71. Filmfestspiele Cannes 2018
The art of kissing around |
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Leto ist ganz großes Kino... | ||
(Foto: Weltkino) |
Summer!
Recently I've heard somewhere
That a comet will come soon
And we will all die.
Strophe aus »Sommer« von »Zoopark«
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Es wird der Nachmittag sein, an dem alles anfing: Ein Sonntag am Strand, eine Gruppe Jugendlicher, mit Wein, Wodka, Musik, irgendwann wird nackt gebadet und am Lagerfeuer gesungen, und die zwei Neuen in der Gruppe gehören nun auch dazu. Eines der Lieder heißt »Sommer«, auf Russisch »Leto«...
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Es könnte überall sein; wir aber wissen, wenn wir das sehen, bereits: Es ist bei »Leningrad, in den frühen 80ern«, wie ein Insert erzählte, weit weg vom Sowjetstaat. Ein paar Girls sind gleich zu Beginn durch einen Hinterhof, per versteckter Leiter und durchs Fenster des Männerklos in ein Konzert gekommen, das offenbar sehr begehrt ist, aber nicht illegal, denn ein paar Herren von der Partei sorgen dafür, dass Plakate mit Fanbotschaften und allzu enthusiastisch zur Schau getragene
Emotionen schnell wieder verschwinden. Es spielt »Zoopark«, wir sehen den Frontmann »Mike«, wir sehen Natasha, von der sich schnell herausstellt, dass sie Mikes Freundin ist, wir sehen einen ganzen Haufen Leute, die wir bald besser kennenlernen werden in diesem Film.
Zuerst bei der Strandszene: Weil es UdSSR ist, blickt man anders hin, bemerkt Adidas-Schuhe, westliche Musik, westliche Namen. Der Westen als Vorbild.
Man bemerkt dann gleich, dass die Kamera sehr gut ist, dass sie
sensibel beobachtet, die Blicke der Figuren aufeinander glänzend und präzis auffängt, Beziehungen stiftet, wie ein Teilnehmer ist.
Mike, der Leadsänger von »Zoopark«, wird von allen verehrt, sein Wort ist Gesetz und tatsächlich wird er für die Gruppe der zwei Neuen zum Namensgeber: »Garin and the Hyperboloid«, die erst später »Kino« heißen wird. Ein Gott.
Heute sind die Punk-Rock-Gruppen »Zoopark« und »Kino« Musiklegenden, Anfang der 80er Jahre waren sie der erste Vorschein
einer besseren Zukunft, die unter den Begriffen »Glasnost« und »Perestroijka« bald auch den Westen verzauberte und für die neuen liberalen Seiten der Sowjetkultur einnahm. An diesem Nachmittag fing alles an.
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Leto im Wettbewerb von Cannes erzählt diese Geschichte vom Herbst des sowjetischen Jahrhunderts und von einem frühlingshaften Aufbruch unter den Leningrader Jugendlichen der frühen 80er Jahre. Während die UdSSR gerade in Afghanistan einmarschiert ist, entdeckt ein Dutzend 20-Jähriger westliche New Wave und Punkmusik, von den Stones bis zu Police, von Bowie bis Blondie. Und das System weiß, dass es mit purer Repression nicht weit kommt, es duldet
Popkultur, neuartige Bands und deren Auftritte, solange keine »Dekadenz« droht und politische Linientreue weitgehend garantiert ist (»Soviet musicians must find all that*fs good in humanity«) – inmitten dieses kulturellen Tauwetters platziert der Film seine Figuren. Die Handlung basiert auf einer autobiografischen Vorlage von Natalia Naumenko, dem realen Vorbild für Natasha. Natasha (Irina Stashenbaum) ist intelligent, charmant, sexy. Viktor (Teo Yoo) rätselhaft und zu
allen außer zu Mike (Roman Bilyk) und Natasha abweisend.
Schon am Strand zu Anfang, schon in der Haltung der Kamera, noch vor den ersten Blicken ist klar, dass Natasha und Viktor sich füreinander interessieren. Die Dreiecksliebesgeschichte sorgt neben der Musik für emotionale Dynamik, doch unter dem Glück des Aufbruchs junger Menschen lauern Melancholie und tiefe Verzweiflung.
Die drei Hauptfiguren werden sehr gleichberechtigt behandelt. So kann man im Publikum sich seine
Favoriten heraussuchen. Meiner ist Mike, nicht nur wegen der schönen, trotzdem beiläufigen Sätze, die ihm das Drehbuch gibt – »Lazyness is my best ability – it keeps me out of so many troubles.« oder »You know, that holding hands with each other is the hardest thing of all.« – sondern weil er der Großzügigste ist: Er gibt Namen, Ideen, Songs, Studioverträge, und geht spontan auf die Bühne, um eine missglückte Performance mit seinem Charisma zu retten. Er hilft Viktor,
obwohl der sein Rivale ist, arrangiert sogar noch die Treffen der beiden – und genau deswegen wird sie sich für ihn entscheiden. Zugleich ist Mike eigentlich traurig – ein Melancholiker.
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Regie führt der in Russland verfemte, zur Zeit unter Hausarrest gestellte Kirill Serebrenikov, trotz einiger Vorgängerfilme wie dem bereits auffälligen, wenn auch noch recht schematischen »Student« eine neue Stimme im internationalen Kino, und eher von der Bühne bekannt.
Leto ist ganz großes Kino. Was vor allem begeistert, ist die Inszenierung, die vollkommen ohne
Theaterverweise auskommt: Schwarzweiß, mit Farbsprengseln und Animation, Figuren, die in die Kamera sprechen, und schnell geschnitten, ist alles insgesamt virtuos: Dies ist ein Film voller Romantik, die Romantik der jungen Jahre und die Romantik der analogen Welt. Ein Film, dessen Form wie Figuren und Handlung universal sind und weit über das gewohnte postsowjetische Aufarbeitungskino hinausgehen – eine neue Kinowelle aus Russland, die bisherige Größen des russischen Kinos
wie Andreij Zvyagintsev oder auch Sergeij Loznitsa oder Andreij Konchalowski über Nacht sehr alt aussehen lässt.
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Wenn Russen gut sind, sind sie richtig gut. Ich könnte noch vieles über diesen Film erzählen, der sofort zum Liebling der Cannes-Besucher geworden ist, und das auch bis zum Ende bleiben dürfte. Das einzige Problem des Films ist die Nostalgie, die Tatsache, dass die Geschichte in der Vergangenheit angesiedelt ist.
Die im Kino der Gegenwart grassierende anti-utopische postsowjetische Ideologie eines notwendigen Scheiterns im Privaten wie Öffentlichen mit ihrem
misanthropischen, lieblosen und ästhetisch hässlichen Menschenbild wird durch »Leto« dementiert: Kirill Serebrenikov zeigt schöne Menschen, die schöne Dinge machen, er zeigt Freiheit, Musik und Liebe als Quelle von Glück und einen großzügigen Umgang der Menschen untereinander.
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Auch der erste französische Wettbewerbsbeitrag ist eine Zeitreise: Christophe Honoré erzählt in »Plaire, Aimer et Courir Vite« vom schnellen Leben im Schatten von AIDS Anfang der 90er. Auch hier ist die Musik von Anfang an eine der großen Stärken des Films. Die schwule Liebesgeschichte ist insofern autobiografisch gefärbt, als auch der offen schwule Honoré wie die Hauptfigur Arthur (Vincent Lacoste) aus der Bretagne stammt, in Rennes studierte, Anfang der 90er mit Anfang 20 als angehender Filmemacher nach Paris ging, und viele seiner Freunde an AIDS starben. »I wanted to use fiction to bring back to life the student I was at the time and revive the figure of the writer that I would have dreamed of meeting, which never happened.« (Honoré im Presseheft) – diese Hommage an die Lebenden und an die Toten der 80er (man sieht die Gräber von Koltès, Truffaut und anderen Größen) lebt besonders von ausgezeichneten Darstellerleistungen. Offen und mäandernd erzählt, vielleicht zu lang, mit manchmal für meinen Geschmack zu wenig beiläufig eingesetzten Referenzen (ein »Querelle«-Poster im Wohnzimmer), ist dies vor allem eine berührende und mehrdimensionale Geschichte über Freundschaften, über Facetten der Liebe und der Lebensformen, über das Leben selbst.
(to be continued)