71. Filmfestspiele Cannes 2018
»Berlin is boring« |
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Wieder ein Western aus Deutschland: In My Room | ||
(Foto: Pandora) |
Unfassbar, dass dieser Film von der Berlinale durch alle Instanzen abgelehnt wurde, bis hin zum Forum. Darüber wurde bereits im Februar geredet, ohne dass einer den Film gesehen hätte. Ursache dafür war offenbar der Brief der über 80 Regisseure in Sachen Berlinale-Direktion. An Köhler, der immerhin mit seinem Film zuvor im Wettbewerb den Bären für die beste Regie bekommen hatte, wurde ein Exempel statuiert, zu dem man sich bei Christian Petzold nicht traute. Im Effekt hat die Berlinale dem Regisseur mit dieser Entscheidung aber genutzt. Denn wer will schon im Berlinale-Wettbewerb laufen, wenn er in Cannes sein kann?
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Es beginnt unerwartet und schräg: Wir sehen Politikerinterviews, bei der SPD mit Oppermann und Lauterbach und bei der Linken mit Wagenknecht, genau gesagt sehen wir Interviews, die nicht stattfinden, weil der Kameramann offenbar An- und Austaste durcheinandergebracht hat.
Der Kameramann ist Armin (Hans Löw), die Hauptfigur dieses Films. Held möchte man ihn nicht nennen, doch dazu ein andermal.
Armin hat kein Geld, geht in einen Technoclub, hat offenbar eine
Hygieneobsession, an der ein One-Night-Stand fehlschlägt.
Dann fährt er zu seiner Familie. Denn seine Großmutter liegt im Sterben. Bei ihr, die kaum noch ansprechbar ist, kann er für Augenblicke wieder Kind sein und zärtlich. Ansonsten ist er der bockige Sohn, der arrogant und konservativ, wie Kinder heute sind, dem Vater die Trennung von der Mutter vorhält, die neue Liebe, der Familienstrukturen aufrechterhalten will, obwohl er selbst an ihnen aktiv gar nicht mehr teilnimmt. Und
apodiktisch ist: Dass er mal Kinder habe, »das wird nicht passieren.«
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In My Room ist ein überraschend zugänglicher Film, weniger sperrig, auch weniger »arty«, als Köhlers frühere Filme. Dazu gehört auch, dass er uns zunächst auf eine völlig falsche Fährte führt. Man erwartet das Portait eines heimkehrenden Taugenichts, dem es allenfalls gerade noch gelingt, bei der Familie in der Provinz den Schein des Erfolgreichen aufrecht zu erhalten.
Und er ist
witzig: Im Portrait des Scheiterns eines Schluffis, in der Komik der Situationen.
Trotzdem gibt es einen kurzen Moment, wo man sich fragt, ob das jetzt alles ist? Will Ulrich Köhler wie in Bungalow und Montag kommen die Fenster einmal mehr das Portrait eines jungen Mannes zeichnen, der von seinen Eltern und
deren westdeutschem Wohlstandsmief nicht loskommt? Soll das uns zeigen, dass der junge Mann unglücklich ist, sollen wir seine Langeweile und Indifferenz nachempfinden? Unausgesprochene Sehnsüchte nach dem ganz Anderen?
Aber es war keineswegs alles.
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Denn gerade eben noch bewegte sich Armin als zielloser Drifter und Versager durch die enge Welt einer hessischen Kleinstadt, schläft nach zielloser Fahrerei in seinem Auto ein, da ändern sich die Dinge. Als er aufwacht und verschlafen in einer Tankstelle Zigaretten holt, ist diese zwar offen. Aber das Personal bleibt ebenso unsichtbar, wie die Kunden. Noch bleibt Armin brav, legt in der Tanke das Geld auf den Tisch. Dann, nachdem er umgefallene Motorräder gesehen hat und ein Schiff,
das ziellos auf einen Fluss treibt, wird ihm klar: Seine Mitmenschen sind offenbar verschwunden. 28 Tage später und I Am Legend lassen grüßen. Aber auch eine unheimliche Begegnung der deutschen Art.
Armin findet sich in den Verhältnissen recht schnell zurecht. Schon nach dem ersten Tag wäscht er sich
mit Mineralwasser. Dann verlässt er das Elternhaus, legt allerdings vor dem Verlassen Feuer, wohl auch, um der Großmutter eine Feuerbestattung zu verschaffen – bemerkenswert ist diese Selbstverständlichkeit, mit der er das Haus der Familie und seiner Kindheit verbrennt… Wir erkennen da: Er hat nicht viel zu verlieren, sie kommt ihm in gewissem Sinn sogar entgegen, dieses Losgelöst-sein. In My Room ist eine Robinsonade. Am Anfang feiert der Film das, was Armin liebt: Autofahren und Tiere befreien. Wir sehen ihn in Höchstgeschwindigkeit im Polizei-Maserati durch ein Dorf brettern – aus der Fahrerperspektive gefilmt. Wir sehen: Allein sein kann gut sein, für eine Weile; befreit sein von Zivilisation. Allerdings gibt es Technik, Autos, und der Strom kommt bald aus dem Generator. Da hat er sich bereits in einem
Bauernhof eingerichtet – Tiere versorgen ihn mit dem Wesentlichen, es gibt Bücher und die Stadt ist nahe.
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Was würde ich machen, wenn ich in diese Lage käme? Nach Paris fahren, und in den Louvre gehen vermutlich; oder nach Rom fahren. Jedenfalls bestimmt nicht gleich aufs Land ziehen. Wir lernen auch, dass Bücher auf Papier toll sind, und der e-Reader erstmal nicht mehr funktioniert.
Eine tolle Phantasie und eine philosophische Parabel.
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Dann taucht aus dem Nichts eine Frau auf. Da hat er Glück gehabt, dass sie auch noch etwa gleichalt ist und ganz gut aussieht. Sie fragen sich vor der Kamera nicht nach ihrem Namen, aber sie leben jetzt zusammen. Adam und Eva in der Postapokalypse. Es gibt keine Depression hier ob der misslichen Lage, dafür die Utopie, dass wenn zwei Unbekannte sich treffen, dass es dann funktioniert. Die Frau heißt Kirsi (Elena Radinovich), trägt Leopardenfellmuster. Sie reden über Reisen: »Ich war nie in Berlin, you can show me.« – »Berlin is boring.« Sie gehen in eine Videothek, und leben diese Wunschphantasie, dass man machen kann, was man will in der Welt – dafür müssen halt die anderen Menschen weg.
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3 Dinge braucht der Mann: Waffe, Weib, Wildnis. Die Frau braucht offenbar etwas anderes: Während er sich mehr und mehr in den Kokon der Kleinfamilie, des Herumhängens, in die Idylle der Mühle am rauschenden Bach zurückziehen will, die Illusion des Neuanfangs, nimmt sie die Herausforderung der Postapokalypse an. Sie will dann wenigstens ans Ende der Welt reisen.
Der Freiheitsdrang ist stärker als der zur Kleinfamilie.
Freiheit ist wichtiger als Glück – das ist
natürlich auch die sozusagen neoliberale Lösung. Durch sie wird der Film zu einem Western, und sie zu einem Äquivalent von John Wayne. Am Ende reitet sie mit dem Rhino-Mobil in den Sonnenuntergang, zu den New Frontiers, er behält zwar Gewehr und Pferd, damit aber auch die Symbole vergangener Männlichkeit
Sie dagegen ist ein bisschen wie Charlize Theron als »Furiosa« im letzten Mad
Max.
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Noch einmal in Cannes also ein Western aus Deutschland. Diesmal zuhaus, in der Mittelstandsästhetik der BRD. Eine Männergeschichte, absolut zeitgemäß, eine Phantasie, die auf den Punkt trifft.
(to be continued)