15.12.2016
Cinema Moralia – Folge 147

Toni Erdmann lebt hier nicht mehr

Sieranevada
In Sieranevada holt die Kamera kaum Atem: alles scheint wie in Echtzeit und fast in einer Einstellung gefilmt
(Foto: Cristi Puiu)

Tod den Patriarchen: Warum Sieranevada vermutlich der objektiv beste Film des Jahres ist – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 147. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Saddam Hussein in die Knie zu zwingen, war den Tod von 500.000 iraki­schen Kindern wert.« – Madeleine Albright, US-Außen­mi­nis­terin 1997-2001, zitiert im rumä­ni­schen Film Sier­an­evada

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Dies ist, sagen wir, wie es ist, der beste Film des Jahres!!! Wer ihn sich nicht (für die Münchner Leser: heute, Donnerstag, um 19 Uhr im Münchner Film­mu­seum) ansieht, ist selber schuld. Es wird ein Fehler gewesen sein, der nicht wieder gutzu­ma­chen ist. Denn nur schlechte Filme finden garan­tiert einen deutschen Verleih. Dieser hier, wie oft bei guten Filmen, hat keinen: Sier­an­evada von Cristi Puiu aus dem Kino­wun­der­land Rumänien. Weil offenbar alle Verleiher vor Rumänen Angst haben.
Der inter­es­san­teste, unge­wöhn­lichste, aufre­gendste. Ja, es gibt andere Filme, die meinen Geschmack mehr treffen, mir persön­lich mehr geben oder mehr Spaß machen, aber kein Film in diesem Jahr hat eine ähnliche objektive Qualität.

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Dies ist ein kurz­wei­liger Film, trotz fast drei Stunden Laufzeit. Ein bestechendes Werk, voller Dichte und Inten­sität. Der größte Teil des Films spielt in einer einzigen Wohnung. Die bewegte Kamera sorgt dafür, dass bis zum Schluss vieles unüber­sicht­lich bleibt, aber trotzdem aus einem Guss.
Puiu erzählt anhand einer Haupt­figur, einem Arzt, von einer Familie, die sich an einem einzigen Tag – alles spielt drei Tage nach den »Charlie Hebdo«-Anschlägen im Januar 2015 – zu einer Fami­li­en­feier (das Toten­ge­denken genau 40 Tage nach dem Tod von Larys verstor­benem Vater) in einer Wohnung trifft. Ein Dutzend Leute kommen und gehen, außer den Fami­li­en­mit­glie­dern begegnet man noch ein paar Nachbarn, einem Priester mit seinem Gefolge, und einer voll­trun­kenen Freundin einer 20-jährigen, die den ganzen Tag in der Wohnung im Neben­zimmer abwech­selnd kotzt und schläft. Bezie­hungs­ver­hält­nisse als Graben­kampf. Pack schlägt sich und verträgt sich. Chaos pur. In den Gesprächen geht es um Sex und die Partei – »Wer hat mehr umge­bracht?« –, die jewei­ligen Feinde sehen in Kirche wie Kommu­nismus das Böse schlechthin. Der 11. September und Fukushima. Im Zentrum steht weniger die Liebe als ein sehr warm­her­ziger Humor. Und stilis­tisch zeigen Regie und Kamera, mit welch geringen Mitteln den Rumänen immer wieder Inten­sität und drama­tur­gi­sche Dichte gelingt, die wahr­haf­tiger ist, als die vermeint­lich große Geste.

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Allein die Anfangs­szene, in der die Haupt­figur Lary (Mimi Branescu) und seine Ehefrau Laura (Catalina Moga) im Auto sitzen, hätte kaum ein deutscher Regisseur so hinbe­kommen, so einfach, klar, die Figuren umfassend charak­te­ri­sie­rend. Dabei ein Dialog über eine Kinder­feier, der lustige Streit über das Verhältnis von Disneys Schnee­witt­chen zur Vorlage der Brüder Grimm. »Disney macht, was es will«, »Religion ist Opium fürs Volk«, »die Kirche soll erstmal Steuern zahlen.«
Erstaun­lich, wie hier alle Erwar­tungen an das Kino erfüllt werden, ohne dass der Film alles bedient.

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Erstaun­lich auch, wie sich diese rumä­ni­schen Filme ähneln: Immer wieder über­ra­schend große Wohnungen (fünf oder sechs Zimmer, zwei Bäder), deren Raum durch allerlei alte, zusam­men­ge­stop­pelte Möbel über­trieben voll­ge­stopft und verengt ist, und durch die Menschen noch zusätz­lich enger wird.
Immer wieder Hektik: Ein ständiges Hin und Her: Türen gehen auf und zu, Menschen wechseln Räume, Gesprächs­themen, Seelen­zu­stände. Einer weint, ein anderer lacht, alle schreien sich an. Es ist peinlich und intim und für uns Außen­ste­hende sehr lustig.
Es geht um Doppel­moral, es geht um enttäuschte Erwar­tungen, um Verdacht und stille Vorwürfe, um den Preis des Alterns. Es geht also um das ganz normale Leben, weniger bürger­lich als in dänischen »Dogma«-Filmen, diesen aber doch in vielem ähnlich, aber mit weniger Moral ausge­stattet, südlän­di­scher, also leben­diger.

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Es ist eine groß­ar­tige Insze­nie­rungs­leis­tung Puius, die im Mai in Cannes allemal den Regie­preis, eigent­lich die Goldene Palme hätte wert sein müssen. Viel besser als Loachs Sieger­film I, Daniel Blake, viel besser auch als Toni Erdmann, der jetzt alles nieder­walzt und platt­macht im deutschen Kino, dass kein Gras wächst.
Sier­an­evada hätte selbst­ver­s­tänd­lich bei den soge­nannten »Europäi­schen Film­preisen« mindes­tens nominiert sein müssen.
Wie hier alles ganz selbst­ver­s­tänd­lich wirkt, wie gerade spontan gesche­hend. Und das ist natürlich insze­niert. So wie man während des Films überlegt, ob hier einer die Kamera überhaupt mal ausmacht, oder à la Victoria aus einer Einstel­lung erzählt würde. Natürlich wird geschnitten. Ein faszi­nie­render Film, der versteht, zu fesseln wie zu über­ra­schen.

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Ein Film, der zwar aus der Peri­pherie kommt, aus Rumänien, der aber ins Herz unserer Zustände greift. An der Ober­fläche geht es – wie in Toni Erdmann – um Familie. Hier aller­dings eine wirkliche Familie: viel­köpfig und divers.
Sein unter­grün­diges Thema ist – ganz im Unter­schied zu Toni Erdmann – die Orien­tie­rungs­lo­sig­keit der Gegenwart, die Ängste der Menschen, Paranoia und Verun­si­che­rung, der kleine Abstieg von uns allen: ökono­misch, moralisch, politisch.

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Es gibt noch mehr seltsame Über­schei­dungen mit Toni Erdmann, ober­fläch­liche Gemein­sam­keiten, die im einzelnen so ausein­an­der­gehen, dass die Kluft zwischen beiden Filmen über­deut­lich wird: Denn auch bei Toni Erdmann gibt es ja eine Toten­ge­denk­feier, am Ende. Die Toten­ge­denk­feier hier gilt einem Toten, den man zwar nie sieht, der aber im Raum schwebt – der Toni Erdmann dieses Films ist tot, von Anfang an, und das ist auch symbo­lisch zu verstehen: In Maren Ades Film geht es um eine Versöh­nung mit dem Patri­ar­chen (mag er auch sympa­thisch sein, er ist einer), um die Begra­di­gung und Verein­heit­li­chung der Erzäh­lungen. In Sier­an­evada geht es darum, dass nach dem Tod des Patri­ar­chen die Erzäh­lungen wider­sprüch­lich werden, ausein­an­der­driften, nicht mehr zu verein­heit­li­chen sind.
Das Chaos, das übrig bleibt, ist notwendig und darum auch gut. Denn es bringt die Betei­ligten voran. Darum, so meine spontane Vermutung in dem Moment, wo ich dies schreibe, ist Toni Erdmann vermut­lich ein regres­siver Film.

(to be continued)