden Wett­be­werbe und der in diesem Jahr ausge­zeich­neten Retro­spek­tive hin zu etwas, das mehr oder weniger auch irgendwie mit dem Kino der Welt zu tun hat. Meist weniger. Statt­dessen eher wie erwähnt eine große Tourismus-Werbung.
Hoffent­lich achtet das Festival in Zukunft wieder etwas mehr darauf, dass das Verh ältnis von Kunst und Glamour nicht aus der Balance gerät.

(to be continued)