73. Filmfestspiele von Venedig 2016
»One, two, one, two, three, four!« |
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La La Land von Damien Chazelle eröffnete mit gewolltem Schwung die Festspiele | ||
(Foto: Studiocanal GmbH) |
»Are the people gonna like it?«
»Fuck them!«
(Dialog aus La La Land)
Es ist ja manchmal gut, sich überraschen zu lassen. So habe ich wieder mal nichts vorher gelesen, erst fünf Minuten vor Filmstart den Eröffnungstitel erfahren, mich daran erinnert, dass die letzten Eröffnungsfilme Everest 3D und Gravity hießen – und dann kommt sowas: »Presented
in Cinemascope« erscheint breit auf der Breit-Leinwand, drei Takte Tschaikowsky sind zu hören, dann eine Radioansage, die vom Verkehrsstau handelt, und da sieht man schon Hunderte von Autos auf einem Freeway an einem Sommertag in L.A. Kaum ist die Radioansage vorbei, verlässt eine Frau das Auto – und fängt an zu singen. Wow! Ein paar Schrecksekunden dauerte es noch, dann, spätestens als zwei, drei weitere Personen aus den Autos steigen, und mitsingen, hatte ich begriffen: Ein
Musical. Und ein paar weitere Sekunden später tanzen dann Hunderte von Leuten um ihre Autos herum, in den Autos, auf ihren Dächern. Teilweise synchron im Rhythmus, teilweise sehr individuell. An irgendetwas erinnerte mich das. Aber an was?
Die Musik ist nicht richtig alt, und nicht richtig neu, hat irgendwas nostalgisches, und irgendwas ganz heutiges. Was war es bloß?
Während ich noch nachdachte, und weitere Wow-Momente kurz aufeinander folgten, wurde auch klar, dass das, was da
gerade auf der Leinwand zu sehen war, in seiner ganzen Einfachheit und Klarheit, zugleich in seiner Künstlichkeit ganz weit weg war von allem Mainstream, von all dieser »Unterhaltung«, mit der man das Publikum auf den niedrigsten gemeinsamen Nenner herunterverdummt. Das machte großen Spaß, das war unbedingt eskapistisch, aber Unterhaltung war es gerade darum nicht.
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Dann, früh genug, fiel es mir ein: Natürlich – Jacques Demy! Daran erinnerte es nicht nur, das kopierte diese atemberaubende Eröffnungsszene ganz offen, aber nicht platt und blöd. Man muss jetzt Les Demoiselles de Rochefort nicht lieben, und Les parapluies de Cherbourg nicht gesehen haben, um diesen Film zu verstehen und wertzuschätzen. Aber wenn man es hat, hilft es, weil man dann gleich die Künstlichkeit und Märchenhaftigkeit und den emotionalen Realismus dieses Films einschätzen kann.
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La La Land, so heißt der Eröffnungsfilm von Venedig, stammt von Damien Chazelle. Den muss man auch nicht kennen, aber wenn man weiß, dass er vorher Whiplash gemacht hat, und damit für eine Reihe von Oscars nominiert war (von denen der Film drei bekam), dann hilft auch das zum Verständnis. Dazu gleich mehr.
Zunächst muss man feststellen, dass es in diesem Film eine ganze Weile so weitergeht: Viele Musikszenen, auf die man wartet, weil die Handlung dazwischen völlig belanglos ist. Dass etwa nach der Hälfte diese Musikszenen immer weniger werden, ist daher eine schlechte Nachricht. Solange es sie noch gibt, aber haben sie diesen Demy-Touch: Sie sind modern inszeniert, spielerisch und verspielt (was nicht das gleiche ist) und vor allem: Sie genügen sich selbst. Sie müssen nicht irgendeine
Handlung vorantreiben, eine Psychologie erfüllen, für die sich sowieso niemand interessiert.
Die Musik eröffnet eine andere Seite neben der Wirklichkeit: »This could never be«, singt einer, da sagt die Musik uns schon, dass es längst der Fall ist.
Ryan Gosling und Emma Stone spielen die Hauptrollen, völlig chemielos übrigens, und das einzige woran ich mich wirklich erinnere, ist dass ich Stone eine Weile nicht erkannt habe, und fand, dass beide noch magerer aussehen. Stone richtig ungesund.
Manches ist etwas billig, aber in seiner Billigkeit bereits wieder lustig: Stone wohnt mit drei Freundinnen zusammen und die sind in Haar- und Hautfarbe derart getypecastet, dann noch im roten, gelben, blauen Kleid, dass es wirkte wie
Steinzeit-Privatfernsehen: Tutti frutti.
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Musicals sind Filme mit Musik, in denen Menschen singen und tanzen, wo sie realistischerweise eigentlich gehen und reden sollten. Kino-Opern, besser Kino-Operetten. Die Künstlichkeit der Oberfläche ist ihnen eingeschrieben. Sie ist das Prinzip des Ganzen, und diese Künstlichkeit liegt nie allein in der Tatsache, dass die Leute singen. Es gibt, wenn ein Musical nicht komplett missglückt ist, immer Momente, da hebt der Film ab. Aber es gibt ganz unterschiedliche Arten, damit umzugehen. Bei Busby Berkeley in den frühen dreißiger Jahren ging es um das Gesamtbild. Es zählte die Geometrie, die Übertragung des Eindrucks der Tanzrevuen auf der Bühne auf den Film. Siegfried Kracauer beschrieb diesen Eindruck des Geometrischen in einem berühmten Essay als »Ornament der Masse« und es lohnt, darüber nachzudenken, wie viel solche Erscheinungen der Unterhaltungsindustrie mit dem Fordismus der Fließbandarbeit seit den 20er Jahren, mit totalitären Tendenzen der Gleichschaltung, der Entindividualisierung und der Massenpsychologie und Massenpropaganda der gleichen Epoche zu tun haben.
Andere amerikanische Musicals, vor allem spätere, zeigen individuellere Charaktere. Auch unter den Statisten ist die Chorus-Line nicht starr, sondern aufgebrochen, die Figuren sind als Einzelne erkennbar und die Kunst liegt darin, dass in all dieser Diversität nie der Eindruck des Chaos aufkommt.
Die in den 30er und 40 Jahren in der NS-Diktatur unter Verantwortung von »Filmminister« Joseph Goebbels entstandenen deutschen Revuefilme und Kino-Operetten – besonders mit Marika Rökk und/oder Johannes Heesters besetzt – machen wieder etwas anderes: Sie zeigen die Uniformierung und Gleichschaltung, die man vom faschistischen »Ornament der Masse« erwartet, kombinieren diese aber mit einem Star »in front«, der der Masse hinter sich, dem Chor, den Takt vorgibt, ihn führt, und vor ihm tanzt – und oft auch individuell. Man muss sich nur mal Eine Nacht im Mai oder Die Frau meiner Träume ansehen – das lohnt sich sowieso! – um zu erkennen, dass Marika Rökk auf den Filmbühnen im Prinzip das Gleiche tut, wie Adolf Hitler in Riefenstahls Reichsparteitagsfilmen.
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Jacques Demy hat etwas anderes gemacht: Er hat die in der Regel relativ starre Musical-Kamera mobilisiert, mit komplexen Kränen, Schienenkonstruktionen und anderem in Bewegung gebracht, und zugleich auf schnelle Schnittfolgen verzichtet – zugunsten langer Einstellungen. Das schafft mehr Intensität, das subjektiviert den Zuschauerblick.
Damien Chazelle, und hier kommen wir wieder zum Eröffnungsfilm, kopiert dies, hat eine herausragende Kamera, und ähnlich wie Demy traut er sich was: So friert er ein paarmal die Menschen ein, nur Stone und Gosling bewegen sich in einer Welt des Stillstehens. Irgendwann landet das Paar im Zentrum im berühmten Griffith-Observatorium, nachdem sie im Kino den James-Dean-Film
Rebel Without a Cause gesehen haben, wo dieser Ort eine Hauptschauplatz ist, und turteln unterm künstlichen Sternenhimmel – und heben ab, fliegen im Raum umher. Auch das funktioniert überraschenderweise – prachtvoller Eskapismus.
All das verliert er irgendwann aus den Augen.
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Trotzdem La La Land ein ziemlich guter Eröffnungsfilm ist, und wahrscheinlich eines der besten Musicals seit Jacques Demy, hat der Film massive Probleme. Sie liegen vor allem daran, dass der Film zu dem Romantizismus und der Nostalgie, die er aufbaut, nicht steht, nicht stehen möchte, sondern sie stattdessen benutzt, um sie gegen sich selbst zu wenden, um Nostalgie und Romantik zu delegitimieren.
Goslings Charakter, der als Jazzfan eingeführt wird, erklärt erstmal dem Publikum, was Jazz heißt: »It’s not relaxing, you can’t hear it, you have to see it. It’s conflict, compromise, never easy.« Dann sagt ihm einer: »Du willst Jazz retten? Wie willst du Jazz retten, wenn niemand zuhört?« Und da haben wir die amerikanische Ideologie des Konsumismus – die Leute haben immer recht. Als er darauf hört und sich verkauft, macht Gosling Karriere. »Why do you say romantic like it’s a dirty word?«, hatte er noch gefragt.
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Auch Emma Stones erfolglose Schauspielerin muss im Grunde lernen, dass die Sehnsucht nach Liebe und Glück den Erfolg nur behindert. Und der Film nimmt ganz klar Partei für den Erfolg, gegen die Liebe. Das geht hier nicht zusammen. Denn der Film enttäuscht alle Erwartungen nach einem Happy End. Dieses Happy End wäre aber nicht die ideologische Ausflucht, sondern eine Utopie. Ideologisch ist hingegen die Parteinahme für den Verzicht aufs private Glück. Der Film will zeigen, wie
schnell die Idealisten kippen, wie sie mit dem Erfolg plötzlich brainwashed werden, dass die Idealisten kippen müssen. Es scheint diese Botschaft zur Handschrift von Chazelle zu werden, denn auch in Whiplash ging es darum, dass ein junger Typ seine Flausen aufgeben und einem autoritären Führer sich bedingungslos – darauf kam es an, nicht um kurzfristige Belohnung, sondern um
des Schmerzens der Unterwerfung Willen – unterwerfen sollte. Zen-Buddhismus für die Generation Praktikum.
Das alles ist sehr sehr amerikanisch, und in seiner Härte gar nicht romantisch. Die Amerikanisierung des Genres siegt über Demy. In der letzten Stunde des Films wird nicht mehr gesungen. Und Stone wird zur kalten, schrillen, reichen Ami-Bitch – der Film zeigt fortwährend, was man nicht sehen will. Das Ende der Romantik.
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Nur eine Traumebene soll es am Ende noch richten. Sie zeigt, verbunden mit einem letzten Blick der beiden Exlover, das mögliche Leben. Wir alle kennen das: Was wäre, wenn? Wenn wir damals in den Zug gestiegen oder nicht gestiegen wären, den Job angenommen oder abgelehnt hätten, den Menschen geküsst hätten, oder den anderen.
Mag man auch glücklich sich fühlen, die verpassten Chancen sind immer schmerzhafter als noch das gelungenste Leben für sie entschädigen könnte. In diesem Schmerz
trauern wir um uns selbst, um die verlorenen Utopien des Ich. Und auf diesem Schmerz, den wir alle kennen, reitet der Film herum.
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»Acht Uhr Afrika?« – ein Stich ins Herz war es, diese SMS heute zu lesen, als ich mein italienisches Telefon wieder aktivierte. Geschrieben wurde sie vor fast genau zwölf Jahren, am 2.September 2004, um 19.16 Uhr von »malt« – Michael Althen, mit dem für mich das Festival von Venedig auf immer verbunden bleiben wird. »Afrika« ist ein Restaurant auf dem Lido, wo man überdurchschnittlich gut essen kann, aber die Tische knapp sind. Michael liebte dieses Festival und die dazugehörige Stadt, wusste beides zu genießen, zeigte mir ein paar gute Orte, und man konnte von ihm lernen, über das Filmegucken das Leben nicht zu vergessen – umgekehrt aber auch dem Kino im Leben Platz zu lassen.
Auch ein paar andere kommen nicht mehr hierher – aus unterschiedlichen Gründen. Die Freundschaften, jedenfalls unter den Kritikern, haben sich verlagert: Gerade in Venedig weg von den Deutschen, denn mit den meisten, die hier sind, habe ich so wenig am Hut wie sie mit mir, hin zu anderen Nationen: Italiener, Österreicher, Türken, Spanier, Argentinier. Sonderbar, dass ich auch nach bald 20 Jahren als Kritiker zwar viele Kollegen aus allen möglichen Ländern kenne, aber keine Franzosen – über höfliche Begrüßungen hinaus. Sie sind unter sich. Und keiner ist steifer, seltsam gezwungener und insgesamt unkollegialer als die Deutschen.
Von Michael, der lieber sein Bier allein trank, als am falschen Ort mit Uninteressanten zu stehen, deren Gesprächen er dann zuhören musste, konnte man lernen, diese Steifheit kommentarlos zu ignorieren. Er war sofern ein »guter« Mensch, dass er nicht lästerte, aber sein Urteil, wenn man doch mal auf Kollegen kam, war klar und weniger wohlwollend, als wenn es um Filme ging.
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Die Kritik an La La Land ist Kritik auf relativ hohem Niveau. Keinesfalls besser, sondern um Klassen schlechter, wurde es dann mit dem zweiten Film des Wettbewerbs: The Light Between Oceans. Eine schreckliche Schmonzette, wie man sie nie im Leben vom Regisseur von Blue Valentine erwartet hätte. Der trifft immer die falschen Entscheidungen. Und ich meine noch nicht einmal die, den Film überhaupt zu machen. Sondern die Klimper-Kleister-Musik, die zudem permanent eingesetzt ist. Genau der Typ Film, den es nicht mehr geben sollte, der Typ Film, den die dummen Agenten auch nicht gerade smarter Schauspieler ihren Klienten einreden – »denn das solltest du jetzt machen, eine ernsthafte Rolle und der Regisseur von Blue Valentine« und »Rachel Weisz hat schon zugesagt« –, und damit ihre Karrieren ruinieren. Alicia Vikander muss jedenfalls bei aller Begabung – und wir möchten sie gern mal außerhalb der Historienschinken sehen – allmählich auf ihren Ruf achten. The Danish Girl war jedenfalls schon bei der letzten Mostra die unfreiwillige Lachnummer im Wettbewerb. Und jetzt das.
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Ein vom Ersten Weltkrieg traumatisierter Leuchtturmwärter (den man Michael Fassbender nie glaubt) heiratet eine ihm überlegene Frau. Sie sind glücklich auf einer gottverlassenen menschenleeren Insel. Dann verliert sie zum zweiten Mal ihr Baby. Nur Tage später spült das Meer ein Boot mit einem toten Mann an den Inselstrand. In seinen Armen liegt auch ein wenige Wochen altes Mädchen – lebend. Kurz zögern beide, dann setzt sich die Frau mit ihrem spontanen Wunsch durch, das Mädchen zu behalten und als ihr eigenes Kind aufzuziehen. Sie sagen es niemandem. Doch das Geheimnis kommt Jahre später ans Licht. Und so könnte dies ein Film sein, der aus der Differenz von sozialer und biologischer Elternschaft Funken schlägt. Der danach fragt, wie man mit einem Tabubruch umgeht. Aber nein: Der Film schwitzt Schicksal, trieft von Gefühligkeit.
Die Moral lautet: Die Reichen gewinnen immer. Rachel Weisz spielt die biologische Mutter, die man nur deshalb so empathisch betrachtet, weil sie wohlsituiert und -artikuliert ist.
Ein Film, dessen stilistischer Konservatismus schon verhindern sollte, dass er hier im Wettbewerb läuft. Vor allem aber breitgetretener Quark, den die Welt nicht braucht, langweilig, voller falscher Gefühle.
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Angekommen bin ich bereits Montag. Am ersten Abend im »Maleti«, traf ich Mathilda aus München. Eine gute Seele: Intelligent, politisch hellwach, ohne beides raushängen zu lassen. Wir sprachen über den Neid der Kollegen, besonders wenn einer noch etwas anderes macht, als nur Filmkritiken zu schreiben. Sie wollte es zuerst nicht wahrhaben, Neid sei doch »Schwachsinn«, brachte dann aber selbst die zwingenderen Beispiele: »Dann sollen sie es doch selber machen.«
Mathilda berichtete auch von Freunden, die sie jetzt verliert – weil die Sympathien mit der AfD zeigen. Wir beide sind überzeugt, dass in Deutschland ein neuer Faschismus möglich ist, und gar nicht so unwahrscheinlich, weil der Rechtsruck ja im Gange ist und alle Parteien nach rechts zieht, die linken erst recht – aber ich fürchte, diese Bemerkung kommt den Lesern hier jetzt very old school vor und vollkommen übertrieben. Abwarten.
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Wenn wir auf die Filmgeschichte blicken – die hervorragende letzte Locarno-Retrospektive ist das beste Beispiel –, dann ist die Spaltung des Weltkinos, die sich in den letzten zehn Jahren deutlich vertieft hat, unübersehbar: Es gibt Filme für die Masse und Filme für kleine Eliten, wie uns Festivalbesucher. Die Massenfilme sind so dumm, dass auch immer größere Teile der Masse sich von ihnen beleidigt fühlen und die Kinos meiden. Die elitären Filme sind so elitär, dass sich auch die Festivalbesucher immer weniger für sie interessieren.
(to be continued)