08.09.2016
73. Filmfestspiele von Venedig 2016

Witt­gen­steins Nichte

Arrival von Denis Villeneuve
Unter der Denkhaube: Arrival von Denis Villeneuve war ein erstes Highlight des Festivals
(Foto: Sony Pictures Entertainment Deutschland GmbH)

Blau, Rot, Sprachspiele, und eine Linguistin als Filmheldin – Notizen aus Venedig, Folge 2

Von Rüdiger Suchsland

»Eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebens­form vorstellen.« –Witt­gen­stein

»Ich komme aus dem Punk. Schmutzig ist besser als sauber und beflissen.« Diese Bemerkung meiner Cutterin Ursula Pürrer nehme ich mir zu Herzen, auch als Film­kri­tiker. Unter anderem deswegen, aber auch aus artechock-logis­ti­schen Gründen, erlauben wir uns in diesem Jahr in unserem Venedig-Tagebuch ein schmut­ziges Doppel­spiel, mit kleinen ungenauen Über­schnei­dungen: Unplugged, manchmal lang, manchmal kurz, auf dem artechock blog, und dann hier die erwei­terten Versionen des Blogs als Tagebuch. Dem Leser beider Text­formen wird also manches bekannt vorkommen, aber er wird auch immer wieder Über­ra­schungen erleben – und beides schadet ja nicht unbedingt.

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Ein roter Kubus hat mich schon am ersten Tag vor der Ankunft begrüßt. Es ist das »Cinema Giardini«, ein neues Kino, auf das hier alle stolz sind. Es steht da, wo früher mal der schöne Garten mit Cafés und Verkaufs­ständen vor dem Festi­val­ge­bäude lag, bevor man alles abriss und ein Riesen­loch aushub, auf dem angeblich der neue »Festi­val­pa­last« erstehen sollte. Völliger Unsinn – alle regel­mäßigen Festi­val­gäste wussten sofort, dass es nie dazu kommen würde. Nur Marco Müller, der Ex-Direktor, glaubte wohl, so den Bau erzwingen zu können. Er hatte sich getäuscht, und wurde von dem Loch und seiner Sturheit selbst verschluckt. So gab es dann etwa vier Jahre ein riesiges potthäss­li­ches Loch inmitten der Lido-Anlagen, dann wurde es zube­to­niert, stand so weitere drei Jahre. Jetzt wurde ein sehr sehr künst­li­cher Garten angelegt, und eben das aus Sperrholz und Kunst­stoff zusam­men­ge­hauene, aber sehr italie­nisch von außen perfekt ausse­hende neue Kino »Cinema Giardini«.

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Bei der Ankunft hatte ich da noch Leute arbeiten sehen.Wie provi­so­risch das alles war, das zeigte die erste Vorstel­lung vor einer Woche. Noch während im Kino der Kim Ki-duk-Film lief, konnte man die Akku­schrauber bei der Arbeit hören, die im Kino bei laufendem Film die letzten Kino­sessel fest im Boden verschraubten – ritsch-ratsch, ritsch-ratsch.

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Der wahre Terror ist der Anti-Terror. Und bevor jetzt alle aufschreien: Natürlich sind die Attentate der letzten Monate schreck­lich. Aber schreck­li­cher ist unser Einkni­cken davor. Die Panik, von der wir uns erfassen lassen, die Angst. Sie ist relativ gesehen unbe­rech­tigt – über die entspre­chenden Statis­tiken habe ich in »Cinema Moralia« geschrieben. Aber das inter­es­siert keinen. Statt­dessen infiziert der Terror der Schurken als Anti-Terror unser aller Leben.
Das zeigt auch das Festival von Venedig. Dort will man einem möglichen Attentat einer­seits dadurch abhelfen, dass Poli­zisten Radfahrer bei der Einfahrt in den Festi­val­be­reich auffor­dern abzu­steigen. Zwei Meter später steigt jeder wieder auf. Sehr italie­nisch kommt mir daran auch vor, dass man am ersten Tag sehr scharf mit vorge­hal­tener Maschi­nen­pis­tole zum Absteigen gezwungen wurde; am zweiten Tag rief man einem noch ein lautes »a piedi!« zu; am dritten Tag winkten einen die Poli­zisten durch, am vierten waren sie nicht mehr da.
Wichtiger sind die Straßen­sperren. Wohl um einem »Nizza« vorzu­beugen, gibt es auf der Straße Stein­haufen, die mit Bret­ter­gerüsten und Draht in quadra­ti­sche Form gebracht werden. Damit alles nicht so hässlich aussieht, sind sie in warmem Blau in Form von Plas­tik­be­zügen einge­packt.

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Blau ist die Farbe der dies­jäh­rigen Venedig-Ausgabe: Die Plakate, das Design, die Bänder, an denen die Festi­val­badges um den Hals baumeln. Ein warmes Blau, wie gesagt, das am ehesten an die früheren Trikots der italie­ni­schen Fußball­na­tio­nal­mann­schaft erinnert, die Azurri.

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Nicht Terror, sondern das Erdbeben in Italien sorgte dafür, dass die dies­jäh­rige Eröff­nungs­party am Lido­strand zugunsten von Spenden für die Opfer abgesagt wurde.

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Das erste Highlight des Festivals war am letzten Donnerstag Arrival des Fran­co­ka­na­diers Denis Ville­neuve: Science-Fiction ohne Action, eher an Spiel­bergs poetisch-esote­ri­schen Unheim­liche Begegnung der Dritten Art erinnernd: Aliens landen auf der Erde, verlassen aber ihre Raum­schiffe nicht. Das ist alles ziemlich cool. Flugzeuge brettern niedrig über die Stadt, wie beim Türkei-Putsch. Es gibt sehr gute Bilder mit Menschen­massen, Sperr­be­zirken. Louise, eine Top-Sprach­wis­sen­schaft­lerin und Über­set­zungs­expertin (Amy Adams) wird gerufen, um mit den fremden Wesen zu kommu­ni­zieren. »We need answers as soon as possible. What do they want? How did they get here?«
Inter­es­sant, wie sich der Apparat ihrer bemäch­tigt. Wie die Ärzte das Kommando über­nehmen: Bluttest, Medi­ka­mente, Schutz-Kleidung.

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Die Heldin erzählt vom König­reich Galizien, wo Sprache nicht nur Form der Kommin­ka­tion, sondern auch eine Kunstform sei. Sprache heißt es, sei die »erste Waffe«. Und die Militärs drängeln: »I have a room full of people whose first and last question is: Can this be used against us?«
Sie gewinnt das Wort­ge­fecht mit »Kangeroo«. – »What do you mean?« Sie behauptet, das Wort heiße: »I don’t under­stand.« Der Soldat antwortet: »Remember what happened to the Abori­gi­nees? But I got the point.«
Und sie offenbart später: »Story is not true, but made my point clear.«
Witt­gen­steins Satz, dass die Grenzen unserer Sprache die Grenzen unserer Welt seien, gilt in beide Rich­tungen – die Vers­tän­di­gung gelingt, und es kommt zu über­ra­schenden Folgen. Die Aliens in diesem Film sind saulahm­ar­schig, erinnern an Kraken mit Seestern-Armen oder Händen und Tinte zum Schreiben. Im Raum­schiff herrscht keine Schwer­kraft, aber sie kennen das Tausch-Prinzip: »We help humanity. In 3000 years we need humanity’s help.« – Auch unter Aliens gilt also die Basis des ameri­ka­ni­schen Kapi­ta­lismus: »We've got a deal«?

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Und Louise kann in die Zukunft gucken: »I know something, what’s gonna happen. And I know a non-linear, universal language.« Esperanto für Aliens.

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Ville­neuve portrai­tiert immer wieder gern Frauen in Männer­welten, und Arrival beweist, dass wir von Ville­neuve noch was zu erwarten haben.
Alles hat hier eine verschwur­belte, halb poetische, aber auch halb esote­ri­sche Bedeutung. Der Name der Tochter etwa lautet Hannah, weil dies ein Palindrom ist. Palin­dro­misch ist auch die Erzähl­struktur des Films. Ein wenig wirkt der Film wie ein lingu­is­ti­sches Prose­minar, aber ein kurz­wei­liges, und Louise erscheint als Witten­ge­steins Nichte. Doch dies ist Kino, dass etwas sagen will, und auch etwas zu sagen hat. Dahinter tut sich ein huma­nis­ti­sches Plädoyer für univer­sale Vers­tän­di­gung auf, das sich auf gegen­wär­tige Kommu­ni­ka­ti­ons­pro­bleme, sei es mit Moslems, Flücht­lingen oder baye­ri­schen Poli­ti­kern über­tragen lässt.

(to be continued)