74. Filmfestspiele von Venedig 2017
Und Gerechtigkeit für alle... |
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Ein Meisterwerk voller Understatement: The Third Murder |
»As a lawyer, I've had to learn that people aren’t just good or just bad. People are many things.«
James Stewart in: Anatomy Of A Murder
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Zwei Schläge mit dem Hammer. Blut spritzt auf das angenehme, menschenfreundlich Gesicht des Täters. Dieses Gesicht scheint vieles auszustrahlen. Im Schatten der Tat und der Flammen der mit Benzin übergossenen, angezündeten Leiche, ist es das Gesicht eines Hammermörders. Wir kennen ihn von Anfang an.
Kennen wir ihn?
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Er heißt Misumi. Vor über drei Jahrzehnten hat Misumi (von Koji Yakusho minimalistisch und rätselhaft gespielt) bereits zwei Menschen getötet. Es waren Kredithaie. Seinerzeit verurteilte man ihn nicht zum Tod. Erst kürzlich kam er frei. Das neue Opfer ist nun sein bisheriger Boss, der Besitzer einer Fleischfabrik. Lächelnd gesteht Misumi den Mord. Er habe Geld aus dem Safe der Firma gestohlen, und dann im, einer Spielhalle verspielt. Als Wiederholungstäter droht Musimi fast sicher die Todesstrafe.
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The Third Murder (»Sandome no sastsujin«) vom japanischen Regisseur Hirokazu Kore-eda ist die Anatomie eines Verbrechens und der Justiz, die mit ihm umgeht. Ein Meisterwerk voller Understatement, mit dem Kore-eda (Nobody Knows, Still Walking, Like Father, Like Son, Unsere kleine Schwester) einmal mehr unter Beweis stellt, warum er seit bald 20 Jahren einer der wichtigsten Regisseure Japans ist.
Die Musik des Films stammt, auch das unterstreicht den künstlerischen Rang dieses
Films, vom Italiener Ludovico Einnaudi, einem der wichtigsten zeitgenössischen Komponisten.
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Drei Anwälte bemühen sich um die Verteidigung des Mannes. Im Zentrum ihrer Arbeit steht vor allem, die Frage: Warum? Es geht hier also nicht um seinen Freispruch, sondern allein darum, die Todesstrafe zu vermeiden und um den Anspruch eines fairen Prozesses für jeden. Es geht dabei auch nicht um die Schuld ihres Mandanten, oder die Frage, was er »wirklich« getan hat. Sondern um eine juristische Strategie, um die Schwere der erwarteten Strafe zu reduzieren. »Legal strategy IS the truth«, heißt es einmal, als einer Zweifel anmeldet.
In den Gesprächen, die die Verteidigung strukturieren sollen, bietet der Angeklagte allerdings fast jedes Mal immer neue Versionen seiner Tat. Er ist ein klassischer »unzuverlässiger Erzähler«. Und je länger das Verfahren dauert, um so mehr wachsen die Zweifel., bis hin zu dem Punkt, dass es noch nicht einmal sicher scheint, dass Misumi nicht vielleicht ein falsches Geständnis abgegeben hat. Ein Hauch von »Rashomon« durchzieht das alles. Jene neue Information verändert das Gesamtgebilde.
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Irgendwann ist klar: Keiner sagt hier die Wahrheit, noch nicht mal seine Wahrheit, sondern immer nur Bruchstücke davon. Weil sie es gar nicht anders können. Und auch die Justiz kann (und will am Ende) keine Aufklärung. Das liegt nur zum Teil an einem grundsätzlichen Misstrauen in die Institutionen des Rechts. Eher geht es um die Einsicht, dass diese Institutionen überfordert wären, würde man ihnen aufbürden, auch noch Wahrheit und Gerechtigkeit herzustellen, und nicht nur
bestenfalls die Ordnung, indem sie eine Lösung findet, die für alle befriedigend ist.
Postfaktisch war das Leben selbst schon immer.
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Im Zentrum steht der leitende Anwalt der Kanzlei. Er heißt Shigemori und stammt aus einer Juristenfamilie, sein Vater war Richter und als solcher auch einer von denen, die Misumi, seinerzeit nicht zum Tod verurteilten. Der Vater (Isao Hashizume) empfindet Schuldgefühle, fühlt sich mitverantwortlich für den dritten Mord: »If I'd given him the death penalty there would have been no more killing.« In der alltäglichen Arbeit vermittelt Shigemori immer wieder zwischen Settsu (Kotaro Yoshida), einem alten und abgebrühten Kollegen und dem jungen, unerfahrenen und idealistischen Novizen (Misushima Shinnosuke).
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Es sind hochspannende und bewegende Debatten, die die drei Männer mehr en passent führen, zum Beispiel über die Frage, wo die Mordlust herkommt? Aus den sozialen Umständen eines Täters? Oder liegt sie in denen Genen? Ist die Gesellschaft schuld am Verbrechen? Misumi selbst sagt bei einem Verhör, es gebe Menschen, die besser noe geboren würden. Das gelte für seine Opfer, aber auch er sei einer davon.
Und so wird aus einer einfachen Prämisse eine ungemein kraftvolle, geschickt und zwingend aufgebaute Meditation über die Mysterien individueller Freiheit, der Unerfaßbarkeit der Wahrheit und der Ungerechtigkeiten des japanischen Justizsystems, in denen die Anklage institutionell bevorteilt wird, in deren Alltag nur die wenigsten an Wahrheit interessiert sind, die meisten eher am Funktionieren des Systems, und dessen lupenreiner Weste. »We are all riding a ship called justice.« sagt der Älteste der drei Anwälte gegen Ende. Aber er meint: Wir, die Verteidiger, beugen uns dem Kompromiß.
Masaharu Fukuyama wirkt als pragmatischer, aber hartnäckiger Wahrheitssucher Shigemori wie ein japanischer James Stewart. Dieser Figur geht es oft ganz idealistisch um Sachlichkeit und ums Prinzip, etwa, wenn er die immer neuen Tatversionen seines Mandanten jedesmal wieder zumindest nach Außen loyal vertritt, mit dem Argument: »Ich bin sein Anwalt. Und als sein Anwalt muss ich ihm glauben und auf das hören, was er von mir verlangt.«
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Was die drei Männer, Misumi, seinen Anwalt Shigemori und das Mordopfer Yamanaka verbindet, sind, dass sie jugendliche Töchter haben. Dies betont die Gemeinsamkeit zwischen ihnen. Misumis Tochter will ihren Vater nicht sehen, wünscht ihm den Tod. Shigemoris Tochter ist dem Vater nach der Scheidung entfremdet.
Mit Sakie, der Tochter des Opfers, verhält es sich anders. Suzu Hirose, die in Kore-edas Unsere kleine Schwester die Titelfigur spielte, wird zum emotionalen Zentrum des Geschehens. Denn sie zeigt in den Gesprächen bald Empathie mit dem Mörder. Der Grund dafür liegt in beider Vorgeschichte: Sakie wurde von ihrem Vater missbraucht, in Misumi fand sich einen tröstenden Freund. »Sakira war seine Ersatz-Tochter.« War der Mord vielleicht eine Tat, um Sakira zu befreien, fühlte Misumi Sakiras unbewußten Mordwunsch?
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Das Wissen um die Komplexität der menschlichen Natur und tiefer Humanismus dominieren alle Filme Kore-edas und so auch diesen.
Kore-edas Film erzeugt und betont immer wieder Parallelen zwischen Anwalt und Täter. Im Besuchsraum des Untersuchungsgefängnisses reflektiert sich Shigemoris Gesicht und sein fragender, rätselnder, an einem aufklärenden Indiz interessierter Ausdruck ein ums andere Mal in der Scheibe und liegt so quasi über dem ausdruckslosen Gesicht Misums. Beide
fließen ineinander.
Leiden an Unbestimmtheit: Wahrheit ist elastisch. Wahrheit ist eine Geschichte, auf die alle Beteiligten sich einigen können, mit der sie leben können, die niemanden betrügt. Misumi sagt einmal: »Im Gefängnis muss ich nicht lügen.« Die Motive Misumis aber bleiben bis zum Ende dunkel und unergründbar.
»He didn’t have a grudge« zieht Shigemoris Vater irgendwann das Motiv infrage, wegen dem er Misimu seinerzeit nicht zum Tode verurteilte: »He*fs an empty vessel.« Dies wiederholt Shigimori im letzten Gespräch gegenüber Misumi: »You are an empty vessel.« Die Antwort des Mannes in der Todeszelle: »What is a vessel?«
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Um eine andere Form der Gerechtigkeit, um Befriedigung mehr als Befriedung nämlich, geht es in Three Billboards Outside Ebbing, Missouri vom Iren Martin McDonagh, der ebenfalls recht hoch im Kurs für einen Hauptpreis steht: Frances McDormand spielt Mildred Hayes, die Mutter eines vergewaltigten und ermordeten Teenager-Mädchens.
Als die Suche nach dem Mörder einschläft, entfaltet sie eine öffentliche Kampagne indem sie am Eingang des konservativen Südstaaten-Städtchens drei große Anzeigentafeln mietet, und den örtlichen Sheriff Willoughby (Woody Harrelson) öffentlich und nicht sehr feinsinnig anklagt: »RAPED WHILST DYING« »AND STILL NO ARRESTS?« »WHY NOT, SHERIFF WILLOUGHBY?« Die bewusste Provokation löst eine Kettenreaktion aus. So entfaltet sich ein ansatzweise satirisches Dorfportrait vom Reißbrett.
Eine Frau, die sich gegen eine ignorante Macho-Welt durchsetzen muss – in seiner Substanz ist dies auch so ein James-Stewart-Film, hier halt Frances McDormand als dessen weibliche Variante: Mrs. Smith will Gerechtigkeit und weiß, dass die nicht immer nur in Washington, sondern auch mal mit Bauernschläue zu erreichen ist.
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Ein guter Film, aber auch ein mir etwas zu gefälliger und mit sich selbst zufriedener Film. Gutgeöltes Unterhaltungskino, also nichts gegen zu sagen. Aber nie so unangenehm, wie er sein müsste. Nie wirklich gritty, dirty. Die Dialoge sind sehr lustig und auch Francs McDormand kann gar nicht anders, als der grundsätzlich verhärmten, in Trauer erstickenden Mutter des Opfers auch kurios-witzige Züge zu geben.
Aber bedenken wir: Spielt dieser Film nicht unseren eigenen Gefühlen zu
sehr in die Hände? Befriedigt er nicht das Gemüt um den Preis unseren Verstand stillzustellen?
Wenn Humanismus ausgesprochen wird, ist das immer gefährlich – Kore-eda weiß das, McDonagh nicht –, und der Satz, dass »wir doch alle Menschen sind«, ist nicht die Wahrheit, sondern die erste Lüge. Denn was ist das denn, ein Mensch?
Was von Three Billboards Outside Ebbing, Missouri bleibt, ist versöhnelndes Gesäusel und das Gefühl, es sei doch alles Mögliche in Ordnung in Amerika. Wir werden sehen. Derart billige Moral relativiert den Blick in den Abgrund des ländlichen Amerika der Rassisten und Schwulenhasser, der Schläger und Säufer und der fetten Frauen an ihrer Seite, ins Trump-Country
(to be continued)