Cinema Moralia – Folge 147
Toni Erdmann lebt hier nicht mehr |
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In Sieranevada holt die Kamera kaum Atem: alles scheint wie in Echtzeit und fast in einer Einstellung gefilmt | ||
(Foto: Cristi Puiu) |
»Saddam Hussein in die Knie zu zwingen, war den Tod von 500.000 irakischen Kindern wert.« – Madeleine Albright, US-Außenministerin 1997-2001, zitiert im rumänischen Film Sieranevada
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Dies ist, sagen wir, wie es ist, der beste Film des Jahres!!! Wer ihn sich nicht (für die Münchner Leser: heute, Donnerstag, um 19 Uhr im Münchner Filmmuseum) ansieht, ist selber schuld. Es wird ein Fehler gewesen sein, der nicht wieder gutzumachen ist. Denn nur schlechte Filme finden garantiert einen deutschen Verleih. Dieser hier, wie oft bei guten Filmen, hat keinen: Sieranevada von
Cristi Puiu aus dem Kinowunderland Rumänien. Weil offenbar alle Verleiher vor Rumänen Angst haben.
Der interessanteste, ungewöhnlichste, aufregendste. Ja, es gibt andere Filme, die meinen Geschmack mehr treffen, mir persönlich mehr geben oder mehr Spaß machen, aber kein Film in diesem Jahr hat eine ähnliche objektive Qualität.
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Dies ist ein kurzweiliger Film, trotz fast drei Stunden Laufzeit. Ein bestechendes Werk, voller Dichte und Intensität. Der größte Teil des Films spielt in einer einzigen Wohnung. Die bewegte Kamera sorgt dafür, dass bis zum Schluss vieles unübersichtlich bleibt, aber trotzdem aus einem Guss.
Puiu erzählt anhand einer Hauptfigur, einem Arzt, von einer Familie, die sich an einem einzigen Tag – alles spielt drei Tage nach den »Charlie Hebdo«-Anschlägen im Januar 2015 – zu
einer Familienfeier (das Totengedenken genau 40 Tage nach dem Tod von Larys verstorbenem Vater) in einer Wohnung trifft. Ein Dutzend Leute kommen und gehen, außer den Familienmitgliedern begegnet man noch ein paar Nachbarn, einem Priester mit seinem Gefolge, und einer volltrunkenen Freundin einer 20-jährigen, die den ganzen Tag in der Wohnung im Nebenzimmer abwechselnd kotzt und schläft. Beziehungsverhältnisse als Grabenkampf. Pack schlägt sich und verträgt sich. Chaos pur.
In den Gesprächen geht es um Sex und die Partei – »Wer hat mehr umgebracht?« –, die jeweiligen Feinde sehen in Kirche wie Kommunismus das Böse schlechthin. Der 11. September und Fukushima. Im Zentrum steht weniger die Liebe als ein sehr warmherziger Humor. Und stilistisch zeigen Regie und Kamera, mit welch geringen Mitteln den Rumänen immer wieder Intensität und dramaturgische Dichte gelingt, die wahrhaftiger ist, als die vermeintlich große Geste.
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Allein die Anfangsszene, in der die Hauptfigur Lary (Mimi Branescu) und seine Ehefrau Laura (Catalina Moga) im Auto sitzen, hätte kaum ein deutscher Regisseur so hinbekommen, so einfach, klar, die Figuren umfassend charakterisierend. Dabei ein Dialog über eine Kinderfeier, der lustige Streit über das Verhältnis von Disneys Schneewittchen zur Vorlage der Brüder Grimm. »Disney macht, was es will«, »Religion ist Opium fürs Volk«, »die Kirche soll erstmal Steuern
zahlen.«
Erstaunlich, wie hier alle Erwartungen an das Kino erfüllt werden, ohne dass der Film alles bedient.
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Erstaunlich auch, wie sich diese rumänischen Filme ähneln: Immer wieder überraschend große Wohnungen (fünf oder sechs Zimmer, zwei Bäder), deren Raum durch allerlei alte, zusammengestoppelte Möbel übertrieben vollgestopft und verengt ist, und durch die Menschen noch zusätzlich enger wird.
Immer wieder Hektik: Ein ständiges Hin und Her: Türen gehen auf und zu, Menschen wechseln Räume, Gesprächsthemen, Seelenzustände. Einer weint, ein anderer lacht, alle schreien sich an. Es
ist peinlich und intim und für uns Außenstehende sehr lustig.
Es geht um Doppelmoral, es geht um enttäuschte Erwartungen, um Verdacht und stille Vorwürfe, um den Preis des Alterns. Es geht also um das ganz normale Leben, weniger bürgerlich als in dänischen »Dogma«-Filmen, diesen aber doch in vielem ähnlich, aber mit weniger Moral ausgestattet, südländischer, also lebendiger.
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Es ist eine großartige Inszenierungsleistung Puius, die im Mai in Cannes allemal den Regiepreis, eigentlich die Goldene Palme hätte wert sein müssen. Viel besser als Loachs Siegerfilm I, Daniel Blake, viel besser auch als Toni Erdmann, der jetzt alles niederwalzt und plattmacht im deutschen Kino, dass
kein Gras wächst.
Sieranevada hätte selbstverständlich bei den sogenannten »Europäischen Filmpreisen« mindestens nominiert sein müssen.
Wie hier alles ganz selbstverständlich wirkt, wie gerade spontan geschehend. Und das ist natürlich inszeniert. So wie man während des Films überlegt, ob hier einer die Kamera überhaupt mal ausmacht, oder à la Victoria aus einer Einstellung erzählt würde. Natürlich wird geschnitten. Ein faszinierender Film, der versteht, zu fesseln wie zu überraschen.
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Ein Film, der zwar aus der Peripherie kommt, aus Rumänien, der aber ins Herz unserer Zustände greift. An der Oberfläche geht es – wie in Toni Erdmann – um Familie. Hier allerdings eine wirkliche Familie: vielköpfig und divers.
Sein untergründiges Thema ist – ganz im Unterschied zu Toni
Erdmann – die Orientierungslosigkeit der Gegenwart, die Ängste der Menschen, Paranoia und Verunsicherung, der kleine Abstieg von uns allen: ökonomisch, moralisch, politisch.
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Es gibt noch mehr seltsame Überscheidungen mit Toni Erdmann, oberflächliche Gemeinsamkeiten, die im einzelnen so auseinandergehen, dass die Kluft zwischen beiden Filmen überdeutlich wird: Denn auch bei Toni Erdmann gibt es ja eine Totengedenkfeier, am Ende. Die Totengedenkfeier hier gilt einem
Toten, den man zwar nie sieht, der aber im Raum schwebt – der Toni Erdmann dieses Films ist tot, von Anfang an, und das ist auch symbolisch zu verstehen: In Maren Ades Film geht es um eine Versöhnung mit dem Patriarchen (mag er auch sympathisch sein, er ist einer), um die Begradigung und Vereinheitlichung der Erzählungen. In Sieranevada geht es darum, dass nach dem Tod des
Patriarchen die Erzählungen widersprüchlich werden, auseinanderdriften, nicht mehr zu vereinheitlichen sind.
Das Chaos, das übrig bleibt, ist notwendig und darum auch gut. Denn es bringt die Beteiligten voran. Darum, so meine spontane Vermutung in dem Moment, wo ich dies schreibe, ist Toni Erdmann vermutlich ein regressiver Film.
(to be continued)