70. Locarno Filmfestival 2017
Deutsche Männer und ihre Probleme |
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Jan Zabeils Drei Zinnen: the good father | ||
(Foto: NFP marketing & distribution GmbH / Filmwelt Verleihagentur GmbH) |
40 Grad waren es fast die ganze erste Woche in Locarno, und auch wenn man nicht gut schlafen konnte, und diesmal immer wieder traurig war, weil doch sehr viel an diesem Ort an den gerade verstorbenen Viennale-Direktor Hans Hurch erinnerte, machte das Festival Spaß. Das lag natürlich nicht zuletzt an den Tourneur-Filmen in der Retrospektive, die sehr sehenswert waren. Es stimmt: Wenn man auf so einem Festival am liebsten in die Retrospektive geht, macht man es sich einfach – aber
es hat ja seinen Grund, dass wir uns an vier, fünf Tourneur-Filme, die wir früher schon einmal sehen konnten, bis heute erinnern, an das meiste aus dem Locarno-Wettbewerb und der Piazza vom Vorjahr aber bereits nicht mehr.
Die Preisfrage ist eher die, zu welchen unserer Gegenwartsregisseure – weltweit – in 50, 60 Jahren Retrospektiven abgehalten werden, die irgendwen in ähnliche Begeisterung versetzen?
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In einem merkwürdigen Kontrast zu den Temperaturen standen viele der neuen Filme, vor allem die aus Deutschland. Beide Piazza-Filme spielten nämlich in Eis und Schnee, und auch Freiheit, der deutsche Wettbewerbsbeitrag, streift zwar alle vier Jahreszeiten, die zentralen Ereignisse geschehen aber in einem grau-regnerischen November.
Lena aus Frankfurt saß diesmal in der FICC-Jury
der Kinobetreiber, wo sie mit ihren Kollegen den mit einem schönen Namen versehenen »Don Quixote-Preis« vergab. Den gewann dann Annemarie Jacir für Wijab.
Über Don Quixote hat übrigens der Schweizer Germanist Peter von Matt einen lesenswerten Essay geschrieben. Da folgt er den Spuren Don Quixotes, der seit vierhundert Jahren alle Grenzen in Raum und Zeit sprengt und in der Literatur wieder verbindet, was die Politik an Gräben aufreißt. So vermisst Peter von Matt
Europa neu: Als Raum der Inspiration, dem aber stets ein anderes Europa, ein Raum der Macht und des Krieges, gegenübersteht. Ein Plädoyer für ein politisch geeintes Europa, in dem nationalstaatliche Grenzen immer unbedeutender werden sollten. Wann gibt es auch so einen Film auf derartigem Niveau? Oder ein solches Buch über das Kino?
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Bereits am zweiten Tag sagte mir Lena: »Es ist furchtbar: Ich muss mir immer über die ganze Zeit irgendwelche beunruhigten Männer angucken.« Mit Freiheit konnte sie auch nicht viel anfangen, was ich schade fand, aber so ist es halt. Bei den anderen Filmen waren wir einer Meinung.
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Hoch auf dem Berg, da herrschen andere Gesetze. Da begegnen wahre Männer sich selbst, der Natur, »dem Schicksal« und jener »anderen Seite«, nach der von den Höhlenmenschen bis zu den Hippies noch jedes Zeitalter auf seine Weise gesucht hat. Gerade im deutschen Film kommen die Berge und die ihnen offenbar innewohnende »Reduktion von Komplexität« (Niklas Luhmann) gegenüber den Niederungen des modernen Lebens in der Tiefebene wieder in Mode – allemal wenn man jene zwei deutschen Filme zum Maßstab nimmt, die dieser Tage beim Filmfestival von Locarno auf der Piazza Grande liefen: Jürgen Vogel ist »Der Mann aus dem Eis« in Felix Randaus fiktionaler Einfühlung in das Leben jenes Mannes aus der Jungsteinzeit, der 5300 Jahre nach seinem Ableben aus dem Gletscher auftauchte und und als Ötzi weltberühmt wurde, auch als Projektionsfläche für Zivilisationsflüchter aller Art. Um die spärlichen belegten Fakten herum haben Randau und sein Team eine ambitionierte Story erfunden, die uns allzu bekannt vorkommt: Damals waren alle Ökobauern, waren zwischen Schweinen und Ritualen eins mit der Natur. Dann wird die Familie von bösen Menschen hingemetzelt, und zuvor noch arg missbraucht, und der Überlebende Ötzi muss zwischen Todestrieb und Rachelust so etwas wie Verantwortung lernen, bevor der Film ihn gnädig sterben lässt.
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Während der Versuch, sich der neolithischen Kultur zu nähern, oft unfreiwillig komisch ist, und Jürgen Vogels Spiel unter erfundener Primitiv-Sprache, Strubbelbart und kiloschweren Fellgepäck im schlechtesten Sinne wuchtig wirkt, trösten immerhin die großartigen Bilder von Jakub Bejnarowicz über die Ödnis dieser Chronik eines angekündigten Todes hinweg.
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Die Frage »Wozu?« können aber auch die schönsten Bilder nicht tilgen. Das geht schon mit der Tätigkeit der Experten los, denn was nutzt es mir als Zuschauer, wenn Vogels Ötzi ein »Uh uh« macht, das möglicherweise aus Expertensicht authentisch ist, im Gegensatz zu »Ah ah«, das sich auch der Regiepraktikant hätte ausdenken können? Dass die Hütten mit Rinde bedeckt sind, anstatt mit Stroh, und die Felle um Vogels Lenden vom richtigen Tier abstammen? Ein hervorragendes Beispiel für Aufwand an der falschen Stelle. Am Ende denkt man doch irgendwann an die »Familie Feuerstein«, an den Senta-Berger-Film Als die Frauen noch Schwänze hatten (1970), an Conan der Barbar und Am Anfang war das Feuer (1981), der noch der beste ist – selbst unter den besten Regisseuren wird ein Steinzeitabenteuer immer zu einer Art Trash.
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Natürlich »geht« der Film irgendwie beim Publi8kum, das mal etwas anderes sehen will, als eine »Terra X«-Folge. Dafür war er ja auch teuer genug.
Ich mag auch viele, die da mitgearbeitet haben. Aber ich geb’s auch zu: Ich kenne Teammitglieder, die schon während der Dreharbeiten hinter vorgehaltener ähnliche Gedanken äußerten.
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Eine zweite, auch seelische Gletscherlandschaft voller ausgelutschter Mythen errichtet Regisseur Jan Zabeil (Der Fluß war mal ein Mensch). In Drei Zinnen verschlägt es eine Patchwork-Familie in die Dolomiten. Die Leute heißen so, wie nur Menschen in Berlin-Mitte oder im deutschen Film, nämlich Aaron und Tristan. Aha. Aaron (Alexander Fehling) möchte ein toller Stiefvater
für Tristan werden, den Sohn seiner neuen Freundin, doch der kleine Ödipus macht es ihm nicht leicht. Eine ganze Weile ist der Film eine Art Alle Anderen auf der Berghütte, und mit Ödipus wie gesagt.
Man sieht eine Sexszene, wie gern in deutschen Filmen: Im Stehen, hart und an der Wand. Kann man ja auch besser filmen. Nicht zum Aushalten ist allerdings, und jetzt müssen wir ganz genau erzählen, dass der
Regisseur dann direkt vom Rammeln schneidet auf – na? Allen Ernstes Aaron beim Sägen mit der Säge. Was man sonst so macht auf der Hütte. Zicke-zacke. Und was passiert dann? Genau: Die Säge bricht. Allen Ernstes! Tolle Metapher, falls es eine sein soll.
Ein paar Filmminuten später hören wir dann von der Mutter (Bérénice Bejo übrigens): »Tristan will, dass du die Geschichte vorliest.« Da glucksten wir am Piazza-Tisch, denn den Satz, der im Prinzip okay ist, hatten wir erst am Morgen
gehört, in Freiheit. »Mit zweien beginnt die Wahrheit«, schrieb Nietzsche – zweimal der gleiche Satz, kommt aus dem Unterbewusstsein: In deutschen Filmen müssen deutsche Männer offenbar besonders gute Väter sein, und dieses Gute-Väter-Sein und die innige Beziehung damit beglaubigen, indem sie vorlesen.
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Noch ein paar Filmminuten später gehen Aaron und Tristan ins Gebirge. Irgendwann streiten und verlieren sich beide in den Bergen. Arons Bein bricht, das Handy geht auch kaputt, Mami kann man also nicht mehr anrufen, es ist ganz wie früher. Auf Wiederfinden und Jungsversöhnung am Lagerfeuer folgt neue Pein: Beide streiten sich wieder, dann verschwindet der Junge im Nebel, Aaron robbt hinterher, das Bein ist ja gebrochen. Ein guter, aber schlecht geführter deutscher Schauspieler spielt mit allen Manierismen Ächzen und Stöhnen und zugleich Bedeutung. Dann steckt Tristan im Eisloch, wie auch immer er da hinkam, dann fällt auch Aaron hinein – wir müssen das wie gesagt so genau erzählen, sonst glaubt man es nicht –, dann hievt Aaron den Jungen wie auch immer, irgendwie halt aus dem Eis – vermutlich »in einer übermenschlichen Anstrengung«, wie man das im Wehrmachtberichts-Filmprogrammhefte-Deutsch der fünfziger Jahre geschrieben hätte –, bleibt aber selber drin. Jetzt kommt Mami mit dem Suchtrupp, findet Tristan, der sagt aber nicht, wo Aaron ist. Der geht im Eisloch unter. Es folgt eine minutenlange Tauchpartie bei Minustemperatur, die ein bisschen an Herzogs The Wild Blue Yonder erinnert. Auch das eiskalte Wasser und der fehlende Sauerstoff kann dem Helden Aaron nichts anhaben, mit dem Kopf bricht der deutsche Dickschädel irgendwann durch die Eisplatte wieder an Luft und Licht – ob er überlebt, wissen wir nicht, denn jetzt ist der Film aus. Kaum 20 Sekunden Höflichkeitspplaus beendeten diesen Reinfall auf der Piazza.
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Beide Filme – sonst vor allem sportliche Leistungen – einen merkwürdige Gemeinsamkeiten: Zweimal verzweifelte Deutsche im aussichtslosen Kampf mit den Elementen. Zweimal der Berg als Schicksalsort, die Natur als harte Kulisse aus Eis und Fels, zugleich zur Heimat aus Nebel-Licht und Sonnenschein romantisiert. Eine solche Klischeelawine der Gegenmoderne hat im deutschen Kino eine lange Tradition. Schon Siegfried Kracauer schrieb über die Bergfilme der 30er Jahre, was sich auch über den deutschen Neo-Bergfilm feststellen lässt: »Helden mit ungestümen Instinkten … Vergötzung von Gletschern und Felsen … Blindheit gegenüber substantielleren Ideen [die sich] in touristischen Heldentaten austobte.«
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Von den Bärten, die deutsche Männer in deutschen Filmen offenbar haben müssen, wollen wir jetzt gar nicht anfangen. Von dem ganzen Jungsquatsch, dem Muskelgequatsche, dem Machokörperkram dieser Filme. All das erzählt vor allem von der offenkundigen Unsicherheit des modernen deutschen Mannes, von der Angst, etwas falsch zu machen, vom Rückzug auf das Eigentliche, das in den Augen der Macher wohl der Körper ist – denn vor »Verkopfung« haben deutsche Filmemacher und ihre Redakteurinnen ja gerne Angst. Also überfrachtet man mit Testosteron.
Beide Filme haben etwas seltsam Maßloses, beide nehmen sich viel zu ernst, beiden entgeht in ihrer vollkommenen Humorlosigkeit, wie (unfreiwillig) komisch sie mitunter sind.