09.09.2017
74. Filmfestspiele von Venedig 2017

Im Garten der Lüste

Angels wear white
Auch hervorragend: Angels Wear White

Wer gewinnt den Goldenen Löwen? Der Wettbewerb von Venedig vor der Preisverleihung und Filme von Abdellatif Kechiche und Vivianne Qu – Notizen aus Venedig, Folge 11

Von Rüdiger Suchsland

»Pessi­mismus des Kopfes und Opti­mismus des Willens...«
Antonio Gramsci

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Ein Tagebuch des Künstlers als junger Mann – im Garten der Lüste: Ein Sommer in Frank­reich an der Südküste, ein intimer Einblick in die fran­zö­sisch-tune­si­sche Gemeinde – mit einem dreis­tün­digen, facet­ten­rei­chen Filmepos reist Abdel­latif Kechiche zurück in seine eigenen Anfangs­jahre als Regisseur, ganz genau ins Jahr 1994. Mit seinem letzten Film, Blau ist eine warme Farbe gewann Kechiche 2013 in Cannes die Goldene Palme, daher sind die Erwar­tungen hoch. Mektoub, der Titel des neuen Films, bedeutet »Schicksal«. Im Zentrum steht die Frage, was einen Menschen ausmacht, sein Selbst und seine Persön­lich­keit. Ist es die Herkunft, die kultu­relle und ethnische Identität, oder ist es die Gegenwart, das Ensemble der Erfah­rungen, die uns prägen und die in jedem Leben anders sind. Kechiche macht es sich nicht leicht, schlägt sich aber klar auf die Seite des Letzteren. Er erzählt von Amin, einem jungen Filme­ma­cher, der in Paris lebt, und über den Sommer in jene Küsten­ge­gend nahe Marseille zurück­kehrt, in der er aufwuchs. Er trifft alte Freunde wieder, Familie und begeh­rens­werte Mädchen. Während er viel Zeit am Strand verbringt, arbeitet er auch an seinem ersten Film. Mektoub ist Kino mit vielen Figuren und Anekdoten – man kann das zu lose und mäandernd finden, aber es ist auch ein Abbild des Lebens, und wer Kechiches flanie­renden, abwar­tenden Stil schätzt, wird auch an Mektoub seine Freude haben.

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»Am Ende hat man das Gefühl durch eine Wurst­ma­schine gedreht zu sein...« meinte eine Kollegin, eine zweite: »Kechiches schlech­tester Film«, eine Dritte: »Meis­ter­werk«

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Ob das auch für die Jury gilt? Was geht in einer Jury­prä­si­dentin wie Anette Bening vor. Inter­es­siert sie sich für Mode­themen wie »male gaze«, über die jetzt alle schreiben, die Kechiche nicht mögen? Immerhin ist sie als Frau von Warren Beatty solch' männ­li­chem Blick öfters aus ausge­setzt. Und warum soll ein Mann eigent­lich keinen »male gaze« haben. Frauen haben dann hoffent­lich einen »female gaze«. Könnte doch besser sein, als wenn alle ihr Geschlecht und ihre persön­li­chen Begierden verleugnen oder unter­drü­cken. Es gab mal eine Zeit, da kämpfte die ästhe­ti­sche Linke gegen Repres­sion und für Befreiung. Heute ist sie repressiv, und wirft einem wie Kechiche vor, »Mastur­ba­ti­ons­phan­ta­sien« gedreht zu haben – als ob das so schlimm wäre. Ich möchte mal behaupten, dass das Kino zu einem guten Teil aus solchen Phan­ta­sien besteht, und das sind nicht die schlech­testen Filme.
Womit aber noch nicht gesagt ist, dass Kechiche ein richtig guter Film geglückt ist.

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Jetzt, wo der Wett­be­werb seine Ziel­ge­rade erreicht, über­fliegt man die Titel, wägt ab. Welcher Film ist schon wieder fast vergessen? Welcher wurde mit dem Abstand immer stärker. Obwohl die ersten Tage den Ameri­ka­nern gehörten, scheint eher, als sollten The Shape of Water, das Kalter-Krieg-Märchen des Mexi­ka­ners Guillermo del Toro am Samstag einen größeren Preis bekommen und Foxtrot vom Israeli Samuel Maoz. Hirokazu Kore-edas The Third Murder aus Japan, über den wir gestern berich­teten.

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In den letzten Tagen erscheint auch ein zweiter Asiate besonders stark: Mit Angels Wear White hat die Chinesin Vivianne Qu einen hervor­ra­genden Film über junge Frauen in China gedreht: Alles spielt in einem Badeort, an der »chine­si­schen Goldküste« von Hainan, wo man sein Geld mit Tourismus Casinos und Nacht­leben verdient. Gigan­tisch groß wacht »Forever Marilyn« über den Strand.

Zwei puber­tie­rende Schul­mäd­chen werden in einem Hotel von einem Mann miss­braucht – der zugleich der lokale Poli­zei­chef ist. Im Zentrum steht Mia (Wen Qi) die als Rezep­tio­nistin entschei­dende Beob­ach­tungen machte, nun aber unter Druck der Auto­ri­täten kommt, die alles untern Teppich kehren wollen. Qu entfaltet in einem Stil, der an Jia Zhan-ke erinnert, der hier vor zehn Jahren gewann, ein dichtes Netz mora­li­scher und ökono­mi­scher Korrup­tion, ohne das ihr Film je vorher­sehbar würde. Was bedeuten Justiz und Gerech­tig­keit in einer Welt, in der die Wächter die Verbre­cher sind, die Sicher­heits­leute die Verun­si­cherer?

(to be continued)