70. Locarno Filmfestival 2017
Glanz und Verfall |
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Godards Grandeur et décadence d’un petit commerce de cinéma: Sinnbild für ein immer müder werdendes Festival von Locarno | ||
(Foto: Capricci Films) |
Dies war wohl doch der künstlerisch aufregendste Beitrag im diesjährigen (Haupt-)Wettbewerb der Filmfestspiele von Locarno: Der brasilianische Film As Boas Maneiras, was so viel wie »Gute Manieren« bedeutet, vom Regie-Duo Juliana Rojas und Marco Dutra. Im Modus des Horrorfilms versuchen sich die Regisseure an der Geschichte verschiedener Grenzüberschreitungen: Ein Werwolf-Film, der geschickt die Muster des Horrorfilm-Genre benutzt, um Grenzüberschreitungen und Metamorphosen zu erzählen. Es geht um Ana, eine Frau aus der reichen Oberklasse, die ein Kindermädchen aus armen Verhältnissen anheuert, weil sie schwanger ist und sich auf die Geburt vorbereiten will. Die beiden entwickeln eine überaus enge Beziehung – und als Ana einen kleinen Werwolf zur Welt bringt, nimmt sich die Bedienstete des Geschöpfs an und versucht es zu schützen – Rosemaries Baby lässt grüßen. Der Film gewann den Spezialpreis der Jury. 9 Finger, ein surrealer Thriller des Franzosen F.J. Ossang, erschien manchen als Parabel auf die bürgerliche Gesellschaft. Ossang wurde als bester Regisseur ausgezeichnet.
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Das Tier im Menschen und Chimären zwischen Mensch und Tier waren ein untergründiges, gemeinsames Thema vieler Filme des diesjährigen Locarno-Festivals. Sensibilisiert hatte dafür die Retrospektive, die das Werk von Jacques Tourneur zeigte, das von »Katzenmenschen« und »Leopardenmännern« bevölkert ist. Aber auch auf der Piazza gab es mit Chien einen Film, in dem ein Mensch zum Hund wurde, oder Der Mann aus dem Eis, in dem das Leben in der Jungsteinzeit oft eher tierisch, als menschlich wirkt.
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Den Goldenen Leoparden von Locarno gewann, wie das bei Juryentscheidungen ja immer so ist, aber ein Film, der mit all dem nichts zu tun hatte. Fast mit Ansage ging der Hauptpreis an einen Film, der bereits von der Papierform des Katalogs her zu den engeren Favoriten gehört hatte: Mrs Fang, ein Dokumentarfilm über das Sterben einer an Alzheimer erkrankten alten Chinesin. Warum dieser Film? fragten sich viele, als der Preis bekannt gegeben wurde – aber die
Erklärung liegt eigentlich auf der Hand: Dokumentarisches hat gegen Fiktion in jedem Wettbewerb schon mal gute Karten, und erst recht ein Werwolf-Stoff tut sich schwer damit, zu behaupten, er sei nach einer wahren Geschichte erzählt.
Vor allem aber ist der Regisseur der Chinese Wang Bing, ein alter Bekannter aus dem »Inner-Circle« des internationalen Festivalbetriebs, der auch photographiert und Installationen macht. Sein Mrs Fang lief, wie andere
Filme von Locarno auch, zuvor auf der »documenta 14«. Was eine neue Verbindung des Festivals zum Kunstbetrieb zeigt.
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In einem eher schwachen Wettbewerb, der zu dreizehn Spielfilmen vier Dokumentarstücke zeigte und einen Essay, der aus den Aufnahmen von Überwachungskameras montiert wurde, ist dieser Preis zwar auch eine Mängelanzeige, die das eher schwache Gesamt-Niveau zusätzlich hervorhebt.
Abgesehen davon aber ist der Preis richtig ärgerlich: Denn Wangs extrem gedrehter, Geduld fordernder Darstellungsstil aus langen, langsamen und weitgehend ereignislosen Einstellungen, kann sich
zwar immer darauf berufen, das ja so halt das Leben ist – aber all das bringt das Kino und die Welterfahrung nicht voran. Erst recht nicht die Absage an irgendeine Geschichte, an irgendeine Form von »Relevanz« – ich weiß schon, dass dies das Schimpfwort unter den Liebhabern der Gegenwartskunst ist, aber genau hier sollten wir eine Debatte beginnen. Denn so abstoßend politisch korrektes Thesenkino ist, so nicht minder schrecklich ist sein Gegenteil: Die Leere und
Langeweile, die sich hinter »Realismus« und der Ausrede vom »genauen Hinsehen« tarnt, die Willkür und Bedeutungslosigkeit, die sich hinter der Verachtung für Thesenfilme versteckt.
Der schnöde Aktivismus der einen wird mit einem öden Passivismus beantwortet.
Solche Filme wie der von Wang sind zwar glücklicherweise untypisch für das Gegenwartskino, auch das von Locarno, aber er ist leider gar nicht untypisch für eine gewisse Tendenz des Festivalkinos, die in den letzten Jahren überhand zu nehmen droht.
Wangs Kino-Passivismus maskiert politische und narrative Ratlosigkeit, auch formale, und wirkt eher wie eine Ausrede, wie das Herumdrücken um den heißen Brei der politischen oder weltanschaulichen Positionierung. In einer
Welt, in der im Namen der Religion Kriege geführt werden, in der zwei Steinzeitpolitiker einander provozieren wie bildungsferne Jungs im Sandkasten, und in der im Namen der Sicherheit und des Antiterrorkampfes nicht nur in China elementare Menschenrechte ausgehebelt werden, ist dieses beflissenes Kunstkino der in jeder Hinsicht falsche Preis.
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Der wohl interessanteste Film in Locarno stammte nicht von einem Nachwuchsregisseur, sondern von dem innerlich junggebliebensten Filmemacher: Grandeur et décadence d’un petit commerce de cinéma von Jean-Luc Godard ist ein sehr humorvoller, sehr prophetischer Film, der den Verfall der Kinos, der Kunst und die totalitäre Machtübernahme des Fernsehens schon vor 30 Jahren
geahnt hat – und eine liebevolle Hommage an den kurz zuvor zu früh gestorbenen Freund François Truffaut.
»Grandeur et décadence« – Glanz und Verfall, diese Formel enthält tatsächlich fast die gesamte Geschichte des Kinos – und des Festivals von Locarno, das in diesem Fall 70 Jahre alt geworden ist.