03.09.2017
74. Filmfestspiele von Venedig 2017

The Reds and the Jews are behind it...

The Shape of Water
Der bis auf Weiteres bezaubernste Wettbewerbsbeitrag – The Shape of Water
(Foto: Twentieth (20th) Century Fox of Germany GmbH)

Die zweite Traumfabrik Amerikas: Amelie trifft »Die Schöne und das Biest« im Kalten Krieg, das klassische Fernsehzeitalter und das Paranoia-Kino – Notizen aus Venedig, Folge 6

Von Rüdiger Suchsland

»Decency? Decency is for export. We sell it, because we don:t need it. Now get some real decency, and unfuck this mess!«
Ein US-General in »The Shape of Water«

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Heute riecht es nach Kana­li­sa­tion im Sala Grande und im ganzen alten Festi­val­ge­bäude. In der Nacht zum Freitag gab es ein zweis­tün­diges, überaus heftiges Gewitter und es hat geregnet wie aus Eimern. Als ich am Morgen dann bei Niesel­regen zum Palazzo fuhr, um bereits um 8 Uhr mein erstes Radio-Gespräch des Tages zu führen, begrüßte mich Eleonora, seit Jahren die groß­ar­tige Produ­cerin der RAI mit dem schönen Satz »The shit is coming up« und einem entspre­chenden Gesicht dazu. Während ich mit der Live-Schaltung beschäf­tigt war, waren sie und einer »ihr« Techniker derweil mit dem Fön zugange, um die elek­tri­schen Anschlüsse zu trocknen.
Auch bei der Pres­se­vor­füh­rung von Andrew Haighs Lean on Pete, die ein paar Minuten später im »Darsenna« begann, tropfte es regel­mäßig auf meine rechte Schulter und bestimmt noch ein paar andere Stellen im Saal – unglaub­lich eigent­lich, denn dieser Haupt-Saal des Festivals war ja erst vor ein paar Jahren gene­ral­re­no­viert worden.

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Die Vorfüh­rung war für einen Morgen erstaun­lich leer. Lean on Pete ist der erste US-Film des Briten Andrew Haigh und der Typ Film, der ein dreckiges, hoff­nungs­loses Amerika zeigt, um dann doch in Hoffnung zu münden, so plot-driven, dass man es nicht aushalten mag. Außerdem eigent­lich zwei bis drei Filme in einem: Charlie ist 16, lebt mit allein­er­zie­hendem Prolo-Vater bei Portland. Der Papa hat nur Ratschläge über Stripper und Bedi­e­nungen, ansonsten gilt: Joggen und losen. Er hat mal ganz gut Football gespielt, aber damit ist es vorbei.
Durch Zufall lernt Charlie dann einen älteren Mann kennen, der sein Geld als Pfer­de­be­sitzer auf Provinz­rennen verdient. Steve Buscemi spielt ihn, der Charlie Arbeit, Geld und Sinn gibt, und für ihn ein alters­weiser netter Ratgeber wird, auch ein zweiter Vater: »Wo sind Deine Ess-Manieren?« sagt er ihm, aber auch »Dont run, walk«. Bald fasst Charlie besondere Zuneigung zu dem Pferd Lean on Pete und so entwi­ckelt sich ein das-Pferd-als-bester-Freund-des-Menschen-Drama.
Irgend­wann stirbt Charlies Vater, und als dann noch »Lean on Pete« zum Pfer­de­metzger soll, reißt Charlie verzwei­felt mit dem Pferd aus.

Nun wird der Film zu einem Drama der Heimat­lo­sig­keit mit Western-Anleihen, und Charlie zum Drifter. Eine Vier­tel­stunde zeigt der Film ihn vor allem in der Wüste, wie er mit dem Pferd redet. Dann kommt es zu einem Unglück, und »Lean on Pete« stirbt.
Charlie geht weiter, unter dem Radar der schwachen Sozi­al­behörden, auf der Suche nach seiner Tante. So ist dies auch ein Film über die Todes­sehn­sucht im Herzen der Fron­tier­my­then. Charlie geht in bewohnte Häuser, Obdach­lo­sen­küchen, findet Jobs, wird beklaut, wehrt sich, und landet irgend­wann in Laramie, Wyoming. »Freedom is just another word for nothing left to lose.«
Lean on Pete zeigt ein kaputtes Amerika, eines des White Trash, ohne Rassismus (auch ohne Haut­farben) und andere innere Konflikte. Die Engländer in Amerika, entdecken – wie Wenders und Schlön­dorff das Deutsche –, auch nur eine Variante des Briti­schen in Amerika, in diesem Fall des Sozi­al­dramas, wie zuletzt Andrea Arnold. Kein schlechter Film, aber ein Wett­be­werbs­film ist das für mich nicht.
Doch dann, natürlich, findet er auf wunder­same Weise doch noch die Tante und das ganze Leben ist wieder in Ordnung. Er wird in die Schule gehen, seine Alpträume verlieren, und nicht verwahr­losen, und er wird, wie er der Tante sagt, wieder Football spielen.

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Einen Tag vorher hätte der Regen viel besser gepasst. Da lief The Shape of Water vom Mexikaner Guillermo Del Toro am Morgen – der bis auf Weiteres bezau­berndste Wett­be­werbs­bei­trag, in dem es auch ständig regnet. Auch Del Toro ist einer, der wie Friedkin und Schrader die »andere Seite« sucht. Diese ist im Kino immer auch die der Phantasie und der Bilder­kraft, zumal bei katho­li­schen Regis­seuren wie es Del Toro ist.

Mit wunder­barem, sehr origi­nellem Produc­tion-Design und nost­al­gi­schen Bildern, in den Grün-, Gelb- und Brauntöne domi­nieren, erzählt The Shape of Water eine märchen­hafte Geschichte, in der Eliza (Sally Hawkins) gewis­ser­maßen eine ameri­ka­ni­sche Cousine von Jeuets Amélie, in einem imaginären Früh-Sechziger-Jahre Baltimore als Putzfrau in einem Rüstungs­be­trieb arbeitet. Eliza ist auch noch stumm und da sie direkt über einem Kino wohnt – dort läuft gerade anspie­lungs­reich der Kostüm­schinken The Story of Ruth, was den Film exakt auf das Jahr 1960 datiert – so besteht ihr Leben vor allem aus dem Schwärmen für diverse Fern­seh­stars. Diese Helden aus der Frühzeit des Fern­se­hens kenne ich leider zu wenig, um Bezüge herstellen zu können. Aber die Botschaft ist klar: Es geht um eine Unschuld, die in den nächsten Jahren zerbre­chen wird, es geht auch um eine Gegenwelt zur Vorhan­denen, die diese zweite Traum­fa­brik Amerikas seit den Fünf­zi­gern bis weit in die 80er, frühen 90er Jahre hinein reprä­sen­tierte, bevor das globa­li­sierte Kommerz­fern­sehen diese fest gefügte (nicht geschlos­sene) auf ihre subver­sive Art heile Welt zerbre­chen ließ. Diese Welt, die auch in George Clooney Subur­bicon (siehe unten) eine wichtige Rolle spielt, war nach innen durch­lässig, sie war offen für den Zeitgeist, und ihr lagen bei aller Zerstreu­ungs­ab­sicht aufklä­re­ri­sche Grund­ab­sichten zugrunde, es war die Schule der Gesell­schaft.

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Eines Tages entdeckt Eliza in ihrer Firma ein Wesen aus einer anderen Welt, eine Mischung aus Mensch und Fisch, die bis zum Ende namenlos bleibt. Es wird in Ketten gehalten und brutal miss­han­delt, Wissen­schaftler wollen es mit plumpen Methoden erfor­schen, die Militärs am liebsten töten.
Eliza dagegen ist vom ersten Augen­blick an faszi­niert, sie freundet sich mit dem Wesen an, was ihr durch ihre Fähigkeit zur Zeichen­sprache offenbar besonders leicht fällt. Außerdem hilft die Musik. Die scheinbar unschein­bare Eliza freundet sich mit diesem Wesen an, von dem sie sich verstanden fühlt, und als »normal« wahr­ge­nommen.
Ihr Gegen­spieler wird bald der vom Militär abge­stellte, ihm unter­stellte Sicher­heits­chef Strick­land (Michael Shannon einmal mehr in einer für ihn gemachten Rolle): »I do not feel. I deliver.« Er foltert das gefangene Wesen, worauf ihm dieses einmal zwei Finger abbeißt. Sein Kommentar: »But I still got my thumb, my trigger and my pussy­finger.«
Strick­land lebt in den Suburbs eine Muster­exis­tenz des weißen American Dream: Rassist, Reak­ti­onär, Sadist voller unter­drückter böser Triebe und Traumata.
Kaum besser sein Komman­deur, ein Fünf-Sterne-General, dem das Drehbuch die schönsten Sätze schenkt: »You see the stars on my shoulder? Count them. They are five. You know, what those five stars mean? They mean I can do, whatever I want.«

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So entfaltet sich eine viel­schich­tige Romanze, eine Aben­teu­er­fan­tasy-Geschichte für Erwach­sene, die zugleich von Paranoia, in der sowje­ti­sche Spione, ein repres­sives US-Suburbia und die Faszi­na­tion für das alte Hollywood-Kino die Haupt­rolle spielen – »Die Schöne und das Biest im Kalten Krieg«. Das Ende ist offen, poetisch, ein Märchen ist dies auf jeden Fall.
Ganz klar aber auch eine Hommage ans Kino und ans Fernsehen. Ein Film voller Klischees, aber auch das bewusste Spiel mit ihnen, eine Feier des Kinos, dieser Regisseur liebt das Kino mit seinen Klischees, sein neuer Film gefällt vor vor allem durch seine Lust am Geschich­ten­er­zählen und an einem Kino der Bilder – und es ist dabei auch Kino, dem es gelingt, en passent vom Klima­wandel und der Ökologie zu erzählen, so viel klüger und subtiler, als etwa Alexander Payne.

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In diesem Jahr in Venedig treffe ich in der gleichen Reihe, in der ich im »Darsenna« gern sitze, ein paar Italiener, die auch immer wieder in Cannes (wo ich richtige Lieb­lings­plätze habe) regel­mäßig neben mir sitzen – es gibt unter uns offenbar so etwas wie einen gemein­samen Platz­ge­schmack, einen instink­tiven Hang zu bestimmten Plätzen im Kino.

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Klare Paral­lelen zu Del Toro und leichte Paral­lelen zu Payne sind in »Subur­bicon« zu entdecken, dem neuen Film von George Clooney als Regisseur, dessen Drehbuch die Coen-Brüder schrieben, dessen schwarzen, brutalen und brutal-abgrün­digen Komödien dieser Film noch mehr ähnelt, als Clooneys bishe­rigen Regie-Arbeiten.
Auch hier 50er Jahre-Setting; alles ganz klar auf 1959 datiert, also wiederum auf das vorletzte Jahr der Eisenhower-Ära, als das »ameri­ka­ni­sche Jahr­hun­dert« bereits frag­würdig und die ameri­ka­ni­schen Träume brüchig wurden.

Auch hier eine ähnliche Rolle des (Schwarz­weiß-)Fern­se­hens mit seiner Funktion als welt­ord­nende und welt­glie­dernde, auch beru­hi­gende, stabi­li­sie­rende und damit quasi religiöse Macht.
»Subur­bicon« ist irgendwo in Kali­for­nien ange­sie­delt, eine fiktive ideal­ty­pi­sche Vorstadt­sied­lung, die dem »Leisu­re­land« in Paynes Down­si­zing so ähnlich seht, wie dem Suburbia in der Truman Show: Ideal­ty­pi­sches 50er-Jahre Leben. Dazu gehört auch die white community. Als eine neue Familie schwarze Hautfarbe hat, zeigt Subur­bicon sein häss­li­ches Gesicht: »We don‘t want them here.« Wird gerufen, und dann machen Spießer-Faschos mit Crew Cut vor dem Haus hass­erfüllte Dauer­ran­dale.
Es ist auch sonst eine wahre Horror-Welt. Im Radio boomen die letzten großen Radio­shows in denen Gothic Tales über »Hounted Houses« und Seri­en­mörder im Zentrum stehen, und draußen sieht es nicht besser aus.

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Erzählt werden aus doppelter Kinder­per­spek­tive ein paar Tage im Leben von Nicky und Noah. Nicky lebt mit Vater Gardner (Matt Damon), seiner quer­schnitt­gelähmten Mutter Rose (Julianne Moore) und deren Zwil­lings­schwester Maggie (wieder Moore) in Subur­bicon, Noah ist der neu hinzu­ge­zo­gene schwarze Nach­bars­junge. Eines Nachts wird Nicky geweckt, zwei fremde Männer sind ins Haus einge­drungen, haben die Erwach­senen als Geiseln genommen. Alle werden gefesselt und betäubt, am nächsten Morgen ist die Mutter tot, und das Paradies der Kindheit endgültig zerstört. Schnell und überaus gradlinig entwi­ckelt sich die Handlung weiter: Nickys Vater beginnt bald nach dem Überfall wieder mit der Büro­ar­beit. Dann kommt ein Anruf der Polizei: Zwei Verdäch­tige sind gefasst worden, es soll eine Zeugen-Gegenü­ber­stel­lung statt­finden. Maggie bringt Nicky mit und darum sieht dieser, was er nie sehen sollte: Die Verdäch­tigen sind tatsäch­lich die Täter, aber Vater und Tante wollen sie nicht iden­ti­fi­zieren. Der Junge ist erschüt­tert. Stündlich wächst sein Miss­trauen gegen Vater und Tante, nicht erst, als die Tante zur hexen­haften bösen Stief­mutter mutiert, als er sieht, wie der Vater nachts ins Zimmer der Tante schleicht, als er beide einmal im Keller bei Sado-Maso-Sexspiel­chen mit dem Tisch­ten­nis­schläger erwischt – Clooney erzählt hier auch eine radi­ka­li­sierte Form des Erwach­sen­wer­dens, der Eman­zi­pa­tion von den Eltern. Der Vater spürt die Distan­zie­rung, zugleich hat er offen­kundig etwas zu verbergen. Der Sohn soll auf eine Mili­täraka­demie, »um Disziplin zu lernen«.

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Es ist die Perver­sion des American Dream,um die es Clooney geht, die zeit­genös­si­sche, die aber in seinem Blick eine histo­ri­sche Tiefen­di­men­sion bekommt. Auch Amerika hat seinen Keller und seine Leichen darin. Die Vater­figur wird in diesem Film ein für alle mal beseitigt – nicht nur, weil der Vater kriminell ist, sondern auch, weil er ein Vollidiot ist.
Es ist bald klar, dass Vater und Tante profes­sio­nelle Killer enga­gierten, um an die Versi­che­rungs­po­lice zu kommen, und es ist bald ebenso klar, dass sie dabei so dilet­tan­tisch agierten, dass das Verbre­chen auffliegen wird. Offen ist nur, wie schnell und wie viele Menschen vorher noch sterben werden. Der Inves­ti­gator der Versi­che­rung taucht auf, ein profes­sio­neller Skeptiker, der Koin­zi­denz nicht glauben will: »That happens in the opera a lot, but in real life its quite rare.«

Clooney nutzt die Mittel des Paranoia-Films um über »Coin­ci­dences« und Wahr­schein­lich­keiten zu reflek­tieren. Die Paranoia ist anders, als bei Schrader. Denn Schrader glaubt an Auto­ri­täten und seien es die Gottes, und sein Film »First Reformed« ist darum ein auto­ri­tärer. »Subur­bicon« ist anti­au­to­ritär und anar­chis­tisch, am Ende sogar abgründig. Denn die 50er Jahre dieses Films wirken vor dem Hinter­grund von Char­lot­tes­ville überaus zeitgemäß. Alles was Nicky passiert, passiert auf andere Weise auch Noah – nur dass hier seine Eltern auch Opfer sind. Der Horror in Nickys Eltern­haus lenkt nur von der Lynch­stim­mung des Mobs auf der Straße vor Noahs Eltern­haus ab – dies sind genau­ge­nommen die weitaus empö­ren­deren Vorfälle. Mit diesem Janus­ant­litz der Handlung spielt der Film.
Im Gegensatz zu Noah ist für Nicky der Alptraum irgend­wann zuende. Im letzten Bild spielen Noah und Nicky Baseball – über den Garten­zaun hinweg.

(to be continued)