34. Filmfest München 2017
Spur der Steine |
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Eins ergibt das andere: Lemkes Mesteren | ||
(Foto: SF Studios Denmark, Tour De Force AS) |
Von Thomas Willmann
Von Thomas Willmann und Anna Edelmann
Erst scheint es ein völlig willkürlicher, unübersichtlicher Haufen. Dann pickt man den ersten Grund-Stein heraus. Findet einen zweiten, findet einen Anschluss. Findet hier, findet dort augen-scheinliche Gemeinsamkeiten. Bis jeder Film einem anderen die Hand reicht. Bis sich wie aus Dominosteinen gelegt eine Kette durchs Programm des Münchner Filmfests zieht.
Rodin / Mesteren (The Man)
Überall Torsi, Gliedmaßen, Köpfe, überall Hände und Füßen in allen Größen, weiße, halbfertige Gesichter: Es gibt wenige Szenen in Jacques Doillons Rodin, wo er seine Titelfigur (gespielt von Vincent Lindon) nicht umgibt, grundiert mit den gipsernen, marmornen Studien, Bauteilen, Vorformen seiner Werke.
Wer den Film über den epochalen Bildhauer sehen will als gewöhnliches Biopic, ihn messen an den Maßstäben (bildungs)bürgerlichen Realismus' und Oscar-Kinos, wird Probleme damit haben: Zu gestelzt, bruchstückhaft alles, zu gefüllt mit dem Gefühl, die Figuren sprächen in Wikipedia, schon von ihrer späteren Rezeption.
Doch man muss bei Doillon die Bilder ernst nehmen. Rodin reflektiert eben genau über die Abbildung und ihre Grenzen. Ist ein Film über den Zusammenhang wie Widerspruch von Leibern und Repräsentation. Handelt davon, wie man sich dem Ganzen nur müh- und arbeitsam über Fragmente nähern kann.
Das Atelier in Charlotte Sielings Mesteren – eine Meisterleistung des Production Designs – ist, bei allem hippen, künstlerischen Anstrich, den es sich gibt, eher ein industrieller Produktionsort. Man glaubt durchaus, dass Simon Brahe (Søren Malling) sich seinen Ruhm und Erfolg einst redlich verdient hat. Aber jetzt wirkt alles so sehr etablierte Masche wie die Pyjamas, die er zu jeder Tages- und Nachtzeit trägt und die schon längst nicht mehr rebellisches Statement sind, sondern Markenzeichen, Uniform.
Mesteren (The Man) / Fikkefuchs
Simon ist zum Establishment geworden. Umso weniger kann er verstehen oder verzeihen, dass sein Sohn – zu dem er seit dessen Teenagerzeiten kaum mehr Kontakt hatte – als Streetartist Kunst macht, die Simon nicht als solche anerkennt, eher für Vandalismus hält. Die aber von der Welt auf wirklich lebendige Weise wahrgenommen wird, die deutlich relevanter ist als seine jetzige eigene.
Lange Zeit scheint es so, als ginge es um die klassische Geschichte eines Sohnes, der gleichzeitig gegen seinen Vater rebelliert, als auch dessen Anerkennung sucht. Man glaubt auch, Zeuge einer beiderseitigen Annäherung zu werden. Aber letztlich ist es der ultimative Verrat, der zu wirklichem, gegenseitigem Respekt verhilft. Weil sie beide gleich unfähig sind, eine normale, emotionale Beziehung zu anderen Menschen aufzubauen – und gleich unfähig, egal wie schmerzhaft, einer Kunst die Hochachtung zu versagen, die sie als groß erkennen.
Die Konstellation ist in Jan Henrik Stahlbergs Fikkefuchs sehr ähnlich, nur das Metier ist ein leicht anderes: Vater Rocky (Stahlberg) war einst der größte Frauenheld der Region – aber die Zeiten liegen lange hinter ihm. Auch wenn er das traurige Bild, das sich ihm inzwischen im Spiegel bietet, noch nicht wirklich verinnerlicht hat. Da der Sohn (Franz Rogowski) – eben aus der Psychiatrie entflohen – ihn bisher ausschließlich aus den Erzählungen der Mutter kennengelernt hat, ist auch seine Vorstellung ziemlich romantisiert. Und selbst die schäbige Realität, und die Weigerung des Vaters, ihn überhaupt anzuerkennen, hält ihn nicht davon ab, bei dem vermeintlichen »Meister« in die Lehre gehen zu wollen.
Wo das Vater-Sohn-Verhältnis in Mesteren sich letztlich als auf perfide Weise parasitär, aber produktiv entpuppt, wird es in Fikkefuchs bald symbiotisch, und bekräftigt gerade deshalb beide in ihrem Verharren in der selbstbetrügerischen Illusion.
Fikkefuchs / Infinity Baby
Es geht in Fikkefuchs sowohl Vater Rocky als auch Sohn Thorben letztlich nur um Selbstbestätigung. Aber wo Rocky seine »Verführungskünste« romantisch als Wertschätzung des weiblichen Geschlechts verbrämt, in autobiographischen Ratgeber-Fragmenten zum tiefen Verständnis von Frauen hochstilisiert – da macht Thorben kein Hehl daraus, dass er nichts sucht als Sex; Qualität nebensächlich, Hauptsache Quantität; die Umsetzung der massiv konsumierten Internet-Pornographie in die Realität; der Flatrate-Fick.
Dass sie beide aber statt Erfüllung meist nur Zurückweisung finden, erfüllt sie mit latenter Aggression. Dass just diese Aggression Teil des Problems ist, interessiert sie genausowenig wie die Gründe für die Zurückweisung: Lieber suchen sie nach einer Art Cheatcode, einem Hack. Der Pickup-Artist-Kurs soll’s richten. Wonach sie aber eigentlich streben, hat nur mittelbar mit Frauen zu tun – es ist der Beweis der eigenen Virilität, Jugend, eine Bestätigung der Leiblichkeit mit gleichzeitiger Verdrängung deren Vergänglichkeit.
Die eine natürlich gegebene Linderung für die Sterblichkeit flieht Rocky: Das Quasi-Weiterleben zumindest der eigenen Gene in der nächsten Generation. Seine Vaterschaft versucht er permanent abzustreiten – will sich nicht einmal der Möglichkeit stellen.
Darin ist er Ben (Kieran Culkin) aus Infinity Baby verwandt. Der zwar vorgibt, eine Beziehung zu wollen – aber jede solche stets abbricht, bevor es droht richtig ernst zu werden. Bzw. abbrechen lässt: Sind die Männer in Fikkefuchs Pickup-Artists, die Frauen in eine Affäre hineinmanipulieren, manipuliert Ben sie mit professioneller Hilfe zum Beenden derselben. Er ist quasi ein Breakup-Artist.
So groß ist seine Phobie vor Familie, Nachwuchs, dass er nicht einmal jene aseptische Lösung erwägt, welche die Welt von Infinity Baby dafür parat hält: Niedlich glucksende Säuglinge, die nie altern, deren lästige Körperfunktionen auf ein Minimum reduziert sind – Nebenprodukt einer Arzneistudie, das nun willigen Menschen zur Pflege untergejubelt werden soll. Es ist die (sehr US-amerikanische) Sehnsucht nach einem Leben mit allen herausgepickten Vor- und keinen Nachteilen, ohne Konsequenzen.
Diese Babys sind das ultimative, ins Extrem getriebene Bild für die wahre Sehnsucht all dieser Narzissten: Andere Menschen als reines Mittel zur restlosen Wunscherfüllung – ohne dass dabei deren eigene Geschichte und Persönlichkeit in die Quere käme.
Stein 4: »#Genre«
Infinity Baby / Western
Infinity Baby sieht nicht aus wie ein Science-Fiction-Film, fühlt sich nicht an wie ein Science-Fiction-Film. Aber freilich ist ein in naher Zukunft spielender Film über medizintechnisch manipulierte Babys ein Science-Fiction-Film. Ausstattung, Kostüm etc. verweigern jede Distanzierung von der Gegenwart; das eine »fremde« Element ist hin und wieder die blau-changierende Augenfarbe des Titelsäuglings in dem American Indie-Schwarz-weiß des Films. Infinity baby hat etwas von einem Blick aus der Warte der ‘90er Jahre-Blütezeit des Independentkinos auf die Milennials, die Generation des einstigen Science-Fiction-Jahrs 2000.
Bob Byingtons Film hat es bei der feierlichen Hashtag-Vergabe des Filmfests nicht einmal in die Kategorie #Science-Fiction/Fantasy geschafft. Während die Rubrik #Western überraschend ein Film für sich allein entscheiden konnte.
Western.
Der Titel von Valeska Grisebachs ziemlich großartigem Werk proklamiert eine eindeutige Verortung – während der Film selbst
mit dem Genre lustvoll kokettiert. Western spielt im Osten, an Europas neuer Frontier. Ein Trupp deutscher Bauarbeiter – Söldner des Kapitalismus – soll in der tiefsten bulgarischen Steppe ein Wasserkraftwerk hochziehen. Listet man auf, was Grisebach an typischen Western-Elementen diesem Setting abgewinnt und einflicht, dann mag das sehr gewollt und überdeutlich wirken:
Der wortkarge, einsame Protagonist, der als Fremder in das kleine Dorf einreitet; das (deutsch) beflaggte Fort des Bautrupps; der »Saloon«, der Mittelpunkt der Dorfgemeinschaft ist; die Pistole, das Messer, die Schlägerei; das Feuerwasser, die Blutsbrüderschaft unter Männern über (Sprach-)Grenzen hinweg; die »Squaw«, die von den derben Bauarbeitern angebaggert wird. Aber das alles driftet ganz selbstverständlich, scheinbar natürlich in den Film – der ohne seinen Titel
wohl für viele gar nicht als Western erkenntlich wäre. Und es dient nicht als Baustein einer Western-Dramaturgie, erfüllt nicht die gewohnten Funktionen – sondern folgt dem offenen, ziellosen Fluß des Lebens.
Die »Helden« von Infinity Baby und Western eint, dass sie beide Suchende sind, die eine recht genaue Vorstellung davon haben, was sie nicht wollen
– jedoch kaum eine davon, wonach sie letztlich streben, wie ihr großer Traum eigentlich aussieht.
Stein 5: »Männer in der Fremde unter sich«
Western / Jeunesse
Meinhard (Meinhard Neumann) in Western hat vielleicht bereits zuviel vom Leben gesehen, um noch ernsthaft an dem romantischen Glauben festzuhalten, irgendwo Erfüllung und das Gefühl von Zugehörigkeit zu finden. Anders der stürmische und drängende Protagonist von Jeunesse: Er weiß, dass da draußen Abenteuer, Ehre, Erfolg nur darauf warten, von ihm an sich
gerissen zu werden.
Beide begeben sich in Männergesellschaften – in eine selbstgewählte Halb-Isolation, wo eigene Normen herrschen; nicht so sehr Outlaws als Männer, die die Gesetze der bürgerlichen Gemeinschaft ganz umschiffen.
Für Meinhard ist es eine Art Flucht, in einen Raum, wo die äußeren Umstände wenigstens an sein stetes inneres Fremdsein angepasst sind. Zico (Kévin Azaïs) in Jeunesse mag von den konkreten Gegebenheiten auf dem
heruntergekommenen Frachtkutter, auf dem er anheuert, gemessen an seinen Träumen, mitunter überrumpelt sein – aber im Grunde fühlt er sich am richtigen Platz. Meinhard versucht sich auch in der hermetischen Welt von Western den Hierarchien zu entziehen; Zico sieht in der Schiffs-Rangordnung nur Stufen, die er zu überspringen hat auf seinem Weg nach oben, an den
vermeintlich rechtmäßigen Platz.
Im Gegensatz zu seinen Kollegen, die die Abwesenheit von Frauen als Mangel ihres Jobs empfinden, den es mindestens verbal derb zu kompensieren gilt, scheint Meinhard darin eine Befreiung zu finden. Für Zico ist die Beziehung zu Frauen ein Opfer, das er bereitwillig bringt; eine fast lustvolle Selbstgeißelung, durch die er sich erhöht fühlt. Aber ausgerechnet Meinhard holt die Sehnsucht ein – während Zico sich von der allzu jugendlich-naiven
Variante seiner Träume verabschiedet und sie gegen ein illusionsfreieres Begehren eintauscht.
Das Schlussfazit ist – ebenso wie das latent zwischen homosozial und homoerotisch changierende Milieu – keine Erfindung von Regisseur Julien Samani. Sondern eine Anverwandlung der literarischen Vorlage von Joseph Conrad: Jeunesse ist »Youth«, ins 21. Jahrhundert versetzt.
Stein 6: »Stimmen aus dem Nichts«
Jeunesse / Wakefield
Motoren haben die Segel abgelöst, Facebook die Briefe – aber was es ist, was einen wie Zico zur See treibt, das hat sich erstaunlich unverändert aus dem 19. Jahrhundert herübergerettet. Die Worte des rückblickenden Off-Erzählers zu Beginn und Ende von Jeunesse klingen nicht offensichtlich nach einer Variation über 100 Jahre alte Prosa – man würde sie auch einem heutigen Drehbuch so abkaufen.
Jeunesse setzt die
halbzitierende Stimme nur an diesen beiden Punkten und sehr prägnant ein. Sie bereichert den Film, den Text der Bilder um Schichten, macht ihn größer, komplexer.
Genau den umgekehrten Effekt erzielt der omnipräsente Erzähler in Wakefield. Auch er beruht auf einer Vorlage aus dem 19. Jahrhundert, Hawthornes »Wakefield« – vermittelt durch E.L. Doctorows modernem Riff über die klassische Kurzgeschichte. Aber Robin Swicords Film traut weder der eigenen Bildsprache, noch ihrem Hauptdarsteller Bryan Cranston. Jede Szene wird aus dem Off aus- und toterklärt – selbst als Hörspiel würde das bald langweilen. Wo Cranston mit einer Geste, einem Blick, einem Gesichtsausdruck eine gleichzeitige Vielzahl an Dingen ausdrückt, klopft der permanente Audiokommentar es platt auf genau eine, die ohnehin offensichtlichste Bedeutung.
Stein 7: »Fremd im eigenen Haus«
Wakefield / Mr. Roosevelt
Dass der Titelheld von Wakefield in seinem Leben die Pausetaste (und sich quasi in eine Art Backstage-Bereich ver-) drückt, ergibt sich durch puren Zufall. Die interessante Frage ist, warum er den Zuschauerposten im Dachboden über der Garage dann nicht mehr aufgeben will – warum er, als seine Form lustvoller Selbstgeißelung, lieber dort verwahrlost und beobachtet, wie er seiner Frau und den beiden Töchtern, ja, überhaupt in seinem bisherigen Leben,
mäßig bis nicht fehlt.
Wakefield bringt das Kunststück fertig, das einerseits störend überzuerklären, ohne andererseits wirklich je nachvollziehbar zu werden. Gleichzeitig viel zu harmlos und doch ungewollt unangenehm zu sein. Wakefield wird zum Voyeur und Manipulator seiner Frau im Haupthaus gegenüber; obwohl ihm der Rückweg in sein Wohlstandsdasein jederzeit offen stünde, klaubt er seine Nahrung lieber aus Mülltonnen, kackt in einen Kübel; lässt
sich, ganz in der Opferrolle, die angefrorenen Zehen von dem engelsgleichen, schwarzen, geistig beeinträchtigten Mädchen von nebenan versorgen: Es ist nicht so, dass der Film gar kein Bewusstsein dafür hätte, dass das alles schon auch eine große Selbstmitleid-Nummer des Protagonisten ist. Nur macht er dennoch Kitsch daraus statt etwas wahrhaftig Unbehaglichem.
Dass der Protagonistin von Mr. Roosevelt »ihr« Heim fremd erscheint, hat im Grunde eine sehr simple Erklärung: Es ist längst nicht mehr ihr Zuhause – und war es auch früher nur bedingt. Das Einfamilienhäuschen in Austin gehört ihrem Ex-Freund Eric, sie hat dort lediglich eine Weile mit ihm gewohnt. Und als Emily nun aus Los Angeles zurückkehrt, da ist längst die neue Lebensgefährtin eingezogen. Und hat gehörig umdekoriert – nicht nur im Haus,
sondern auch in Erics Leben.
Fast schon ein Glück, dass die Neue Eric dazu gebracht hat, seine einst so geliebte Gitarre, und mit ihr die Träume von der Musikerkarriere, in die Garage zu verbannen: Das gibt der noch auf ihren Durchbruch wartenden Standup-Komikerin Emily wenigstens wohlfeilen Anlass zur Abneigung gegen Celeste. Denn die wahre, tiefe Beleidigung ist, dass Celeste alles zu gut im Griff hat – und man sich dank ihr in »Emilys Heim« nun merklich wohler fühlt denn
damals, als sie dort wirklich wohnte. Und wenn Celeste etwa den schönen Holzboden wenigstens mit viel Geld und Mühe installiert hätte! Aber nein: Der schlummerte die ganze Zeit unter dem schäbigen Teppichboden, den Emily und Eric nie mochten, aber auch nie einfach mal rausgerissen haben.
Stein 8: »Erfolglose Künstler geigen ihre Meinung«
Mr. Roosevelt / Fits And Starts
Was Noël Wells (Regisseurin, Autorin, Hauptdarstellerin und selbst Komikerin aus dem SNL-Stall) ihrer Heldin nicht gönnt: Das gute Gefühl der wahren Überlegenheit. Anfangs ist es nur der nachvollziehbare, latente Hass auf Menschen, die ihr Leben geradezu gruslig gut auf die Reihe bringen. Doch dann schleicht sich mehr und mehr das Gefühl ein, dass Celeste tatsächlich die Partnerin ist, die Eric besser tut, ihn glücklicher macht.
Und wenn Emily bei einem Trauer-Brunch für ihre
verstorbene Katze schließlich Celeste und all deren proppere, erfolgreiche, mainstreamige Freunde mit einer Wutpredigt konfrontiert, ihnen mal wirklich sagt, was sie von ihnen und ihrer oberflächlichen, widerwärtigen Lebenstüchtigkeit hält – da gibt MR. Roosevelt ihr ordentlich Kontra.
Da hält der Film ihr einen Spiegel vor, wie ichbezogen, engstirnig sie selbst ist. Und schubst sie in eine etwas erwachsenere Sicht auf den Rest der
Menschheit.
Das ist der entscheidenste Unterschied zu Laura Terrusos Fits And Starts – der ebenfalls von künstlerischer Eifersucht, (narzisstischem) Leiden am mangelnden Erfolg handelt. MR. Roosevelt schafft den Schritt aus der Perspektive seiner Protagonistin heraus – während der Held von Fits And Starts eher wie ein Sprachrohr erscheint. Wobei freilich Fits And Starts ja auch
merklich mehr eine Satire sein will als eine Charakterstudie.
David (Wyatt Cenac, hurrah!) hat vor Jahren eine Kurzgeschichte im New Yorker veröffentlicht, seither arbeitet er am ersten Roman – nur hat er mittlerweile eine Studentin seines Uni-Seminars für kreatives Schreiben geheiratet. Und die ist unterdessen zur angesehenen und erfolgreichen Autorin avanciert. Durch ein Missverständnis findet David sich allein beim »Künstler-Salon« in einer Villa irgendwo in
Connecticutt, zu dem er sich eigentlich nur widerwillig als Begleiter seiner Frau überreden ließ. Und muss dann den Abend mit all den verschrobenen Typen dort verbringen, was ihn immer mehr hadern lässt damit, dass er seine eigene Kunst nicht voranbringt.
Wenn David als Finale allen Anwesenden der Soirée schließlich in einem großen Rundumschlag mal seine Meinung vor den Latz knallt, dann wirkt das auch wie ein »Was ich Euch Poseuren und Möchtegerns echt schon immer mal sagen
wollte!« der Regisseurin. Und dann hat das keinen vehementen, beleidigten Widerspruch zur Folge – sondern eine allgemeine, beschämte Selbsterkenntnis. Und einem Triumph des Helden. Den man nun endlich als das Genie erkennt, das er schon immer war.
Im Rahmen des Films ist das durchaus lustig und befreiend – aber im Kontrast zu Mr. Roosevelt eben auch ein bisserl simpel, ein bisserl selbstgefällig, ein bisserl unreif.
Stein 9: »Feel(too)good Movies«
Fits And Starts / Handsome Devil
Fits And Starts hat ein wunderbares Ende. Nur leider hört der Film damit nicht auf. David und seine Frau werden wiedervereint, Jennifer hat inzwischen endlich einmal in Davids Manuskript reingelesen. Und gibt ihm jenes Urteil, das auch er einst (im Scherz) ihrem Erfolgsdebut beschied: Ganz furchtbar sei’s! Schwarzblende.
Dann aber besteht der Film darauf, in einer Spiegelung seiner Anfangsszene auch wirklich noch auszubuchstabieren, dass alles
gut wird, dass David endlich den verdienten Ruhm erlangt, und die Ehe eine neue, stabilere Ebene der Liebe und Zufriedenheit findet.
Der Impuls dahinter ist legitim: Die Regisseurin will die Wunscherfüllungsmaschine Kino das volle Programm durchlaufen lassen. Will die bewusste Utopie; will dem wirklichen Leben zeigen, wie man sowas richtig macht.
Aber es trübt paradoxerweise das Gefühl, mit dem man aus dem Film kommt. Nicht, weil es »unrealistisch« wäre, oder weniger
glaubhaft als das Erst-Ende, welches all dieses Glück ja durchaus impliziert. Sondern weil es in seiner Totalität so eindimensional wird und wegbürstet, was zuvor noch leise mitschwang an dem urmenschlichen Rest, Zweifel, Zwiespältigkeit. Es ist schlicht die langweiligere Lösung, wenn des Guten derart zuviel ist.
Listete man all die Läuterungen, Lebenserkenntnisse und -bekenntnisse, (sportlichen und sonstigen) Triumphe, Versöhnungen und Crescendi am Ende von Handsome Devil auf, müsste man freilich meinen, es sei des Guten viel zuviel zuviel. Es ist als hätte sich Dead Poets' Society mit Pride und allen Underdog-Sportfilmen überhaupt vermählt.
Ned (Fionn O’Shea) kommt auf ein Privatinternat, wo er sich nicht nur durch seine karottenroten gefärbten Haare von den Mitschülern unterscheidet: An der völlig Rugby-versessenen Lehranstalt hat er allein keinerlei Interesse an Sport – dafür umso mehr an den gutgebauten Sportlern; bis der junge, unkonventionelle
Englischlehrer Dan Sherry (Andrew Scott) auftaucht und ihn herausfordert, mogelt er sich so durch, mutiert dann aber so wenig zum akademischen Überflieger, wie ihn seine Begeisterung für Punk und Lyrik über die Beherrschung eines Gitarrenakkords hinausbringt.
Wie üblich, hat das Genre vor Coming of Age und Coming Out die Tortur durch die Frontverteidiger des Status Quo gesetzt. Dass sich alle Konflikte und Komplikationen am Ende in völliges Wohlgefallen auflösen, ohne
dass einen dabei vom Zuckerschock die Übelkeit befällt, liegt bei Handsome Devil aber nicht nur am trockenen und gut getimeten Humor.
Stein 10: »Willkommen in der Normalität«
Handsome Devil / Brigsby Bear
Handsome Devil lässt seinen Helden Ned durchaus den handelsüblichen Moment seines vermeintlich größten Sieges über die Intoleranz durchleben. Aber der Film gönnt ihm die Selbstherrlichkeit, das Selbstmitleid nicht: Einmal mehr ist es der Ich-Erzähler, der aus der zeitlichen Distanz zu seinem damaligen Selbst auch dessen eigene narzisstische Unerfahrenheit benennt und
kommentiert.
Das nämlich ist es, was John Butlers Film im Grunde seines Herzens unterscheidet von all den synthetischen, selbstgefälligen Feelgood Movies: Verständnis fürs Anderssein ist in Handsome Devil keine Einbahnstraße. Völlig zu Recht fordert Ned von seinen Mitmenschen Akzeptanz ein – aber die Lernkurve in Handsome Devil endet auch darin, dass er seine eigenen Vorverurteilungen in Frage stellt. Dass auch der Außenseiter lernt, aufzuhören sich Sorgen zu machen und die sogenannte »Normalität« zu lieben – dass Ned nicht mehr jene Teile der allgemeinverbindlicheren Kultur hassen muss, die für ihn lediglich befremdlich sind statt tatsächlich akut bedrohlich.
Auch Brigsby Bear erzählt von der Versöhnung eines Außenseiters mit der »normalen« Welt. Wobei »Versöhnung« nach mehr Reibung, mehr Bewegung klingt, als diese enttäuschend harmlose, überraschend mainstreamige Wohlfühlkomödie im Indie-Bärenfell bieten will. Der Film ergeht sich in purer Versöhnlichkeit: Er ist voller Dinge, die im Grunde mindestens sehr problematisch, wenn nicht massiv traumatisierend sein sollten. Aber alles löst sich in Wohlgefallen auf, bevor es überhaupt eine Chance bekommt, wenigstens kurz weh zu tun – Brigsby Bear ist gegenüber der empfindsamen Seele des Publikums überbehütender als das öffentlich-rechtliche Kinderprogramm.
Stein 11: »Die Rückkehr der verlorenen Söhne«
Brigsby Bear / Flesh And Blood
Seine gesamte Kindheit und Jugend über wurde der als Baby entführte James (Kyle Mooney) in einem Bunker aufgezogen. Sein einziges Bild einer Außenwelt, seine moralische Anstalt ist ein verblüffend auf ihn zugeschnittenes Fernsehprogramm – eben das titelgebende »Brigsby Bear«, eine handgebastelte Mischung aus Pezi-Bärli und Power Rangers. Mit Mitte 20 gewaltsam in die »oberflächliche« Welt zurückgezerrt, stellt sich alles, was er kannte und wusste, als so
heimtückisch wie liebevoll inszenierte Täuschung durch seine »Zieheltern« heraus.
Dass diese komplette Entwurzelung und Klarspülgang der Gehirnwäsche weder für James, noch für seine leiblichen Eltern, seine bisher als (Ersatz-)Einzelkind großgewordene Teenager-Schwester, aber auch Polizei, Therapeuten, Mitmenschen – und freilich auch seine idealisierten Schein-Eltern und deren ahnungslose Brigsby-Mitdarsteller – als Konstellation so ganz einfach und
unproblematisch ist, deutet der Film immer wieder als Ahnung an. Gerade genug, dass einem (insbesondere, wenn es um James' erstmals mit tatsächlichem Fremd-Körperkontakt verbundene Sexualität geht) unangenehm aufstößt, wie spontan, schmerz- und rückstandsfrei sich dann die Bewältigung stets wie von selbst erledigt.
Brigsby Bear hätte ein wunderbar bewusst unbehaglicher Film werden können darüber, wie man die Instrumente der eigenen Unterdrückung
gegen ihren Zweck kehren, zur Selbstbefreiung nutzen kann. Noch das höflichste, was man Regisseur Dave McCary, den Autoren Kevin Costello & Kyle Mooney als Grund unterstellen kann, dass es statt dessen ein solch gruslig versöhnliches Werk ist, das ist eine aggressive Naivität.
Die Rückkehr des verlorenen Sohns in Flesh And Blood ist deutlich unspektakulärer. Auch er war weggesperrt, ein Weile isoliert von der Außenwelt. Aber Mark saß lediglich – offenbar, weil er standhaft seine Dealerkumpanen nicht verpfeifen wollte – einige Jahre im Knast. Auf den ersten Blick wirkt der Kulturschock auch fast zu vernachlässigen: Als seine Mutter ihn nach der Entlassung abholt und in die bescheidene Familienwohnung bringt, meint
Mark noch im Auto, es habe sich anscheinend nicht viel verändert. Doch die Mutter listet ihm auf, was sich unter der Oberfläche an Strukturen in dem Viertel gewandelt, in was für ein anderes Philadelphia, für andere USA er zurückkommt. Sie tut das im Tonfall einer Realistin, die gegen die Verhältnisse kämpft, aber ihre Energie nicht mehr in nutzlose Wut investiert.
Die verhältnismäßige Ruhe des Äußeren ist in Flesh And Blood nie Zeichen für einen inneren
Frieden. Auf seine viel kleinere, undramatischere, subtilere Weise macht der Film viel ehrlicher, berührender, wahrer all die Reibungen, das Aufreibende fühlbar.
Und anders als in Brigsby Bear, wo selbst die »Befreiung« grundnarzisstisch bleibt, wo Kunst letztlich immer nur einem Ego dient, gibt der Puppenspieler bei Flesh And Blood – Regisseur, Autor, Hauptdarsteller Mark Webber – freiwillig eine Kamera aus der Hand, um
mehr als nur seine Perspektive, Stimme in den Film zu lassen.
Stein 12: »Augmented Reality«
Flesh And Blood / I Am Not a Witch
Es ist sehr schwer, über Flesh And Blood zu schreiben, ohne den Film furchteinflößend sozialpädagogisch, nach Betroffenheits-Porn für das Feuilleton-Publikum klingen zu lassen. Wo er genau das so ganz und gar nicht ist. Weil eine bloße, objektive Beschreibung nicht ohne Begriffe auskommt, die sofort im Kopf einen Film ablaufen lassen: Politaktivstin (die Mutter), Gewalt in der Ehe (ihre Ex-Männer), Aspergers (der Halbbruder), Drogenabhängigkeit (so
ziemlich alle anderen)... Und dann auch noch: Laiendarsteller!
Aber gerade Letzteres rettet den Film davor, dass irgendetwas davon den Schablonen gleicht, die man bei dieser Aufzählung vor Augen hat. Auch »Laiendarsteller« ist im Grunde eine irreführende Bezeichnung. Denn die Menschen in dem Film spielen keine Rollen (wo in den meisten Fällen professionelle Schauspieler paradoxerweise ja dann authentischer wirken) – sie sind als leicht fiktionalisierte Versionen
ihrer selbst präsent. Und deshalb nicht auf das eine Label hin gecastet, sondern unreduzierbare, vielschichtige, oft vom Typ her überraschende Personen.
Und vor allem sind sie: Für Mark Webber (der sich auch in Hollywood als Schauspieler verdingt) zuallererst wirklich Familie, wirklich Mutter, Bruder, Freunde, Weggefährten. Die er eben von Anfang an als Menschen kennt. Diesen Blick überträgt er, dieser Blick überträgt sich wie selbstverständlich auf das Publikum.
Es ist
kein erklärender, kommentierender, wertender Blick von außen auf etwas. Und wenn Mark seinem Halbbruder eine Kamera in die Hand drückt und dessen Material auch in seinen Film schneidet, dann nicht mit der Absicht des Dokumentaristen, der ein wohlwollendes Interesse hat, wie die Perspektive »dieser Leute« aussieht – sondern einfach, weil sein Bruder schon lange vom Filmemachen träumt. Und darin auch durchaus ein gewitztes Talent beweist.
So wenig wie Flesh And Blood verspürt I Am Not a Witch – wohl unser Lieblingsfilm auf dem Festival – die übliche Verpflichtung zur Betroffenheit; dies Gefühl, »solche Menschen« mit filmischen Samthandschuhen anfassen zu müssen, sie – aus den besten Absichten heraus – entmündigen, immer in Opferrolle denken zu müssen.
Wie Mark
Webber, ist auch Regisseurin Rungano Nyoni In- und Outsiderin zugleich: Sie ist geboren in Sambia, großgeworden und heute zuhause in Cardiff. Als Filmemacherin zur Recherche nach Ghana zu gehen, in Sambia einen Spielfilm zu drehen über den dort selbst im sich aufgeklärt gebenden Staatswesen verankerten Hexenglauben, ist für sie kein Akt der Ethnographie.
Dass das offizielle Hexencamp, in das sie ihre junge Protagonistin begleitet, auch für Nyoni etwas Fremdes,
Befremdliches, als Thema latent Reißerisches hat, geht sie in der Inszenierung gleich zu Anfang offensiv an: Die Kamera kommt als Teil einer Touristengruppe dort an. Aber nachdem dies etabliert ist, nimmt sie sich die Freiheit, als Künstlerin sich das Sujet nicht anders anzueignen, als ginge es um Waliser oder Dänen.
Sie hat nicht nur ein Auge dafür, was die Realität an wahren, visuell starken Kinobildern hergibt – sondern auch den Mut, selbst welche frei zu erfinden. Wie
etwa die riesigen Spindeln mit weißen Bändern, die an die »Hexen« geknüpft werden, um sie »am Wegfliegen zu hindern« – und, als nützlichen Nebeneffekt, sie zur Feldarbeit zu zerren.
Dadurch, dass der Film das Überlebensgroße wirklichen Kinos hat; dass er überhaupt nichts Weinerliches hat, und dafür einen sehr trockenen, absurden bis surrealen Humor, lässt ihn der üblichen Falle entgehen, unabhängig vom Gegenstand letztlich nur auf eine manipulativ-rührselige
Ergriffenheit ob eines Einzelschicksals abzuzielen. I Am Not a Witch ist auf verschlagene Weise im Grunde eine Politsatire, ohne sich direkt danach anzufühlen. Er hat die perfekte Distanz, um zugleich einen Blick für die größeren Strukturen zu behalten – und einem im entscheidenden Moment ob des Schicksals seiner Protagonistin einen Schmerz fühlen zu lassen, der wirklich
herb und kein wohlig schluchzender Taschentuch-Moment ist.
I Am Not a Witch war einer der erfreulich vielen Filme, die jenes Gefühl bestätigten, das man schon beim Durchblättern des diesjährigen Filmfest-Magazins hatte: Die Angst der FilmemacherInnen davor schwindet, nicht ernst genommen zu werden, sobald sie das Sinnliche, Künstliche, Audiovisuelle des Mediums wirklich und mit Freude nutzen, auch wenn es um »wichtige«, »reale« Themen
geht.
Die sehr protestantische Definition von Anspruch und Wert scheint zum Glück auf dem Rückzug. Vielleicht gerade, weil das Fernsehen zu solch einer starken Konkurrenz erwachsen ist, spürt man einen Drang, wieder wirkliches Kino zu machen. Plötzlich drehen nicht mehr nur Traditionalisten wie Nolan und Tarantino auf echtem Film, auf 35mm sondern junge Debut-Filmemacherinnen wie Noël Wells und Léa Mysius (AVA). Und selbst die Handykamera ist kein Argument gegen
Bilder.
Was nicht der einzige, aber auch nicht geringste Grund war, wie seit Jahren nicht mehr ein ganzes Festival lang durch solch eine lange Reihe von nachwirkenden Filmen zu kommen, ohne einem ernsthaften Stolperstein zu begegnen.