74. Filmfestspiele von Venedig 2017
Die Poesie der Drohnenbilder |
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Ein Film, der tief reingeht, nicht an der Oberfläche bleibt, nicht moralisiert – This Is Congo | ||
(Foto: Dogwoof) |
»Everything what is happening, has been done before.«
aus This is Congo
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Sanft gleiten sie dahin, zoomen heran, zoomen weg, fliegen wie in Vogel. Manchmal guckt man direkt hinunter in die Tiefe und einmal gibt sich Ai Weiwei ganz besondere Mühe. Da blickt er wieder einmal von weit oben auf ein Flüchtlingslager, es ist bestimmt schon das dreiundzwanzigste in diesem Film, und von dort oben sieht das alles auch sehr schön und pittoresk aus, gerade auch die Menschen, die wie kleine Läuse flink umherkrabbeln, wie Ameisen auf ihren Straßen einem höheren Willen zu gehorchen scheinen, und dann, plötzlich stürzt sich die Kamera in die Tiefe wie ein Sturzkampfbomber, das Bild wird vom Zeitraffer noch beschleunigt und die Menschen, die in einer Wegkreuzung des Lagers sich eben noch zusammengeknäult haben, treten gleichmäßig ein paar Schritte in alle Richtungen zurück, bilden einen Kreis, ehrfürchtig das erwartend, was da wie ein Sendbote Gottes bei ihnen landet. Vom Himmel hoch, da kommt sie her, die Kamera, die Kunst des Ai Weiwei.
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Eine schöne Inszenierung. Dieser Film ist voll von solchen Inszenierungen. Das ist für Dokumentarfilme neuerer Zeit auch nichts Ungewöhnliches. Ich habe mich aber schon immer gefragt, wo eigentlich die moralische Grenze verläuft, ab die Inszenierung einer Realität etwas Anrüchiges, Verbotenes hat. Denn was uns irgendwelche Kunstheoretiker und Filmwissenschaftler und andere auch immer mit klugen Argumenten über die Gemachtheit und Inszenierung des Dokumentarischen erzählen mögen – einstweilen unterscheiden wir ja noch (und mir scheint, mit sehr guten Gründen) zwischen Dokumentarfilm und Spielfilm. Der Sinn dieser Unterscheidung besteht im unterschiedlichen Vertrag mit dem Zuschauer: Der Spielfilm zeigt etwas Ausgedachtes, wie sehr dies auch immer auf Realem basieren mag. Ein Dokumentarfilm behauptet, letztendlich etwas Reales zu zeigen, und dies allenfalls zu interpretieren, mit was für Tricks und Inszenierungsgesten auch immer, aber nicht zu verfälschen. Auch Ai Weiwei beansprucht diesen Vertrag einzuhalten. Die Frage ist, ob seine Kunst die Absicht nicht trotzdem verrät?
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Ai Weiwei hat also einen Film gedreht. Seinen allerersten, der den mehrdeutigen Titel Human Flow trägt, und in recht allgemeiner Form von der heutigen Flüchtlingssituation handelt. Von Ai Weiwei wissen wir vor allem, dass er Chinese ist, Künstler und ein Dissident, der offenbar schon mehrmals in China verhaftet wurde, und der seit einiger Zeit in Berlin lebt. In Berlin-Mitte sieht man ihn
manchmal mit seinem kleinen Sohn herumlaufen oder Selfies mit Touristen machen.
Weil Ai Weiwei inzwischen so bekannt ist, dass er von Touristen um Selfies gebeten wird, hat er auch keine Probleme gehabt, in Deutschland und anderen Ländern genug Geld aufzutreiben, um einen Film zu drehen, für den er mit sechs Kameramännern (und anscheinend vielen Drohnen) durch die ganze Welt gereist ist, sogar nach Afrika, wo dann ungefähr 2 Minuten und 20 Sekunden seines Films spielen, weil Ai Weiwei
zu Afrika offenbar auch nicht mehr einfällt, als den allermeisten von uns.
Für das Geld gibt es dann auch Fotos mit den Förderchefinnen und Fernsehredakteuren, Selfies sind das aber nur in Ausnahmefällen.
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Die unbestreitbaren Pluspunkte von Human Flow sind, dass der Film uns endlich einmal etwas Ruhe zu Beobachtung gibt, uns hingucken und etwas selbst entdecken lässt. Natürlich haben wir schon viele Flüchtlinge, Flüchtlingsboote und Flüchtlingscamps in den Nachrichten gesehen. Aber die Nachrichten funktionieren ja auch im Fernsehen gar nicht mehr durch Bilder. Sie sind zugetextet, genau
gesagt wird eigentlich umgekehrt ein Hörtext, und zwar ein schlechterer Radiotext, bebildert. Zudem muss alles immer ganz schnell gehen: Das Fernsehen lässt uns gar keine Zeit, uns einmal auf ein Bild einzulassen. Das ist hier immer mal wieder anders, obwohl die viele Bilder Ai Weiwei’s sehr bekannt und gewöhnlich bleiben, und schon tausendmal gesehen wurden.
Was dem Chinesen auch gelungen ist: Sein Film gibt uns zumindest mal eine Ahnung von der Dimension des Themas. Das hat zwar
manchmal etwas Deprimierendes, etwas Aufwühlendes und Aktivierendes aber auch. Ein gutes Gefühl.
Schließlich ist auch positiv zu vermerken: Die Inszenierung vieler Szenen ist so offensichtlich, dass dem aufmerksamen Betrachter gar keine Zweifel bleiben können.
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Meine Lieblingsszenen, von der mit dem Drohnensturzflug abgesehen, sind Folgende: Eine Flüchtlingsfrau erzählt ihr Leid an einem Tisch sitzend und mit dem Rücken zur Kamera. Sie will nicht ihr Gesicht zeigen. Irgendwann ist sie von Verzweiflung überwältigt, kann nicht mehr sprechen, muss weinen und sich schließlich sogar übergeben. Ai Weiwei tritt irgendwann, während die Kamera weiterläuft, in das Bild hinein, und tröstet sie. Dann kommt von rechts der Assistent, geht durchs
Bild und reißt von einer großen Papierrolle Taschentücher ab. Er gibt sie nicht der Frau, sondern seinem Meister, der sie wiederum der Frau gibt. Das wiederholt sich mehrmals.
Die zweite Szene: In dem Abschnitt über den Gazastreifen filmt der Künstler acht Freundinnen, die gerade mit der Schule fertig sind, und sehr selbstbewusst, sehr frech und witzig von ihrer Lage und dem Leben in Gaza erzählen, hat mindestens eines der Mädchen das Buch Ai Weiweis über Warhol in der Hand. Ist das
nun Zufall? Man mag es nicht glauben. Wenn es aber eine Inszenierung ist, ist es nicht nur eine ziemlich eitle Selbstinszenierung, die der Regisseur besser gelassen hätte, sondern auch ein Kniff, der so verräterisch ist wie genial, und zwar genial, weil er verräterisch ist. Denn damit würde Ai Weiwei immerhin uns alle direkt darauf hinweisen, dass das, was er tut unauthentisch und aus zweiter Hand ist
Die dritte Lieblingsszene: Auf einem Flüchtlingsschiff macht Ai Weiwei
Selfies mit einem Flüchtlingskind, und lässt sich dabei filmen.
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Solche Szenen enthüllen den größten Malus des Films: Die unsägliche Selbstinszenierung des Künstlers, aber auch seine mangelnde Selbstreflexion. Offenbar ist ihm gar nicht bewusst, dass es ein bisschen obszön ist, wenn hier ein hochprivilegierter Künstler sich den Luxus gönnt zwischen Flüchtlingsbrennpunkten hin und her zu jetten, und dann die Flüchtlinge als Kulisse benutzt, vor denen er selber immer wieder auftritt, Flüchtlingsköpfe streichelt, Tränen tupft, und ein ums
andere Mal murmelt: »You are a good man« – wir rätselten hinterher nur, ob dieser Satz dreimal im Film fällt, fünfmal, oder mindestens siebenmal.
Interessant auch, dass all dies niemand herausgeschnitten hat. So wie auch die vielen Assistenten, die im Film immer servil um den Meister herumscharwenzeln.
Dazu sind die Bilder viel zu schön, viel zu lackiert, alles hält uns wohlig auf Distanz, nichts schockiert, bedrängt, hallt unangenehm nach. Ein Film, den man gut
konsumieren kann.
Außerdem geht es Ai Weiwei viel zu viel darum, wie »wir«, wie »Europa« auf das Elend reagiert. Da verlässt der Film den Zeigegestus und moralisiert. Ich finde das Verhalten Europas auch falsch, aber dann hätte er einen anderen Film drehen müssen, dann hätte er ernsthaft nach »unseren« Handlungsoptionen fragen müssen.
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Der Abschnitt über Gaza ist eigentlich der interessanteste, konzentrierteste. Wenn in Gaza plötzlich der Strom ausgeht, scheidet das Ai Weiwei ein paarmal hintereinander. Und wenn er auch ausführlich die Rettung eines Tigers aus Gaza gezeigt wird (geht es noch schräger? Was hat der Tiger da überhaupt zu suchen?), dann soll uns das wohl über den absurden Kontrast zwischen Aufwand für ein Tier und dem Nichtaufwand für die Menschen nachdenken lassen. Es gibt allerdings auch nur einen Tiger im Gazastreifen.
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»Der Tiefpunkt bisher« findet eine österreichische Kollegin. »It was a shame« sagt Nil Kural aus der Türkei. Es ist inzwischen ein Genre: Künstler aus nicht filmischen Künsten machen einen Film über irgendetwas wahnsinnig Politisches, oder über ein Krisengebiet. Und es hat selten richtig überzeugt.
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Wer sich jetzt ärgert, dass ich »Flüchtling« schreibe, dem möchte ich sagen: »Geflüchtete« ist ein dummes Wort für alle diese Menschen. Denn nicht alle von ihnen sind geflüchtet. Manche wurden vertrieben. Ein viel besseres Wort, aber mit dem falschen politischen Zungenschlag. Manche sind immer noch auf der Flucht, also eher »Flüchtende«, als geflüchtet. Vor allem aber: »Flüchtling« bezeichnet keinen Zustand. Das Wort meint einen Rechtsstatus nach der UN-Flüchtlingskonvention. Und auf Englisch kann man »geflüchtet« eh nicht sagen.
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Direkt nach dem Film lief noch ein Dokumentarfilm, This is Congo, und das war ein weiteres verräterisches Ereignis, diesmal allerdings verräterisch für das bourgeoise Kulturpublikum bei so einem Festival und für viele Kritikerkollegen: Denn während zum Kunst-Hipster Ai Weiwei die Festivalbesucher in Scharen pilgern, das Kino pickepackevoll ist, kommen zu einem Dokumentarfilm über den Kongo, der nicht von einem Star des Kulturbetriebs gemacht wurde nur 100 bis 150 Leute. Man kann jetzt wie Nil Kural sagen, das sei »vom Festival schlecht programmiert«. Ich fand es eher eine großartige Zusammenstellung, weil sich hier einmal mehr – wie Schrader und Friedkin – zwei Filme gegenseitig kommentieren.
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Daniel McCabes Dokumentarfilm ist ganz das Gegenteil von Human Flow. Ein Film, der tief reingeht, nicht an der Oberfläche bleibt, nicht moralisiert, nicht Messages formuliert: wir in Europa. Dieser Film erzählt vom Kongo, nicht von »Europa und dem Kongo«. Dieser Film zeigt auch den Dreck, die Hässlichkeit der Verhältnisse, nicht so lackierte Bilder, an denen alles abperlt. Der Film ist nahe dran, »embedded« im besten Sinn.
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»Im Congo geboren zu sein ist das Paradies – wenn es nach Gott ginge. Denn der Congo hat alles... Im Congo geboren zu sein, ist die Hölle, weil die Menschen Krieg machen.« Es spricht: Mamadou, Colonel der Nationalen Armee des Congo. Nach dem Krieg will er ein Stück Land bearbeiten. Erst einmal sehen wir aus erstaunlicher Nähe und mit kracherner Lautstärke Stalinorgeln ihre Salven abschießen, Flüchtlingskinder apathisch Deckung suchend. Dann ein Vulkanausbruch – es sind
mitunter super-schöne Bilder, die This is Congo zeigt.
Dann spricht »Kasongo«, ein Fake-Name für einen hohen Offizier, der anonym bleiben möchte. Er wird zum Historiker und Analytiker des immerwährenden Konflikts im Kongo, vor allem des jüngsten kongolesischen Bürgerkriegs, den der Film aus mehreren Perspektiven beschreiben will. Allerdings bleibt der Film den Rebellen ferner, als den Regierungstruppen.
Kasongo beschreibt seine Offizierskollegen mit
»no patriotic sense, desorganized, poorly paid«, er erinnert an Präsident Kabilas Wahl 2001. 50 »armed groups« gebe es, über »400 tribes«.
Der Feind ist »M 23« eine Offiziersrebellion. »Ruanda and Uganda are backing M 23«. Auch deren »acting leader« Makunga kommt zu Wort, so wie Bewohner eines Flüchtlingscamps mit 60.000 Menschen. Einer führt seit Jahren eine Nähmaschine mit sich – sein wichtigstes Gut, das eine ganze Familie ernährt.
In 2, 3 historischen Abschnitten
erzählt Kasongo im Lauf des Films, dass der Kongo immer ein Brennpunkt war, wie die Araber aus Zanzibar Sklaven fingen, was die Belgier trieben. Er erinnert an die Kongo-Krise, an Lumumba und Mobuto. »Everything what is happening has been done before.«
Der Kongo ist so reich. Er lieferte den USA das Uran für Hiroshima
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Zur entscheidenden Story unter mehreren wird die des Colonel Mamadou. Einmal wird seine Familie gezeigt: Wohlstand und neureiches Establishment in Afrika. Aber so können dort Kinder eben auch aufwachsen. Immer wieder wird Mamadou interviewt: Ein kluger, junger Mann, ein seltenes Beispiel für kongolesischen Patriotismus, ein Idealist, der in seiner Begeisterung und mit seinem ständigen breiten Grinsen manchmal wirkt, wie ein Sektenanhänger, zugleich ein harter Anführer, aber auch
mutig, oft in der vorderen Linie. Das zeigt der Film, der erstaunliche, selten zu sehende, und faszinierende Bilder des Krieges liefert. Keine gottgleichen Vogelperspektiven, sondern Schützengraben- und Zielfernrohreinstellungen, ohne Überblick, mit mehreren Kameras gefilmt, Krieg von unten und von vorne, laut, chaotisch, unsicher...
Mamadou siegt in seinem Feldzug gegen die M 23 in der Gegend von Goma, im Osten des Landes. Die Tage danach zeigen die Begeisterung der
Bevölkerung für Mamadou, sein Charisma, sie zeigen seine neidischen Vorgesetzten, die die Leistung des Colonels ständig zu relativieren suchen.
Kurz darauf dann stirbt Mamadou, als Opfer eines Mordanschlags, der offenbar aus den eigenen Truppen heraus verübt wurde.
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Noch einmal Kasongo: »He was brave, special, engaged, so popular, because he was a couragous leader in the fight. But he wanted to be a star. this was his only weakness. in fact it was a big weakness.«
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Während das Das Kongo Tribunal Milo Raus gewissermaßen eine Außenansicht liefert, bietet This is Congo eine Innenansicht bis zum Embedded-sein – aber ohne einseitige Parteinamen. Daniel McCabe zeigt einen Kongo, in dem es zwar Einmischung aus dem Ausland gibt, in dem aber »der Westen« und »der Kolonialismus« keineswegs an allem alleine schuld sind, schon gar nicht nach Ansicht der Kongolesen. Er zeigt einen Kongo, der der Renaissance mit ihren Condottiere ähnelt. »Aut Cesar, aut nihil.«
(to be continued)