74. Filmfestspiele von Venedig 2017
Ein Oscar für Sienna Miller! |
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Solche Filme kann es in Deutschland nicht geben. Warum eigentlich nicht? | ||
(Foto: Quiver Distribution) |
»I've somehow made a mess out of life and I want my work to cover it up.«
James Toback, in The Private Life of a Modern Woman
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Mit Splitscreen geht es, nicht zum ersten Mal bei Toback, wieder los: Die Eröffnungstitel stehen auf den breiten Schwarzfeldern, auf den zwei bis drei Screens, die sich in ständiger Bewegung befinden, von rechts nach links, von unten nach oben, die auch mal größer werden oder kleiner, sieht man das Gesicht von Sienna Miller, schlafend auf dem Bett, dazu Ausschnitte aus dem berühmtesten Gemälde von Hieronymus Bosch: »Der Garten der Lüste«. Dazu läuft Schostakowitschs 7. Symphonie.
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Aus verschiedene Perspektiven – durch den Splitscreen vergleichzeitigt – bewegt sich die Kamera, wir sind immer noch in den ersten Minuten des Films, durch ein loftähnliches Appartment in New York.
Miller liegt auf dem Bett, es klingelt, sie bekommt Besuch von einem Mann, der offenbar ein Ex-Lover ist. Erst scheint alles friedlich, dann eskaliert die Szene, er zieht eine Pistole, bedroht sie, dann ringen sie um die Waffe, dazwischen immer wieder Bilder mit ihr im
Bett, sie versucht, ihn zu beruhigen, dann im Handgemenge ein Schuß, er ist tot.
Ein Traum? Nein! Sie steht auf, das ist offenbar nach dem Vorfall, über ihrem Bett hängt ein Bild von Brahms, dessen »Deutsches Requiem« wir später hören werden, neben ihrem Bücherregal steht, auch kein Zufall, ein Bild von Dostojewski.
Nach kurzem Zögern verfrachtet sie die Leiche in einem großen Koffer.
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Auf dem Off hören wir ihre Stimme einen Text lesen, der ist literarisch, es könnte etwas von ihr Geschriebenes sein, oder ihr innerer Monolog, ein »stream of consciousness«.
Es klingelt wieder, wieder ein Ex-Lover, diesmal einer, der eine Dissertation über »Murder in Dickens and Dostojeweski« geschrieben hat. Sie streiten sich, sie will ihn loswerden. Dazu Musik von Schostakowitsch, von Bach, dazu die fortwährend bewegte Kamera, die lauert, zittert, atmet.
Den nächsten
Besucher spielt Toback selbst. Es kommt zu einer wunderbaren Passage aus improvisierten, – »invention, not improvisation« korrigiert mich Toback später, als ich ihn danach frage – interviewähnlichen Szenen. Eine Art Fragebogen: »Have you been leading a secret life?«, »What are you writing?«, »Do you feel rage at the core of your being?«, »Did you ever consider comitting suicide?«. Dabei immer wieder Flashbacks, eine großartige One-Woman-Show von Sienna Miller vor
latent hysterischem Hintergrund.
Man fragt sich bei alldem: Wie sehr ist sie in der Rolle? Wie sehr ist sie in ihren Antworten Sienna Miller? Diese unaufgelöste Spannung ist extrem fruchtbar.
Toback kommt dazwischen aber auch umgekehrt zu eigenen Geständnissen: »I've somehow made a mess out of life and I want my work to cover it up.«, The thing, that I pity the most, is that time goes by., »I feel like I just got away with something my whole life«, »I could share some things with you.«
Super super! Es mag Zufall
sein, dass Toback diese Figur spielt, aber es ist im höheren Sinne kein Zufall sondern eiserne Notwendigkeit.
Wer sonst? Der Film wäre ohne ihn schlechter geworden
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Und dazu braucht man vom Werk von James Toback nichts zu wissen. Vielleicht eher von Godards Zwei oder drei Dinge und anderen seiner Filme. Man muss bei diesem Interview immer auch wieder mal an RP Kahls unvergessenen Mädchen am Sonntag denken. Der Film zeigt, wie es weitergehen könnte, wie eine Fortsetzung dieses Films aussehen könnte.
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Sie schafft den Koffer mit der Leiche in ihr Auto, fährt raus in die Wälder wo sie den Koffer in einem See versenken wird. Dazu erklärt ein innerer Monolog in der dritten Person, warum sie keine Mörderin ist, erklärt ihre Notwehr. Es fällt der Satz, wie leicht eine Schuß-Waffe losgeht: »It was as not she had killed him, the gun had.«
Handeln heißt Entscheiden, blitzschnell. Und nicht später bedauern: »Now she was beyond the moment. The dyce had rolled. But this all happened in just five minutes.« Es war ein Lebens-Augenblick, der dauerhafte Konsequenzen für sie hat: »From this moment on she knew, she would follow her most urgent reaction the rest of her life. Every other path would lead to chaos and madness and annihilation.«
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Dann folgen Alec Baldwin als Polizist, ein Columbo-Moment, ein Abendessen mit Mutter und dementem Großvater, im Hintergrund ist Breughels »Triumph des Todes« zu sehen.
The Private Life of a Modern Woman verbindet ganz Klassisches mit Ultramodernität. Ein Film der Fragmente und Vignetten, der nie geschlossen ist, sondern offen und neugierig. Es kann alles passieren. Und es passiert viel.
So ist dies der interessanteste Film im bisherigen
Venedig-Programm. Konsequent und ökonomisch. Keiner anderer Film macht aus seinen Mitteln so viel. Aber Toback weiß, wie es geht. Sienna Miller sollte für diesen Auftritt im Gefolge von Interview und Factory Girl, wo sie ähnliche Figuren spielt.
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Der Mann ist 72, sieht aber aus, wie Mitte 50. Er hat seit 15 Jahren keinen Spielfilm mehr gemacht. Immerhin die Dokumentarfilme Tyson und Seduced and Abandoned, einen im Grunde unglaublich lustigen, aber auch traurigen Film über das Scheitern eines eigenen Filmprojekts: Abgründige Cinema Verité, in der Toback gemeinsam mit Alec Baldwin über den Cannes Markt geht, und versucht irgendwelchen dubiosen Russen und arabischen Scheichs das Projekt zu verkaufen.
Im Q&A nach dem Film erzählt Toback in Blazer mit Goldknöpfen, dass dieser Film in neun Drehtagen entstand, ohne Geld, weil wieder mal ein Geldgeber absprang. Dann geht es um einen Lieblingsautor, Dostojewski, um Schostakowitsch, den »Dostojewski of music«, um das schuldig werden.
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Dies ist vor allem ein Film über Angst, die Angst sich zu verlieren, die das untergründige Thema des Films ist. Die Handlung ist die einer Kurzgeschichte, das philosophische Gewicht das eines Romans – von Dostojewski oder Dickens. Oder Flaubert. Mit anderen Worten: Old-school-existentialismus. Genau so soll es sein.
Solche Filme kann es in Deutschland nicht geben. Warum eigentlich nicht?
(to be continued)