73. Filmfestspiele von Venedig 2016
Wittgensteins Nichte |
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Unter der Denkhaube: Arrival von Denis Villeneuve war ein erstes Highlight des Festivals | ||
(Foto: Sony Pictures Entertainment Deutschland GmbH) |
»Eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen.« –Wittgenstein
»Ich komme aus dem Punk. Schmutzig ist besser als sauber und beflissen.« Diese Bemerkung meiner Cutterin Ursula Pürrer nehme ich mir zu Herzen, auch als Filmkritiker. Unter anderem deswegen, aber auch aus artechock-logistischen Gründen, erlauben wir uns in diesem Jahr in unserem Venedig-Tagebuch ein schmutziges Doppelspiel, mit kleinen ungenauen Überschneidungen: Unplugged, manchmal lang, manchmal kurz, auf dem artechock blog, und dann hier die erweiterten Versionen des Blogs als Tagebuch. Dem Leser beider Textformen wird also manches bekannt vorkommen, aber er wird auch immer wieder Überraschungen erleben – und beides schadet ja nicht unbedingt.
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Ein roter Kubus hat mich schon am ersten Tag vor der Ankunft begrüßt. Es ist das »Cinema Giardini«, ein neues Kino, auf das hier alle stolz sind. Es steht da, wo früher mal der schöne Garten mit Cafés und Verkaufsständen vor dem Festivalgebäude lag, bevor man alles abriss und ein Riesenloch aushub, auf dem angeblich der neue »Festivalpalast« erstehen sollte. Völliger Unsinn – alle regelmäßigen Festivalgäste wussten sofort, dass es nie dazu kommen würde. Nur Marco Müller, der Ex-Direktor, glaubte wohl, so den Bau erzwingen zu können. Er hatte sich getäuscht, und wurde von dem Loch und seiner Sturheit selbst verschluckt. So gab es dann etwa vier Jahre ein riesiges potthässliches Loch inmitten der Lido-Anlagen, dann wurde es zubetoniert, stand so weitere drei Jahre. Jetzt wurde ein sehr sehr künstlicher Garten angelegt, und eben das aus Sperrholz und Kunststoff zusammengehauene, aber sehr italienisch von außen perfekt aussehende neue Kino »Cinema Giardini«.
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Bei der Ankunft hatte ich da noch Leute arbeiten sehen.Wie provisorisch das alles war, das zeigte die erste Vorstellung vor einer Woche. Noch während im Kino der Kim Ki-duk-Film lief, konnte man die Akkuschrauber bei der Arbeit hören, die im Kino bei laufendem Film die letzten Kinosessel fest im Boden verschraubten – ritsch-ratsch, ritsch-ratsch.
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Der wahre Terror ist der Anti-Terror. Und bevor jetzt alle aufschreien: Natürlich sind die Attentate der letzten Monate schrecklich. Aber schrecklicher ist unser Einknicken davor. Die Panik, von der wir uns erfassen lassen, die Angst. Sie ist relativ gesehen unberechtigt – über die entsprechenden Statistiken habe ich in »Cinema Moralia« geschrieben. Aber das interessiert keinen. Stattdessen infiziert der Terror der Schurken als Anti-Terror unser aller Leben.
Das zeigt
auch das Festival von Venedig. Dort will man einem möglichen Attentat einerseits dadurch abhelfen, dass Polizisten Radfahrer bei der Einfahrt in den Festivalbereich auffordern abzusteigen. Zwei Meter später steigt jeder wieder auf. Sehr italienisch kommt mir daran auch vor, dass man am ersten Tag sehr scharf mit vorgehaltener Maschinenpistole zum Absteigen gezwungen wurde; am zweiten Tag rief man einem noch ein lautes »a piedi!« zu; am dritten Tag winkten einen die Polizisten
durch, am vierten waren sie nicht mehr da.
Wichtiger sind die Straßensperren. Wohl um einem »Nizza« vorzubeugen, gibt es auf der Straße Steinhaufen, die mit Brettergerüsten und Draht in quadratische Form gebracht werden. Damit alles nicht so hässlich aussieht, sind sie in warmem Blau in Form von Plastikbezügen eingepackt.
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Blau ist die Farbe der diesjährigen Venedig-Ausgabe: Die Plakate, das Design, die Bänder, an denen die Festivalbadges um den Hals baumeln. Ein warmes Blau, wie gesagt, das am ehesten an die früheren Trikots der italienischen Fußballnationalmannschaft erinnert, die Azurri.
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Nicht Terror, sondern das Erdbeben in Italien sorgte dafür, dass die diesjährige Eröffnungsparty am Lidostrand zugunsten von Spenden für die Opfer abgesagt wurde.
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Das erste Highlight des Festivals war am letzten Donnerstag Arrival des Francokanadiers Denis Villeneuve: Science-Fiction ohne Action, eher an Spielbergs poetisch-esoterischen Unheimliche Begegnung der Dritten Art erinnernd: Aliens landen auf der Erde, verlassen aber ihre Raumschiffe nicht. Das ist alles ziemlich cool. Flugzeuge brettern niedrig über die Stadt,
wie beim Türkei-Putsch. Es gibt sehr gute Bilder mit Menschenmassen, Sperrbezirken. Louise, eine Top-Sprachwissenschaftlerin und Übersetzungsexpertin (Amy Adams) wird gerufen, um mit den fremden Wesen zu kommunizieren. »We need answers as soon as possible. What do they want? How did they get here?«
Interessant, wie sich der Apparat ihrer bemächtigt. Wie die Ärzte das Kommando übernehmen: Bluttest, Medikamente, Schutz-Kleidung.
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Die Heldin erzählt vom Königreich Galizien, wo Sprache nicht nur Form der Komminkation, sondern auch eine Kunstform sei. Sprache heißt es, sei die »erste Waffe«. Und die Militärs drängeln: »I have a room full of people whose first and last question is: Can this be used against us?«
Sie gewinnt das Wortgefecht mit »Kangeroo«. – »What do you mean?« Sie behauptet, das Wort heiße: »I don’t understand.« Der Soldat antwortet: »Remember what happened to
the Aboriginees? But I got the point.«
Und sie offenbart später: »Story is not true, but made my point clear.«
Wittgensteins Satz, dass die Grenzen unserer Sprache die Grenzen unserer Welt seien, gilt in beide Richtungen – die Verständigung gelingt, und es kommt zu überraschenden Folgen. Die Aliens in diesem Film sind saulahmarschig, erinnern an Kraken mit Seestern-Armen oder Händen und Tinte zum Schreiben. Im Raumschiff herrscht keine Schwerkraft, aber
sie kennen das Tausch-Prinzip: »We help humanity. In 3000 years we need humanity’s help.« – Auch unter Aliens gilt also die Basis des amerikanischen Kapitalismus: »We've got a deal«?
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Und Louise kann in die Zukunft gucken: »I know something, what’s gonna happen. And I know a non-linear, universal language.« Esperanto für Aliens.
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Villeneuve portraitiert immer wieder gern Frauen in Männerwelten, und Arrival beweist, dass wir von Villeneuve noch was zu erwarten haben.
Alles hat hier eine verschwurbelte, halb poetische, aber auch halb esoterische Bedeutung. Der Name der Tochter etwa lautet Hannah, weil dies ein Palindrom ist. Palindromisch ist auch die Erzählstruktur des Films. Ein wenig wirkt der Film wie ein
linguistisches Proseminar, aber ein kurzweiliges, und Louise erscheint als Wittengesteins Nichte. Doch dies ist Kino, dass etwas sagen will, und auch etwas zu sagen hat. Dahinter tut sich ein humanistisches Plädoyer für universale Verständigung auf, das sich auf gegenwärtige Kommunikationsprobleme, sei es mit Moslems, Flüchtlingen oder bayerischen Politikern übertragen lässt.
(to be continued)