74. Filmfestspiele von Venedig 2017
Im Garten der Lüste |
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Auch hervorragend: Angels Wear White |
»Pessimismus des Kopfes und Optimismus des Willens...«
Antonio Gramsci
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Ein Tagebuch des Künstlers als junger Mann – im Garten der Lüste: Ein Sommer in Frankreich an der Südküste, ein intimer Einblick in die französisch-tunesische Gemeinde – mit einem dreistündigen, facettenreichen Filmepos reist Abdellatif Kechiche zurück in seine eigenen Anfangsjahre als Regisseur, ganz genau ins Jahr 1994. Mit seinem letzten Film, Blau ist eine warme Farbe gewann Kechiche 2013 in Cannes die Goldene Palme, daher sind die Erwartungen hoch. Mektoub, der Titel des neuen Films, bedeutet »Schicksal«. Im Zentrum steht die Frage, was einen Menschen ausmacht, sein Selbst und seine Persönlichkeit. Ist es die Herkunft, die kulturelle und ethnische Identität, oder ist es die Gegenwart, das Ensemble der Erfahrungen, die uns prägen und die in jedem Leben anders sind. Kechiche macht es sich nicht leicht, schlägt sich aber klar auf die Seite des Letzteren. Er erzählt von Amin, einem jungen Filmemacher, der in Paris lebt, und über den Sommer in jene Küstengegend nahe Marseille zurückkehrt, in der er aufwuchs. Er trifft alte Freunde wieder, Familie und begehrenswerte Mädchen. Während er viel Zeit am Strand verbringt, arbeitet er auch an seinem ersten Film. Mektoub ist Kino mit vielen Figuren und Anekdoten – man kann das zu lose und mäandernd finden, aber es ist auch ein Abbild des Lebens, und wer Kechiches flanierenden, abwartenden Stil schätzt, wird auch an Mektoub seine Freude haben.
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»Am Ende hat man das Gefühl durch eine Wurstmaschine gedreht zu sein...« meinte eine Kollegin, eine zweite: »Kechiches schlechtester Film«, eine Dritte: »Meisterwerk«
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Ob das auch für die Jury gilt? Was geht in einer Jurypräsidentin wie Anette Bening vor. Interessiert sie sich für Modethemen wie »male gaze«, über die jetzt alle schreiben, die Kechiche nicht mögen? Immerhin ist sie als Frau von Warren Beatty solch' männlichem Blick öfters aus ausgesetzt. Und warum soll ein Mann eigentlich keinen »male gaze« haben. Frauen haben dann hoffentlich einen »female gaze«. Könnte doch besser sein, als wenn alle ihr Geschlecht und ihre persönlichen
Begierden verleugnen oder unterdrücken. Es gab mal eine Zeit, da kämpfte die ästhetische Linke gegen Repression und für Befreiung. Heute ist sie repressiv, und wirft einem wie Kechiche vor, »Masturbationsphantasien« gedreht zu haben – als ob das so schlimm wäre. Ich möchte mal behaupten, dass das Kino zu einem guten Teil aus solchen Phantasien besteht, und das sind nicht die schlechtesten Filme.
Womit aber noch nicht gesagt ist, dass Kechiche ein richtig guter Film
geglückt ist.
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Jetzt, wo der Wettbewerb seine Zielgerade erreicht, überfliegt man die Titel, wägt ab. Welcher Film ist schon wieder fast vergessen? Welcher wurde mit dem Abstand immer stärker. Obwohl die ersten Tage den Amerikanern gehörten, scheint eher, als sollten The Shape of Water, das Kalter-Krieg-Märchen des Mexikaners Guillermo del Toro am Samstag einen größeren Preis bekommen und Foxtrot vom Israeli Samuel Maoz. Hirokazu Kore-edas The Third Murder aus Japan, über den wir gestern berichteten.
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In den letzten Tagen erscheint auch ein zweiter Asiate besonders stark: Mit Angels Wear White hat die Chinesin Vivianne Qu einen hervorragenden Film über junge Frauen in China gedreht: Alles spielt in einem Badeort, an der »chinesischen Goldküste« von Hainan, wo man sein Geld mit Tourismus Casinos und Nachtleben verdient. Gigantisch groß wacht »Forever Marilyn« über den Strand.
Zwei pubertierende Schulmädchen werden in einem Hotel von einem Mann missbraucht – der zugleich der lokale Polizeichef ist. Im Zentrum steht Mia (Wen Qi) die als Rezeptionistin entscheidende Beobachtungen machte, nun aber unter Druck der Autoritäten kommt, die alles untern Teppich kehren wollen. Qu entfaltet in einem Stil, der an Jia Zhan-ke erinnert, der hier vor zehn Jahren gewann, ein dichtes Netz moralischer und ökonomischer Korruption, ohne das ihr Film je vorhersehbar würde. Was bedeuten Justiz und Gerechtigkeit in einer Welt, in der die Wächter die Verbrecher sind, die Sicherheitsleute die Verunsicherer?
(to be continued)