08.09.2016
73. Filmfestspiele von Venedig 2016

Techniken des Überlebens...

La Region salvaje, Amat Escalante
La región salvaje von Amat Escalante ist, puta madre!, einer der bislang interessantesten Goldener-Löwe-Filme
(Foto: Forgotten Film Entertainment)

Märchen, Humanität, Zauber und Vernunft: Ana Lily Amirpours The Bad Batch und Amat Escalantes La región salvaje erzählen vom Überleben der Humanität – Notizen aus Venedig, Folge 4

Von Rüdiger Suchsland

Gerade Frauen haben es nicht leicht in den Filmen von Venedig in diesem Jahr. Sie stehen im Zentrum, sind Haupt­fi­guren, aber das kostet seinen Preis. Auf Jackie Kennedy werden wir noch zu sprechen kommen. Jetzt erstmal zu den bisher zwei besten Filmen im Wett­be­werb, Stand Mitt­woch­abend.

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Riesige Steine fliegen schwe­relos und überaus langsam irgendwo herum. Im Weltraum? Dann ein Schnitt: Eine junge Frau, Ende zwanzig, hübsch, sitzt nackt vor einem Bambus­stamm, offenbar in einer Holzhütte. Sie schwitzt und stöhnt sanft, man glaubt erst, dass sie sich selbst befrie­digt. Dann, als die Kamera langsam an ihrem makel­losen Körper herun­ter­gleitet, sieht man kurz eine Art Tenta­kelarm zwischen ihren Schenkeln heraus­gleiten, und seitwärts verschwinden...
Es folgt ein kurzer Dialog: »You should leave.« – »Let me stay a little longer, por favor.« Dann verlässt sie, wieder angezogen in Jeans und weißer Jacke die Holzhütte, geht weg durch eine morgen­feuchte, nebelum­tauchte Wald- und Wiesen­land­schaft. Sie blutet aus der Hüfte, besteigt ein Motorrad, und fährt weg. Die Kamera ist dabei subjektiv, der Sound und die dishar­mo­ni­schen Klänge der Musik erinnern an Horror und Science-Fiction. Man kann den zweiten Teil dieser ersten Szene im Netz ansehen.
»It hurts her«, sagt ein altes Paar. Die sind offenbar so etwas wie die Gastgeber hier, oder eine seltsame Art von Forschern: An der Wand finden sich Bilder von Schädeln, Wesen aus der Urzeit, Schlangen und ähnlichem Getier.

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Puta madre, was für ein Film! Er lässt den Betrachter erst einmal allein mit der Wucht dieses Auftakts, die sich nur langsam legen wird. Die aber uns, den Zuschauern, auch sofort das Gefühl gibt: Hier nimmt uns ein Filme­ma­cher an der Hand, hier können wir uns den Bildern über­lassen. Hier weiß einer ganz unbedingt, was er tut. Mal sehen, was das wird – aber wie schön, dass wir es jetzt sehen werden.

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Ein Traum? Eine Art Traum? So darf man sich eine kurze Weile trösten, als im nächsten Bild eine andere junge Frau aufwacht. Alejandra. Neben ihr ein Mann, schlechter Sex am Morgen, der Alltag eines Ehepaares. Danach steht sie unter der Dusche, befrie­digt sich, bis sie von den Kinder gestört wird. Zwei Jungs, einer ist aller­gisch gegen Scho­ko­lade.
Der Film ist La región salvaje, er stammt von Amat Escalante, dem Mexikaner, der seit Sangre und Heli so bewundert wie berüch­tigt ist. Hier zwei Kurzfilme des Regis­seurs.
Danach sehen wir die Frau vom Anfang, sie heißt Victoria, im Kran­ken­haus. Ihre Wunde wird versorgt von einem Kran­ken­pfleger: Er heißt Fabien, ist nett, hübsch, lustig. Sie hat erzählt, die Wunde sei von einem Hundebiss – da warnt er sie vor Tollwut.
Am Abend in einer Bar toben sich junge Mexikaner aus, werden wild zu Tequila und guter schlechter Musik. Fabien und Angel, der Ehemann von Alejandra, haben Sex, sie kennen sich offenbar schon lange. Später verstehen wir: Fabien ist Alejan­dras Bruder.
Gleich­zeitig freunden sich Victoria und Fabien an. Sie sind nett zuein­ander, ohne ein Paar zu werden. Wobei Victorias Moti­va­tion immer unklar bleibt. Inter­es­siert sie Fabien? Braucht sie Unter­s­tüt­zung, um loszu­kommen von dem seltsamen Wesen? Oder will sie diesem neue Objekte zuführen? Und Objekte für was genau? Die Zeit­spanne, die hier vergeht, ist nicht ganz klar, aber während sich Fabien Angel entfremdet, erfährt er von »ihm«, von dem nicht ganz klar ist ob es ein »Er« oder eine »Sie« ist. Dem Wesen in der Hütte, das er bald darauf auch besucht. Es ist offen­sicht­lich bedroh­lich und nicht harmlos. Doch zugleich ist es offenbar auch in der Lage, den Menschen unbe­kannte, ungeahnte Freuden zu bereiten, Freuden, von denen sie nicht mehr los kommen.

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Eine Weile später wird auch Alejandra noch zur Besu­cherin der Hütte werden. Bemer­kens­wert ist hier die Selbst­ver­s­tänd­lich­keit, mit der alle Betei­ligten dieses Wesen und seine Existenz akzep­tieren. Es ist halt so. Die Selbst­ver­s­tänd­lich­keit eines Dings aus einer anderen Welt.
Die Alten, die es beher­bergen, lernen wir etwas besser kennen. In der Hütte, in der sie leben, gibt es auch einen großen schwarzen Hund, der an einen Wolf erinnert. Die alte Frau könnte eine Schamanin sein, oder auch eine alte Hexe. Sie braut seltsame Getränke, viel­leicht einen harmlosen Tee, viel­leicht ein Beru­hi­gungs­mittel oder eine Droge. Über ihren Mann, für den sie Arbeiten erledigt sagt sie: »Ein Wissen­schaftler, mit der Sensi­bi­lität eines Steins.«

Was ist das für ein Wesen, das sie da beher­bergen? »At first, you will think, that you are hallu­ci­n­a­ting«, sagt die Alte. Sie erzählt von einem Meteor, der vor langer Zeit einschlug – der Stein im Raum vom Anfang? Allemal ist Mexiko das Land der Meteore, entstand der Golf von Mexiko einst vermut­lich aus einem riesigen Mete­or­ein­schlag. In einem recht kleinen Kreisrund sieht man dazu eine Menge von Tier­paaren in para­die­si­scher Eintracht sich paaren.
Das sei, erklärt die Alte, die Mate­ria­li­sie­rung von »our most primitive side«. Die fleisch­ge­wor­denen Basic Instincts. Irgend­wann sehen wir es: Eine Art riesen­großer Octopus. Mit seinen Tenta­kel­armen stiftet es Lust. »It can only give pleasure. It has never hurt anybody.«

Ganz so ist es nicht: Diese fleisch­ge­wor­dene Begierde ist eben auch gefähr­lich. Fabien wird schwer verletzt im Wald gefunden. Der Verdacht auch Alejan­dras fällt auf Angel, nachdem sie dessen Text­bot­schaften entdeckt hat. Während Escalante mit Angel einen Schwulen beschreibt, der zugleich als Schwu­len­hasser auftritt, der Vege­ta­rier ist und der seine Frau schlägt, wird der nette, weiche zuvor­kom­mende Schwule hier schwerst­ver­letzt. »Wollte Gott Onkel Fabien bestrafen?«, fragt einer von Alejan­dras Söhnen. Groß­mutter habe das gesagt. »Grandma is a lying witch«, erklärt Alejandra.

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Eine böse Groß­mutter, eine böse Schwie­ger­mutter, Hexen in Hütten im Wald, Monster und Tote am gleichen Ort – es sollte klar sein, dass wir uns hier im Land der Gebrüder Grimm befinden. La región salvaje ist ein Märchen für Erwach­sene aus Mexiko, ein Zwitter aus Kunstkino und Horror­film, und eben auch Grimms Märchen.
Zugleich auf Mexiko zielend: Eine Betrach­tung der Männ­lich­keits­ri­tuale, der Homo­phobie, der Heuchelei hinter den tradi­tio­nellen Werten von Ehre und Familie.
Die Region, die der Titel bezeichnet, jenes »wilde Terrain« ist in uns, ist aber auch überall. Es ist unsere Natur, die gewis­ser­maßen verfüh­re­risch ist, aber auch gefähr­lich, mögli­cher­weise tödlich. Ein verfüh­render, verfüh­re­ri­scher und ein verfüh­re­risch rätsel­hafter Film.

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Ein Girl steht allein bei Tages­licht in der Wüste. Sie trägt Hotpants, Base-Cap, einen Rucksack mit »I love Texas« -Sticker und Trauer-Smilie. In der rechten Hand ein Wasser­ka­nister, den braucht man bei der Hitze. An der linken Schulter ein Tatoo: »Suicide«. Auf den Fingernä­geln dunkler Nagellack, leicht abge­split­tert. Sie strahlt Coolness aus, und das, was die Ameri­kaner self-reliance nennen: Eigen­s­tän­dig­keit, Souver­ä­nität. Sie genügt sich selbst.

Es gibt einen Zaun, durch den sie kam. Es gibt ein System, es gibt Behörden, die jenen, die ausge­schlossen werden, oder frei­willig gehen, eine Nummer eintä­to­wieren. Es gibt ein Schild, auf dem steht: Dies hier jenseits des Zauns ist nicht länger Texas. Es gibt ein totes Auto, in das sich das Girl zurück­zieht, ausruht, Lippen­stift auflegt.

Da kommt ein Golf-Caddie-Wagen, mit zwei Leuten drin. Sie rennt weg, wird gefangen. Nächstes Bild: Sie wacht auf, mit den Füßen in Eisen­ketten, mit den Armen ausge­breitet an Seilen fest­ge­bunden, in einem post­apo­ka­lyp­ti­schen Trailer-Park, der von einer Gruppe von muskel­be­packtem White-Trash (Wrestlern?) bewohnt wird. Gleich darauf erhält sie eine Spritze, dann wird ihr der rechte Unter­schenkel und der rechte Unterarm abgesägt. Beides landet auf einem Grill, und wird von den Einwoh­nern bald genüss­lich zum Abend­essen verspeist.
Auf den Fingern der verlo­renen Hand der jungen Frau stand eintä­to­wiert »F E A R«. Damit, aber das werden wir erst später verstehen, hat man ihr auch alle Furcht genommen.

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Bald darauf versucht sie auszu­bre­chen, und auch wenn man es kaum glauben mag, es gelingt: Dies ist ein Film über das Überleben und über Über­le­bens­tech­niken. Das ist wohl gerade ein zeit­ge­mäßes Sujet, aber die Sympathie mit denen, die gehen alle und alles zu überleben versuchen und denen das Überleben gelingt, ist – siehe The Revenant – sehr ameri­ka­nisch. Zugleich ist die US-Flagge hier, damit auch insofern keine Miss­ver­s­tänd­nisse aufkommen, das Zeichen der Bösen, des Stammes von dem wir vor der Flucht noch genug gesehen haben, um uns über seine kanni­ba­li­sche Natur wie seine mora­li­sche Verwor­fen­heit keine Illu­sionen zu machen. »Why are you so obsessed with me?« erklingt dazu vom Sound­de­part­ment.
Sie wird gefunden von einem Obdach­losen, der in der Wüste mit einem Boller­wagen herum­fährt, und in eine neue »Stadt« gebracht, ein Fort aus Contai­nern. Das heißt »Comfort«. »You can’t enter the dream unless the dream enters you«, steht an der Wand.

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Ana Lily Amirpour, Perserin mit ameri­ka­ni­schem Pass, die 1980 in England geboren und in den USA aufge­wachsen ist, war vor zwei Jahren über Nacht mit ihrem Spiel­film­debüt zum Shooting-Star der inter­na­tio­nalen Filmszene geworden: A Girl Walks Home Alone At Night war zwar in Schwarz­weiß und in Farsi, der perse­ri­schen Sprache gedreht, hatte aber trotzdem in den USA reüssiert und war sogar im cine­phoben Deutsch­land ins Kino gekommen. Ihr zweiter Film ist The Bad Batch, der jetzt in Venedig läuft und am Diens­tag­abend Premiere hatte, ist ohne Frage einer der besten und origi­nellsten Filme im dies­jäh­rigen Wett­be­werb um den Goldenen Löwen.

Die Kanni­balen spielen hier nun trotz des Auftakts nur eine Neben­rolle. Eher handelt es sich um ein Science-Fiction-Szenario in der Tradition der Mad Max-Filme und noch mehr des »Tank Girl«-Comics: In einer post­apo­ka­lyp­ti­schen Welt nahe des texanisch-mexi­ka­ni­schen Border-Country leben Menschen jenseits staat­li­cher Ordnung in verschie­denen Gemein­schaften. Nahrung ist knapp, Energie offenbar weniger, denn statt Western-Pferden fährt man Motorbike. Das Haupt­thema ist wie erwähnt die Kunst des Über­le­bens, die zentrale Figur ist die junge Frau, deren Namen man erst spät erfährt: Arlen (eindrucks­voll gespielt von Suki Water­house). An die Stelle des verlo­renen Beins tritt in »Comfort« bald eine Prothese, während der Arm aus uner­find­li­chen Gründen nie ersetzt wird.
»5 Monate später« setzt die Handlung wieder ein.

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Zunächst sucht Arlen Rache, und der Zufall spielt ihr bald eine Kanni­balin zu. Die Frau mit einem T-Shirt, das die Aufschrift »Vamos a la playa« trägt, liegt verletzt an einer Müllhalde, die sie plündern wollte. Ihre Tochter steht daneben: »Does your kid eat people too?« fragt Arlen. »I am just trying to survive. We are the same.« – »Oh no! We are not the same.« Und Arlen erschießt die Frau, um dann über ihre Tat zu erschre­cken. Verlorene Unschuld und die Aufgabe erlernter Verhal­tens­weisen gehören zur Technik des Über­le­bens.
Zu der gehört aber auch das Überleben der Humanität. Und tatsäch­lich ist dieser Film mehreres: Das Brutale, Menschen­ver­ach­tende ist nur die Ober­fläche. Darunter kreist alles darum, wie unter Bedin­gungen der Gewalt das Mensch­liche bewahrt werden kann – und worin dieses Mensch­liche eigent­lich liegt. Denn selbst­ver­s­tänd­lich ist Rache mensch­lich. Selbst­ver­s­tänd­lich ist es mensch­lich, unter bestimmten Umständen zu töten.
Doch Arlen kümmert sich eben nach dem Mord an deren Mutter um die Tochter eines ihrer Ex-Peiniger, der auch malt, aus Kuba stammt, und auf den Namen Miel hört. Sie wider­steht den Fängen des charis­ma­ti­schen Diktators von Comfort, den Keanu Reeves verkör­pert, und der von einem Dutzend Girlie-Präto­ria­nern bewacht wird, die alle schwanger sind, und T-Shirts tragen mit der Aufschrift: »The dream is in here.«
Sie findet einen Ausgleich mit Miel, eine Art Gesell­schafts­ver­trag: »You dont see things as they are. You just see things like you are.« – »I hate you« – »No problem for me. Doesn’t change anything.« – »So the next thing, that can happen to us, can happen to us.« – »In this place is only death for sure.«

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Was das Böse ist, ist relativ. Aber es gibt Böses. Zugleich zeigen manche Episoden in diesem epischen Film, dass das Gute manchmal auch zurück­kommt.
Die Frage, was Zivi­li­sa­tion ist, steht im Zentrum. Die von Keanu Reeves gespielte Figur, wie gesagt ein Diktator mit merk­wür­digen Gewohn­heiten, der zugleich aber auf seine Art selbst­ver­s­tänd­lich ein Vertreter des zivi­li­sa­to­ri­schen und der Ordnung in dieser chao­ti­schen Gesell­schaft ist, der lange Vorträge darüber hält, wie er dafür sorgt, dass das Abfluss­system der Toiletten funk­tio­niert – Mussolini ließ sich auch als »Trocken­leger der Ponti­ni­schen Sümpfe« feiern –, dieser Mann ist sich der Kosten der zivi­li­sa­to­ri­schen Anstren­gungen stärker bewusst, als andere: »All the things you have done, brought you right here«, sagt er zu Arlen, »where would you rather be? Costs you a lot to be here. Costs you an arm, a leg. But you don’t like it here, do you?«
Die Zivi­li­sie­rung brutaler Verhält­nisse ist die Botschaft.

Viel mehr noch aber als von seiner Botschaft, lebt die Erfahrung dieses exzel­lenten Films von seinen Eindrü­cken, den sinn­li­chen Gewiss­heiten einer selten gelun­genen Kombi­na­tion aus Schönheit und Gewalt, Glamour und Horror. Dies ist, wie alles inter­es­sante Kino, ein Phan­ta­siestück, das wir auch nach dem nicht im Ganzen aufzu­lösen vermögen. Ein sehr musi­ka­li­scher Film, zugleich ein sehr lako­ni­scher Film. Die Logik­frage ist ein Problem in dieser Erzählung. Egal!
Großes Kino, das mit hervor­ra­gendem Setdesign, Kamera- und Musik­ein­satz ebenso faszi­niert wie mit unge­se­henen Bildern in der Tradition des phan­tas­ti­schen Films – vor allem Alejandro Jodo­row­skys Meis­ter­werk, der surrea­lis­ti­sche Western El Topo ist eine eindeu­tige Referenz

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Am Schluss muss man noch dazu sagen: The Bad Batch ist auch ziemlich lustig. Wer das alles zu ernst nimmt, tut sich und dem Film ebenso keinen Gefallen, wie wenn man ihn nicht ernst genug nimmt.
Das Kind, das namenlos bleibt, hat ihre Gefan­gen­schaft gut über­standen, und ist hungrig: »I want Spaghetti!« Darin darf man auch eine Anspie­lung oder eine Referenz an den Spaghetti-Western sehen. Die Antwort gibt der von Jason Momoa gespielte Vater: Er nimmt den Spiel­ge­fährten der Tochter und brät ihn am Feuer.
Dies ist eben kein Spaghetti-Western; und Zivi­li­sa­tion hat mit vielem zu tun, auch etwas mit Abhärtung und mit Fleisch-Essen. The Bad Batch ist in jeder Hinsicht ein Film für Anti-Vege­ta­rier.

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Dieser Film wird also keinen Preis kriegen am Ende, so wenig wie Amat Escalante, schon gar nicht hier in Venedig – wo noch nie wilde Filme einen Preis bekamen, nicht Bigelow, nicht De Palma, nicht Garell, nicht Kechiche, nicht Jessica Hausner, nicht Mendoza, aber unglaub­lich viele brave, längst verges­sene Schmon­zetten und der schlech­teste Sofis-Coppola-Film ever.

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Entspre­chend lustig wurde dann Pres­se­kon­fe­renz im marmor­ge­tä­felten alten Lido-»Casino« aus Zeiten des italie­ni­schen Kanni­balen Benito Mussolini. »Whats your next project?« habe man sie schon in Sundance gefragt, direkt nach der Premiere von A Girl…. Der erste spontane Pitch sei gewesen »A cannibal falls in love with his next meal«. Sie habe halt eine »Weirdo-Agenda«, meint die Regis­seurin weiter, die Produ­zenten, die sie ange­spro­chen hatten, hätten kurz geschluckt, und dann nur gesagt: »Ok – if you do it in colour and in english.«

Da merkt man, wie das Film­ge­schäft funk­tio­niert, was sich eine leisten kann, die gerade als »hot« gilt und wozu Produ­zenten bereit, sind, wenn sie ihre Dagobert-Duck-Brille aufhaben.
Aus »Ein Kannibale verliebt sich in seine nächste Mahlzeit« sei dann dieser »Cannibal-Love-Story-Western« geworden, als den Amirpour ihren neuen Film beschreibt. Man muss das nicht so sehen, diese Beschrei­bung nicht teilen, um den Film zu mögen. Pferde gibt es hier jeden­falls nicht, und auch andere Western-Refe­renzen halten sich in Grenzen. Spuren des Konzepts finden sich derzeit noch in der IMDb wo sie bestimmt auch bald verschwinden werden.
An filmi­schen Einflüssen nennt sie tatsäch­lich Romancing the Stone, ok, nun ja und kaum zu glauben: Neve­r­en­ding Story. Ich kann auch nicht sagen, dass sie mir wahn­sinnig sympa­thisch wäre. Amirpour ist mir zu ameri­ka­nisch. Zu muskulös, zu auftrump­fend selbst­be­wußt, zu offen­sicht­lich medi­en­trai­niert, zu glatt, zu... Sie hat die fana­ti­sche Ausstrah­lung einer Joggerin am Morgen, die auch an der Ampel noch auf der Stelle läuft, und in der linken Hand dabei eine Flasche stilles Mine­ral­wasser hält. Zweimal in den 29 Minuten Pres­se­kon­fe­renz vergleicht sie etwas – ihren Musik­ge­schmack zum Beispiel – mit Sex. Da denke ich dann: Die die öffent­lich drüber reden, haben entweder keinen oder einen, den man nicht haben möchte – aber das ist natürlich auch Unsinn.
Und sowieso: Der Film ist gut, die Frau ist klug, und hat Humor.
Im Rest der Antwort zum Umgang mit Musik – die im Film ein extrem wichtiges Element ist – beruft sie sich komplett auf ihr Gefühl: »When it feels right.« Und weiter: »I don’t know how to explain style. You have that aestetic, that lense, that camera. Its difficult to explain.«
Auf die dann irgendwie vorher­seh­bare Frage: »Why is it necessary to show us a lot of violence?« reagiert sie dann unnötig uncool, obwohl doch die Fragerin offen­sicht­lich den Film mochte: »What is a lot? Maybe it is not for you. My film is a reflec­tion of the world we are living in. Violence is in a lot of things, so I find it absurd to ask about it... You wanna ban it? Good luck.«
Lustiger dann, als eine andere Fragerin, in ihrer Frage Papst Fran­ziskus zitierte: »Was the pope in my screening?«

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»She is a bit arrogant«, plappert es da hinter mir – das muss eine Deutsche sein, und ja tatsäch­lich. Aber ich sag jetzt nicht wer.

(to be continued)