73. Filmfestspiele von Venedig 2016
Das Lob der guten Lüge |
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Home von Fien Troch überzeugte in der Reihe »Orizzonti« | ||
(Foto: Walk This Way) |
Wie schlecht das deutsche Kino ist, auch in seinen besten Filmen, das merkt man immer im Ausland auf Festivals in der Konfrontation mit Filmen anderer Länder. Etwa Home der belgischen Regisseurin Fien Troch in der Venedig-Sektion »Orrizonti«.
Ein Film, der konsequent Partei für seine Hauptfiguren ergreift, eine Handvoll Jugendlicher, die sehr viel Unsinn und einiges Schlimmere tun. Das ist das Gute. Der Film hält sich nicht mit Moralisieren und
Schuldzuweisung auf. Das Schöne an diesem Film ist, dass er zeitgemäß ist. Nicht zu abstrakt, nicht aus der Welt gefallen. Nicht auf alle und jede Verhältnisse übertragbar.
Wer könnte so etwas in Deutschland machen?
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Es geht schon los mit einer sehr guten Szene: Ein Lehrer oder sogar der Schuldirektor, gibt einer Schülerin einen Verweis. Sie heißt Lina, später wird sie noch eine Rolle spielen. Vermutlich hat sie etwas sehr Blödes gemacht, vielleicht ist der Verweis berechtigt, aber darum geht es hier gar nicht. Sondern der Lehrer lässt Lina überhaupt nicht zu Wort kommen, und ihre Sicht der Dinge beschreiben. Wir sehen dafür nur in ihr Gesicht. Er will auch nicht hören, was sie sich selbst gedacht hat. Er ist, wie die Gesellschaft: Er will nur, dass sie funktioniert, gehorcht, seiner Sicht der Dinge widerspruchslos folgt. Er ist im Grunde unfähig zur Kommunikation, und er ist in seiner ganzen Attitude viel zu streng. Zugleich ist er wie alle, wie man sie eben kennt: Ob Behörden oder Gerichte, manche Redakteure, für die man arbeitet, oder viele Presseabteilungen auf Filmfestivals: Die Sache interessiert nicht, sondern die Macht. Wer sich durchsetzt. Und dass es schnell geht: Menschen, Schüler in diesem Fall, halten das System bei seinem Funktionieren auf.
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Erst traut man seinem Urteil nicht, fragt sich selbst: Musst Du schon wieder anderer Meinung sein und antiautoritär daherreden? Ist das nur Oppositionsgeist? Dann aber ist es klar: Dieser Lehrer ist wirklich einfach zu streng, diese Schule, dieser ganze Typ Schulen, wie er ganz alt ist und neuerdings wieder in Mode, ist unfähig zu Kommunikation. Schon deswegen wird er sein Erziehungsziel nicht erreichen – weil er nicht verstanden wird.
So ist es hier Schülern verboten,
im Flur zu stehen. Man muss sich bewegen, auf dem Weg zu irgendwas oder von irgendwas sein. Als ein Schüler am Anfang dem Hausmeister sagt: »Nur zwei Sekunden«, weil er eine SMS schicken will, wird er angeschrien. Zwei Sekunden Stehen sind nicht erlaubt. Warum? Egal, es ist Vorschrift. So wird man keine freien Menschen erziehen – aber seien wir ehrlich: Das will man ja auch gar nicht. Sondern man will Funktionsträger im sozialen System produzieren, Rädchen im Getriebe.
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Dass Systeme in erster Linie ihren Selbsterhalt und ihre Selbstgenügsamkeit sichern, auch auf Kosten derjenigen, für die sie überhaupt konstruiert wurden, ist nichts Neues. Was wir aber zur Zeit in unseren Gesellschaften erfahren, ist, dass diejenigen, die da untergebuttert werden, sich zur Wehr setzen, auch mit destruktiven Mitteln. Die Machtergreifung der Systeme korrespondiert mit der Selbstermächtigung der vom System Ausgeschlossenen.
Früher hieß das mal:
»Macht kaputt, was Euch kaputt macht.« Es mag sich dabei um Notwehr handeln, doch es ändert nichts daran, dass sie ähnlich destruktiv ist. Die Antwort auf falsche Erziehung lautet nicht: »We don’t need no education.«
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Aber wer ist eigentlich schuld, wenn Schulen wie Strafanstalten funktionieren, mit Überwachen und Strafen, und mit Lehrern, die unfähig zu Kommunikation sind? Wer ist eigentlich schuld, wenn zuhause von den Eltern Gleichgültigkeit oder ungebremstes Laissez-faire herrscht. Wenn die pubertierenden Jungs kleine Paschas sind, und die Mütter freiwillig zum Dienstpersonal ihrer Kinder werden?
Home, der herausragende Film von der Belgierin Fien Troch – und es ist bemerkenswert hier, dass es sich um eine Frau handelt, denn übermäßig mütterfreundlich ist der Film nicht, bei einem männlichen Regisseur würde man das kommentieren – zeigt Kinder, die Mist bauen und Erwachsene, die überfordert sind, und die noch größeren Mist bauen. Die Mütter, wie gesagt, sind generell zu soft in absurder Weise und gelegentlich zu streng, gleichfalls absurd. Die Väter sind einfach nur abwesend. Diese Eltern verwöhnen die Kinder viel zu sehr, das soll alles andere ersetzen. Diese Eltern machen immer sauber, räumen immer auf. Äußere Ordnung ersetzt innere, ersetzt Erziehung.
Es geht um eine Gruppe von Jugendlichen. Kevin, Sohn kommt aus dem Knast, soll bei Tante Sonja, der Schwester der Mutter untergebracht werden. »He really is a good boy«, sagt sie. Ganz so kann man das aber nicht sagen: Kevin hat, wie wir öfters erleben werden, ein »anger-management-problem«.
Kevin hat einen Passanten zusammengeschlagen und immer wieder auf den am Boden Liegenden getreten. Das fasziniert Lina als sie es im Netz sieht. Lina ist die Freundin von Sammy, Sonjas Sohn,
der Oberpascha unter den Kids, selbstgefällig und bequem. Als wir ihn und Lina zum ersten Mal zusammen sehen, holt sie ihm einen runter.
Ein anderer Freund leidet unter seiner Mutter und ihrem fanatischen Reinlichkeitswahn. Sie missbraucht ihren Sohn in vielfacher Weise: »Das ist meine Zone, das ist deine Zone«, in der Wohnung. Aber auch sexuell. Was diesem natürlich keiner glaubt. »They say I am old enough to deal with it.«
»I want to kill someone to feel alive«, postet Sammy
später auf Facebook. Keine Sorge, er wird das nicht tun.
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Smartphones überall, Smartphone-Bilder, soziale Netzwerke, ihre gigantische Bedeutung. Die zweite Welt neben der scheinbar realen, die wir für »unsere« halten. Die Regisseurin portraitiert die Lebenswelten der Jugendlichen, so wie sie sich selbst erscheinen: Darin erinnert Home an Kids und Ken Park, an The Virgin Suicides und »Palo Alto«, als Elephant und Paranoid Park. Auch im musikalischen Stil und der Bedeutung der im Übrigen
großartigen Musik. Und in Szenen, in denen der Film ganz atmosphärisch wird, die Kids einfach nur zeigt.
Worum gehts in Home? Darum. Um das Lebensgefühl. Um die Langeweile in der Repression. Um kleine Fluchten: Musik, Gewalt, Sex.
Was passiert? Dafür muss man sich Home schon selbst ansehen.
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Etwas völlig anderes ist Frantz des Franzosen François Ozon: Deutschland kurz nach dem Ersten Weltkrieg. Ein Mann kommt auf den Friedhof, wo auch viele der Soldaten liegen, die in den Massenschlachten der Jahre zuvor getötet wurden. Der Mann besucht ein bestimmtes Grab, und die Witwe des Toten spricht den ihr Unbekannten an, und lädt ihn zum Abendessen ein, in jenes Haus, in dem sie bei den Eltern ihres gefallenen Verlobten lebt. Frantz, der Titel bezeichnet jenen Toten, um den hier alles kreist: Das Reden, das Denken, das Fühlen, und wie sich herausstellt, sogar das Handeln der Lebenden.
Der Unbekannte entpuppt sich als Franzose, er erzählt, dass er Frantz vor dem Krieg bei seinem Parisaufenthalt kennenlernte, und berichtet von einem gemeinsamen Besuch im Louvre: »Wir standen lange vor Manets Gemälden. Ich erinnere mich: Er mochte eines besonders. Das Bild eines jungen blassen Mannes, mit dem Kopf nach hinten.«
So erzählt dieser Film zunächst einmal davon, dass es enge französisch-deutsche Beziehungen lange vor Adenauer und De Gaulle, lange vor dem Ersten Weltkrieg gab, jenseits der bekannten Propaganda von der Erbfeindschaft. Da war nicht nur Heinrich Heine und später Heinrich Mann. Frantz erzählt aber auch vom überraschend bösen Franzosenhass in breiten Kreisen Deutschlands in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Hier, in diesem Film, geht es allerdings um das Verbindende, um Annäherungen.
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Ausgerechnet in unseren Zeiten, in denen die französisch-deutsche Freundschaft und das Europa, das aus ihr erwuchs, manch' harter Probe ausgesetzt ist – und die härtesten dieser Proben dürften uns erst noch bevorstehen – ausgerechnet jetzt hat François Ozon, einer der wichtigsten französischen Filmemacher, einen Film in Deutschland gedreht, der auch ein Film über Deutschland ist.
Zugleich ist dies auch eine universale Parabel, ein Film über die Trauer und
unseren Umgang damit, ein Emotionsthriller, der auf ein paar Anleihen an Hitchcocks Suspensekino nicht verzichtet und der zugleich ein loses Remake eines frühen Films des großen Ernst Lubitsch ist: Broken Lullaby.
Vor allem aber ist Frantz eine Geschichte der Täuschungen. Denn was man früh ahnt, wird irgendwann Gewissheit: Er hat nicht in allem die Wahrheit erzählt. Aber er ist damit nicht der Einzige. Und so ist Frantz – nicht zum ersten Mal bei Ozon – ein Lob der Lüge, der guten, gütigen Lüge, der
Lüge, die tröstet, ein Lob der Lüge, die weiterleben lässt.
Und ein Glanzlicht im Wettbewerb um den Goldenen Löwen – mit einem herausragenden Auftritt der deutschen Darstellerin Paula Beer.
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»Ciao Rome, ciao world – what have we forgotten? We must be in harmony with god. We have forgotten to masturbate. We have forgotten to be happy. We have forgotten yooouuuuuuu!« Ein junger Papst, der redet wie ein Sektenführer. Ein Fantatiker. Ein Populist. Ein Diktator.
Dieser gefährliche Mann ist die Hauptfigur im neuen Film von Paolo Sorrentino: The Young Pope ist tatsächlich der eigenständig funktionierende Pilotfilm zu einer
HBO-Fernsehserie. Sorrentino hat viele Stars gewonnen: Jude Law als Papst, Diane Keaton, Ludovine »Stimmt die gibts ja auch noch«-Sagnier und viele andere in Sorrentinos bestem Film seit Jahren. Einer scharfen, provokativen Betrachtung der Kirche und des Verhältnisses von Macht und Recht.
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Wie von Sorrentino gewohnt, ist dieser Film Zynismus in Reinkultur, und weil Sorrentino so geschmacklos ist, wie narzisstisch, wird er dem Gegenstand Katholische Kirche nicht gerecht. Er nimmt sie einfach nicht ernst genug, sondern gefällt sich in billigen Witzen: Kardinal mit Spritze im Hintern, kettenrauchender Kardinal mit Sauerstoffmaske, Sex einer Nonne mit einem Schweizer Gardisten, Fußball spielende Nonnen, Priester mit schwarzem iPad, Priester, die beim Beten vom
Rasensprengautomaten überrascht werden. Schenkelklopfwitze, als Melancholie getarnt, wie bei La grande bellezza.
Eigentlich – und das ist immerhin ehrlich – hat er hier einen Film über sich selbst gemacht: »Ciao Rome, ciao world« – das ist Sorrentino in Reinform.
(to be continued)