74. Filmfestspiele von Venedig 2017
»It's all an illusion« |
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Immerhin künstlerisch konsequent: Foxtrot | ||
(Foto: NFP/Filmwelt) |
»Artists sense danger early. like canaries in a coal mine.«
Ryuichi Sakamoto
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Das erste Viertel von Venedig gehört immer den Amerikanern, bevor die dann nach Toronto oder neuerdings sehr oft nach Telluride abreisen. So langsam lichten sich jetzt deren Reihen, und andere Filmnationen rücken in den Vordergrund.
Heute ist generell der Tag der Filme, die ich nicht mögen will, aber trotzdem mag, oder zumindest irgendwie respektiere.
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Das ging schon los, mit La Melodie. Von dem ausgehend, was im Katalog stand und dem unglaublich geschmacklosen Plakat her, hatte ich dem Film nur eine Viertelstunde gegeben: Ein Lehrer, der Aso-Kinder mit Musik zu besseren Menschen macht. OMG!! Das war so ein Beispiel für etwas, in das ich reingehe, weil gerade Zeit ist, aber eigentlich schon mit dem festen Vorsatz, nach einer halben Stunde spätestens zu gehen. Ich saß am Rand, recht weit vorn, in schlechtem
Winkel zur Leinwand. Es waren also allerschlechteste Voraussetzungen für den Film. Denn man lässt sich ja auch gar nicht richtig auf etwas ein, wenn man mit dieser Haltung drinsitzt.
Aber dann eben auch das Beispiel eines Films, der mich trotzdem »gekriegt« hat.
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Dabei geht es übel los. Kad Merad (Baron Noir) spielt einen Musiker, der wieder Willen in einer Schule für Sozialschwache anheuert. Die Kinder aller Hautfarben und Herkünfte fluchen, pöbeln und schimpfen, sind in jeder Hinsicht nervtötend – zugleich aber ganz goldig: Alle hübsch, alle hellwach, allen steht ins Gesicht geschrieben, dass sie »gute Kinder« sind, ein bisschen zu
gut.
»Was soll das? Wozu Musik? Dann können sie Rimsky-Korsakoff im Knast spielen« sagt einer und fasst damit die Vorurteile gut zusammen.
Natürlich kommt es anders: Die Kinder können sich nicht konzentrieren, können auch nicht gehorchen. Aber die Musik weckt ungeahnte Kräfte. Der Begabteste ist ein kleiner dicker schwarzer Junge. Arnold, dem man es am wenigsten zutraut.
Fragen werden aufgeworfen: Wie wichtig Gleichheit ist, dass Musik Team ist, nicht Individuum. Wir fragen uns:
ist die Kunst wichtiger, oder die Kinder?
Das ist inhaltistisch, formal mainstream, ein nicht perfekt erzählter Feelgood-Film, der aber nicht moralisiert, sondern zeigt. Man kann ihn sich gut ansehen, und darum blieb ich im Kino.
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Dieter Kosslick und mehrere andere Berlinale-Mitarbeiter interessierten sich am Samstag besonders für Foxtrot von Samuel Maoz. Seinerzeit hatte die Berlinale dessen Lebanon abgelehnt, genauso wie Cannes, was eine sehr richtige Entscheidung war, die auch nicht dadurch falsch wurde, dass
der Film dann in Venedig den Goldenen Löwen gewann.
Das Trauma des Krieges und der eigenen Kriegserfahrungen hält den Regisseur auch diesmal gefangen. Er ist zudem ein Reaktionär, da sollten wir nicht herumreden, wenn auch womöglich einer von Links, aber das würde es ja nur noch schlechter machen.
Foxtrot erzählt in drei Akten von einer Familie, die die Nachricht erhält, der Sohn sei gefallen – tatsächlich handelt es sich um eine Verwechslung. Als die auffliegt, ist die Erleichterung kurz, denn bald darauf stirbt der Sohn bei einem Unfall tatsächlich. Diesen Rahmen nutzt Maoz zu einer Kritik israelischer Männlichkeit, die in vielen kleinen Szenen und Episoden erzählt wird, anhand von Vater und Sohn, Generälen und Soldaten. Alles mündet in das Portrait einer kaputten Familie, und die Verachtung des Regisseurs für den – angeblichen – Ausverkauf der Erinnerung an die Shoa und der jüdischen Tradition an die Pop- und Konsumkultur.
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Der erste Teil, der von der Todesnachricht, den Folgen und ihrer Revision erzählt besticht durch Set-Design: Moderne Kunst, abstrakte Muster der Bodenfließen, die mal wie ein Davidstern, mal wie Quadrate aussehen, Möbel der klassischen Moderne (merke: Das Böse im Film ist oft modern eingerichtet), ein Gemälde in der allerersten Einstellung zeigt schwarze Quadrate so übereinander gelegt, und in sich gedreht, dass es einen horriblen Abgrund ergibt.
Der zweite Teil soll auf dem
Absurdismus des Krieges herumreiten, zeigt das Militär wie einen Außenposten auf einem anderen Planet: Langeweile, die nur durch Musik, Tanz, und ein Kamel unterbrochen sind, das regelmäßig dir Grenze kreuzt.
Es dominiert hier übertriebenes Set-Design: Ein rostiger Container, wie ein Raumschiff in einem Tarkowski-Film, ein total versautes Klo, ekelige Dosennahrung – sie sollen uns den Krieg madig machen.
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Mich stört dieses billige Herumhacken auf dem Krieg, dieses bescheuerte Heranziehen einseitiger Beispiele, in denen ja tatsächlich auch mal Unschuldige an einem Grenzübergang über den Haufen geschossen werden. Als dann der Sohn doch stirbt, tut er es natürlich nicht durch eine Hamas-Granate, oder eine palästinensische Selbstmordattentäterin, sondern durch einen Unfall bei dem der Fahrer dem Kamel ausweichen wollte. Haha.
Zuvor erfahren wir noch: »It’s all an
illusion.« Ein General behauptet: »War is war. In war: shit happens.«
Das kann man alles so machen. Die Frage ist, ob man das so machen sollte. Ob sich das irgendwer ansehen möchte? Der Film ist nicht schön, nicht unterhaltsam, und er ist auch nicht klug. Und wenn es weder das eine, noch das andere ist, noch das Dritte, warum dann überhaupt einen solchen Film machen? Mit deutschem Fördergeld wurde »Foxtrott« aber üppig finanziert – offenbar waren die Kommissionen in diesem Fall überzeugt.
Ein künstlerisch konsequenter Film mit vielen Stärken, politisch aber ein erzkonservativer letztlich auch antiisraelischer Film aus Israel. Ich kann nicht sagen, dass ich ihn irgendwie mag, eigentlich stündlich weniger, aber er ist schon qualitativ gut – immerhin weckt er starken Widerstand.
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La villa vom Franzosen Robert Guediguian, gleichfalls im Wettbewerb, ist dagegen eine kleine, hoffnungsvolle Familiengeschichte über das Altern und den Umgang mit dem Tod, um das Französische. Am Anfang bekommt der alte Vater einen Schlaganfall. Die drei Geschwister treffen sich nach Jahren im Elternhaus am Meer irgendwo in einer Bucht der Cote d’Azur, während das Militär
Terroristen sucht. Die Geschwister finden dafür drei junge Flüchtlingskinder und nehmen sie auf – Bilder, die den Zeitgeist einfangen, aber auch Bilder der Hoffnung und Solidarität in Krisenzeiten.
Ein Rückblick nutzt einen wunderbaren alten Film, optische Mittel der 70er. Bob Dylan: »I want you« – tatsächlich sind das Ausschnitte erst von 1985: Ki Lo Sa, Guediguians zweiter
Spielfilm mit den gleichen Darstellern in jung.
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Eine wunderschöne Hommage ist Ryuichi Sakamoto: Coda, ein Selbstportrait des berühmten japanischen Komponisten, der seit den Siebzigern unvergessene Film-Soundtracks schrieb: Merry Christmas, Mr. Lawrence, wo er auch selbst spielte, Der letzte Kaiser, Himmel über der Wüste, zuletzt The Revenant. Sakamoto ist ein visueller Musiker, der sich immer auf das Kino bezogen hat – »think cinematically!« sagt er im Film.
Der Einstieg mit Fukushima nervt erstmal, dann aber folgt ein Sakamoto-Konzert in Fukushima und das ist toll. Man sieht ihn dann bei der Arbeit, auf Konzerten, bei Recherchen in Fukushima. Irgendwann wird alles ein bisschen redundant. Aber immer wieder Perlen wie eine Reflexion über Technik. Die Feststellung, dass nicht nur ein Atomkraftwerk, auch ein Klavier ist ein Ding mit äußerst viel Technik und technischem Aufwand. Nur der Tsunami ist für Sakamoto eine »restoration of nature« – kein ungewöhnlicher Film, aber sensibel und kluge Entspannung zwischen den (notwendigen) Katastrophenbildern anderer Filme.
(to be continued)