70. Locarno Filmfestival 2017
Irgendwann merkt man: Das ist nicht genug... |
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Milo Raus Das Kongo Tribunal | ||
(Foto: RFF Real Fiction Filmverleih eK) |
»Die alten waren schöner, aber die neuen sind bequemer«, sagt Verena ganz pragmatisch und zutreffend über das frischrenovierte Rex-Kino, wo die Retrospektiven laufen. Tatsächlich ist das Rot der Sitze hässlich, das Kunstleder geschmacklos, aber wenn das Licht ausgeht, laufen hier die besten Filme, und besser als die engen Plastikschalen, in denen man auf der vielgelobten Piazza sitzen muss, und die ab dem dritten Tag so strapaziert sind, dass sie während der Vorstellung zu Dutzenden mit lauten Knallen durchbrechen, sind sie allemal.
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»Verité et justice« steht über dem Saal, große Worte. Gezeigt wird vor übervollem Saal Das Kongo Tribunal. Da die Qualität der zwei Wettbewerbe trotz einzelner Highlights, wie dem deutschen Beitrag, Jan Speckenbachs Freiheit, insgesamt eher mau war, fiel es um so leichter, sich in den Nebenreihen
umzuschauen. In der »Semaine de la Critique« lief dieser hochinteressante Film vom Deutsch-Schweizer Milo Rau – warum eigentlich nicht im Wettbewerb, wo man doch dort viereinhalb Dokumentarfilme vorführte. Offenbar war Das Kongo Tribunal zu wenig konventionell, und dem Schweizer oder Tessiner Tourismusverband, der hier natürlich auch nichts mitzureden hat, zu brisant.
Eine
krasse Fehlentscheidung, schon in der Programmierung, denn Das Kongo Tribunal zog derart viele Zuschauer an, dass man eine Extravorstellung ansetzte.
Milo Rau ist vor allem als Theatermacher ein Star – manche, mit denen ich sprach, teilten meinen Eindruck, dass Rau gerade selbst einiges dafür tut, zum neuen Schlingensief zu werden, jedenfalls in dessen Fußstapfen einer breiten
Grenzüberschreitung herkömmlichen Theaters zu treten. Auch Raus besonderes Interesse für Afrika passt in dieses Bild.
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Raus vierter Film – nach Die letzten Tage der Ceaucescus, Hate Radio und den Moskauer Prozesse –, dokumentiert zwei »Kongo-Tribunale«, die Rau im kongolesischen Bukavu und in Berlin aufführte. Dieses »dokumentarische Theater« ist keine Bühnenaufführung einer Vorlage im herkömmlichen Sinn, das Stück das dem zugrundeliegt, wird in den Staatskanzleien und Strategiezimmern der internationalen Banken geschrieben und das Ergebnis gleicht mehr einer politische Familienaufstellung. Raus von der Berliner Editorin Katja Dringenberg so geschickt wie elegant montierter Film füttert diese etwas trockenen, trotz realer Teilnehmer, fiktiven Prozesse mit viel dokumentarischer Substanz.
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Wir erfahren viel: Ein schönes Statement kommt von dem Den Haager Richter, der sein Engagement wohl auch sich selbst zu erklären sucht: »Ich hab Frau, Kinder, ein Haus, aber irgendwann merkt man: Das ist nicht genug im Angesicht der Probleme.«
Die Rohstoffe des Kongo sind mehr wert, als die Reichtümer von Europa und den USA zusammen. Das moralische Argument, dass sich hinter dieser sachlichen Feststellung versteckt, ist allerdings stumpf. Denn der Kongo wäre das erste Mal, wo
es um Gerechtigkeit und nicht um Macht ginge.
Was bleibt? Das Berliner Tribunal macht die Weltbank und EU verantwortlich. Das scheint mir zu billig, zu erwartbar.
Ich hätte es gern gehabt, dass dieser Film länger geworden wäre, dass er zugleich sich auf weniger Personen konzentriert und diesen Personen stärkeren Raum gegeben hätte. Zum Beispiel Miriam Saage-Maaß und Wolfgang Kaleck. Sie treten nur einmal auf, wirken da zu sehr als reine Stichwortgeber.
Man hätte etwas mehr
Hintergrundinformationen und Kontext geben müsse – so irrt der zuschauende Nichtexperte gelegentlich durch den Faktendschungel.
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Die Bilder sprechen immer wieder für sich in diesem Film. Das überraschendste Resultat: Auch wenn manche Worte sich auf die Mitverantwortung der globalen Konzerne und Weltmächte konzentrieren, widerlegen die Bilder solche einfachen Schuldzuschreibungen. Die große Leistung des »Kongo-Tribunal« ist die Erkenntnis, dass es die Großkonzerne und anderen Ausbeuter aus dem reichen Norden gar nicht braucht: die Afrikaner beuten einander selbst am gnadenlosesten aus, die verschiedenen Banden im Kongo massakrieren einander auch ohne jede Anleitung aus dem Ausland. Hier ist Heimat der reine Horror.
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Trotzdem bleibt das Tribunal symbolisch, fiktiv, nicht autorisiert, nicht fürs Recht, sondern für die Öffentlichkeit. Ein Einwand ist das nicht, denn darin gleicht es der Kunst des Kinos.
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Die »Neue Züricher Zeitung« hält es trotz all dieser Qualitäten für nötig, Das Kongo Tribunal zu verreißen. Und zwar schön ad hominem: Vom »umtriebigen« Rau ist schon in der ersten Zeile die Rede. »Was dokumentarisch sein soll(te), ist zu grossen Teilen inszeniert. Diesem fragwürdigen Trend im Bereich des Dokumentarfilmgenres folgt auch Milo Rau, was in diesem Kontext besonders irritiert.
Als Postdramatik wird seine Theaterarbeit auch bezeichnet. Ist das hier Post-Dokumentarfilm? Nichts ist dem Zufall überlassen, von den idyllischen Landschaftsaufnahmen aus Ostkongo, welche den Frevel an dem Land und seiner Bevölkerung konterkarieren und das Publikum gefühlig machen sollen, bis zu den pittoresken traditionellen Trachten der Frauen, die Rau in ihrer Schönheit und Farbigkeit immer wieder effektvoll ins Bild setzt. Ist das nur der schöne Schein?«
Kaum zu
glauben: Da wirft eine Filmkritikerin einem Regisseur vor, dass er seine Mittel souverän benutzt und nicht so naiv, wie sie es offenbar gewohnt ist, dass er nichts dem Zufall überlässt. Macht man das denn bei der NZZ?
Dass hier vorauseilender Gehorsam gegenüber erwarteten Leserreaktionen geistige Strippen gezogen hat, wollen wir mal nicht vermuten. Interessant ist allerdings, dass die Autorin der NZZ eine Deutsche ist.
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In der Retrospektive dann Timbuktu, den Jacques Tourneur 1958 gedreht hat. Ein Actionfilm, nicht weiter wichtig fürs Werk, aber amüsant mit seinen Klischees über »moslem uprising« und »holy men«, schon damals. Amerikaner, als Franzosen im Jahr 1940. »We are fighting a demon«, sagt ein Franzose. Antwort des von Victor Mature gespielten Amerikaners: »Phantoms don’t use rifles.«