34. Filmfest München 2017
Ein starker Länderauftritt und erratische Einzelgänger |
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Insgesamt unsicheres Quellenmaterial: Rey von Niles Atallah | ||
(Foto: Real Fiction Filmverleih) |
Wie gewohnt, fand sich auf dem diesjährigen Münchner Filmfest wieder eine reiche Auswahl lateinamerikanischer Filme, quer durch die Reihen verteilt, versteht sich, bis hin zum Kinderfilmfest, in dem sich mit Tesoros ein leichthändig inszenierter, sehr spielerischer Film der renommierten Mexikanerin María Novaro fand. So war man also aufgerufen, sich als Filmflüsterer in eigener Sache seine »Visiones latinas« selbst zusammenzustellen. Was einige Liebhaber und Kenner auch machten, traf und begegnete man einander doch bei den betreffenden Filmen während des Filmfestes häufig und gerne wieder.
Neben den »normalen« soliden Erzählfilmen zwischen Genre, Konvention und politischem Engagement konnte man sich auch wieder einiges an ästhetisch Avancierterem herauspicken, das in Venedig, San Sebastian oder eben erst Cannes vorgestellt worden war.
Im Mittelpunkt stand mit gleich drei Filmen Venezuela, das in den letzten Jahren zwar durch eher kleine, aber sehr starke Produktionen auf sich aufmerksam machen konnte und mit Desde allá (deutscher Verleihtitel war: Caracas, eine Liebe) von Lorenzo Vigas vor zwei Jahren gar, zum Befremden manchen Beobachters, den Gewinner des Goldenen Löwen von Venedig stellte. Dass es aber für einen, wenn auch kleinen Länderschwerpunkt reichen sollte, hätte man so nicht erwartet.
Die drei venezolanischen Filme, die auf dem Münchner Filmfest 2017 eine eigene Gruppe bildeten, hinterließen jedenfalls einen sehr guten Eindruck. Vermochten sie doch aufs neue zu zeigen, wie es Filmen aus Ländern in Zeiten des krisenhaften Umbruchs gelingt, mit den individuell anverwandelten ästhetischen Mitteln des Neorealismus in eindringlicher Weise aktuelle soziale, gesellschaftliche und politische Probleme aufzugreifen. Die Geschichten in den drei Filmen sind jeweils ganz dicht dran an der sozialen Wirklichkeit des Landes, sie arbeiten mit nicht professionellen Schauspielern, bringen auf quasi-dokumentarische Weise die Alltagsumgebung der Figuren als genau beobachtete Schauplätze zur Geltung und unterwerfen die Handlung nicht gewaltsam den Erfordernissen eines Plots, sondern lassen die Zeit weitgehend nach Maßgabe der realen Abläufe verstreichen.
Gustavo Rondón Córdova wagt es in La Familia, an die Fahrraddiebe von Vittorio de Sica anzuknüpfen, wenn er einen Vater mit seinem 12-jährigen Sohn Pedro eine beklemmende Irrfahrt durch Caracas antreten lässt. Dabei trägt Rondón den verschärften sozialen Verhältnissen gegenüber de Sica Rechnung, wenn er den Anlass für den Weg durch die Stadt ungleich drastischer gestaltet. Bei den oft recht ruppigen Spielen der Kinder aus der Mietskaserne mit Straßenjungs aus den angrenzenden Slums fügt Pedro nämlich einem anderen eine tödliche Verletzung zu.
Aus – wie sich später zeigen wird – berechtigter Angst vor Vergeltung packt der Vater schnell die notwendigsten Sachen und nimmt den sich zunächst sträubenden Sohn, mit dem er alleine lebt, an die Hand, um unterzutauchen. Pedro lernt nun die prekären Jobs kennen, die sein Vater von morgens bis spät in die Nacht verrichtet und mit denen er sich gerade so durchbringt. So erwächst aus der geteilten Erfahrung sozialer Marginalisierung eine neue Nähe, ein Verständnis zwischen Vater und Sohn, das ein Gefühl der Solidarität auch beim Zuschauer erzeugen kann, eine unmittelbar empfundene Humanität, die frei von jeglicher Sentimentalität ist, zu nüchtern und illusionslos wirken die Bilder, die mit der Handkamera auf den Wegen durch die belebten und engen Straßen von Caracas eingefangen werden.
El Amparo von Rober Calzadilla (für diesen Film machte der Regisseur von La Familia übrigens den Schnitt) greift den historisch belegten Fall eines Massakers des Militärs an Fischern aus dem an der Grenze zu Kolumbien liegenden Dorf El Amparo im Jahre 1988 auf.
Bei einer mit mehreren Booten unternommenen Ausfahrt zum Fischen auf dem Fluss sind die 14 Männer für Guerrilleros gehalten und unter Feuer genommen worden. Im ersten Teil des Films werden die Vorbereitungen und der Aufbruch zu diesem fatalen Fischzug in einer großartigen Folge von genau beobachteten Szenen unaufdringlich aus den Alltagsverrichtungen der Dorfgemeinschaft heraus entwickelt. Hier konnte man durchaus an Visconti und La terra trema denken. So wie sich dort aus den Lebens- und Arbeitsbedingungen der Fischer eines sizilianischen Dorfes eine lückenlose Ereigniskette ergibt, die sich in ungeheurer tragischer Wucht gegen die Protagonisten wendet, so unausweichlich führt der Weg der Fischer in El Amparo in die tödlich ausgehende Unternehmung, bei der ihnen die Kamera nicht bis ans Ende folgen wird. Die Ungewissheit über den Verbleib der Männer, als sie am nächsten Tag noch nicht zurück sind, die Sorge und Unruhe der Frauen im Dorf, die wächst, als zwei von der Gruppe verstört aufgefunden und zurückgebracht werden, die Nachricht von einem Zwischenfall, bei dem die Armee einen Zusammenstoß mit Guerrillakämpfern an der Grenze hatte, diese Momente sind höchst eindrucksvoll. Der zweite Teil des Films schildert nicht minder intensiv, wie die beiden Überlebenden, die als Aufständische ins örtliche Gefängnis eingesperrt wurden, um die Anerkennung ihrer Unbescholtenheit kämpfen, um die Wahrheit, um das Eingeständnis, dass sich die Armee geirrt haben könnte. Ein Kampf, der bis heute, fast dreißig Jahre später, noch nicht ausgestanden ist; wobei der Film die Darstellung des Falles gezielt in zeitlicher Uneindeutigkeit belässt, so dass man meinen könnte, es handle sich um ein aktuelles Geschehen.
La Soledad, der dritte der venezolanischen Filme, gibt sich als lockere, improvisiert wirkende Szenenfolge, in deren Zentrum das langsam verfallende Haus »La Soledad« steht, das einer alten Frau in Anerkennung treuer Dienste von den Besitzern als Bleibe überlassen wurde. Dass dieses Haus dann Zufluchtsort für ihren Sohn mitsamt Frau und Kind wird, dass ein anderer Sohn dann auf der Flucht vor Problemen ebenfalls dort Unterschlupf sucht, führt schließlich zur Kündigung des Wohnrechts. Was zunächst wie ein idyllisch anmutendes Refugium wirkte, wandelt sich unversehens in einen fragilen Ort der Prekarität.
Der Regisseur Jorge Thielen Armand und seine Familienmitglieder wirken hier als die Protagonisten ihrer eigenen Geschichte. Die feine Balance zwischen Dokumentation und Spielhandlung gibt dem Film eine Brüchigkeit, die es erlaubt, die geschilderte Situation und ihre ganz dicht am Alltagsleben gehaltenen, impressionistisch wirkenden Beobachtungen zu öffnen und sie repräsentativ zu lesen für die Lage einer größeren Gesellschftsschicht, für einen Zustand der Unsicherheit, der ein ganzes Land betrifft.
Neben diesen relativ geschlossen wirkenden Beispielen eines neuen venezolanischen Kinos heben sich ein paar eher einzelgängerische Werke stark ab. So der aus Chile kommende ungewöhnliche Historienfilm Rey von Niles Atallah. Dieser begibt sich mit seinem experimentellen Film auf die Suche nach dem Königreich Araukanien und Patagonien, das der französische Abenteurer Orélie Antoine de Tounens Mitte des 19. Jahrhunderts im Süden Chiles errichtete. De Tounens behauptete, dieses Reich mit dem Einverständnis der dort ansässigen Mapuche-Indios als König zu regieren und sich für die Anerkennung der Mapuche einzusetzen. Chile verurteilte ihn wegen Landesverrat und verbannte ihn. Die Protokolle des Prozesses stellt Atallah als surreal-absurde Farce mit künstliche Masken tragenden Schauspielern nach.
Die insgesamt unsichere Quellenlage zu diesem obskuren Königreich, über das keine zuverlässigen Dokumente und Zeugnisse auffindbar, dafür aber um so mehr Gerüchte und Fiktionen in Umlauf gekommen sind, überträgt Atallah konsequent auf die Form seines Films. So drehte er einige phantastisch anmutende, wohl erfundene Geschichten, die auf eigenen Zeugnissen und Erinnerungen des »Königs« basieren, mit einer digitalen Kamera nach, filmte diese Szenen auf 35mm und 16mm ab, um dieses analoge Material dann zu vergraben und es teilweise bis zu mehreren Wochen verrotten zu lassen. Die daraus gewonnenen Filmbilder tragen sozusagen vom Zufall erzeugte künstliche Spuren archivalischer Vernachlässigung und wirken artifiziell historisch. Wobei Atallah dem Material – er verwendete darüberhinaus unbekannte historische Archivbilder aus unterschiedlichsten Kontexten – auch noch experimentelle Verfahren der Verfremdung wie Zerkratzen und Bemalen von Hand angedeihen ließ, dazu Über-, Doppelbelichtungen und sonstige denkbare Formen der Bearbeitung, die einen delirierenden, fiebrigen, ekstatischen, exzessiven, verrückten und auch urkomischen Film ergeben, der Fiktion und Dokument als untaugliche Kategorien jenseits einer konkreten Materialität von Film im eigentlichen Sinne weit hinter sich lässt.
Mit einer historischen Rekonstruktion, die sich ebenfalls in der spezifischen Gemachtheit des Films niederschlägt, beschäftigt sich die Paraguayerin Paz Encina in Ejercicios de memoria. Sie befasst sich mit der Aufarbeitung der politischen Verfolgung unter Alfredo Stroessner, der als diktatorischer Präsident 1954-1989 regierte. Im Zentrum des Films steht der Arzt und Oppositionspolitiker Agustín Goiburú, der mehrfach verhaftet und schließlich 1976 verschleppt wurde. Seine Überreste wurden erst 2013 gefunden und identifiziert.
Der ebenso einfache wie rätselhafte Film verschreibt sich einer Ästhetik des Schweigens und der Stille, nur nach und nach gelangen bruchstückhaft bleibende Aussagen und Informationen wie minimalistische Puzzleteile an die Oberfläche.
Die gezeigten Bilder sind von trügerischer Idyllik, wir sehen ein Kind schwimmen und tauchen, wir sehen Kinder im Unterholz eines unberührt anmutenden Urwaldes spielen und herumtollen, wir sehen sie in schlammigem Flusswasser schwimmen, wir sehen junge Männer auf Pferden reiten, durch Grasflächen, durch Gestrüpp und Gebüsch, durch Flussauen. Wir sehen schlicht gehaltene Interieurs eines Hauses, in dem die Bewohner zu fehlen scheinen, bis wir darin unscheinbare Spuren des Exils zu erkennen vermögen.
Aus dem Off erklingen zunächst Tonaufnahmen von Vernehmungen, dann die Stimmen der Söhne Rogelio und Rolando Goiburú, sowie die Stimme der Tochter Jazmín, sie erinnern sich an den Vater, an das Leben im Exil, an das Verschwinden des Vaters. Zu sehen bekommen wir sie nie, außer in den Abbildungen aus den Fotoalben der Familie.
Es wird auch ausschnitthaft konkreteres Material gezeigt: Karteikarten mit Passfotos und Fingerabdrücken, Überwachungsdokumente und Ermittlungsunterlagen, alles aus den Archiven der Geheimpolizei der Diktatur: es geht um den Versuch eines Attentats auf Stroessner, an dem Goiburú beteiligt war.
Mehr und mehr sickert die Beklemmung aus den Archivmaterialien, aus den Bruchstücken der Erinnerungen in die schönen Bilder ein. Manchen mag Paz Encinas stille Beharrlichkeit zu zurückhaltend anmuten, doch ihre Erinnerungsübungen mit den Nachfahren von Goiburú sind trotz ihrer Diskretkeit und Behutsamkeit von großer Nachhaltigkeit.
Mexiko als eine der traditionell wichtigsten Filmnationen Lateinamerikas war diesmal zahlenmäßig weniger stark vertreten. Dafür aber stand mit Amat Escalantes zwischen Onirismus und Naturalismus changierendem La región salvaje ein umso eigensinnigerer Repräsentant im Programm.
Escalante zeigt die verfahrenen emotionalen und sexuellen Verhältnisse einer kleinbürgerlichen Familie in der mexikanischen Provinz. Der Vater ist überfordert von seiner homosexuellen Veranlagung, die er mit Machismo zu verleugnen, heimlich aber trotzdem mit dem Bruder seiner Frau auszuleben versucht. Als latenten archimedischen Punkt setzt Escalante in diese Welt unausgeglichener Begehrensökonomie ein phantastisches Wesen, das wie eine Ausgeburt katholischer Erbsündelehre, archaischer Sinnlichkeit und galaktischer Intervention wirkt: die fleischgewordene monströse Verkörperung sexueller Wunscherfüllung. Ein Paar fungiert als Hüter dieses Wesens, eine Mischung aus Naturforschern und Esoterikern, die über den Zugang zu ihm wachen. Das Experimentieren mit geeigneten Partnern für dieses Wesen geht nicht unbedingt immer gut aus und führt zu sehr konkreten Verwicklungen, an denen auch die Mitglieder der zu Beginn gezeigten Familie nicht unbeteiligt bleiben. In Escalantes Variante pulphafter Metaphysik wird magischer Realismus jedenfalls zu einem ganz eigenen Genre.