71. Filmfestspiele Cannes 2018
Girls with guns... |
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Sensibles, facettenreiches Porträt der Zeitgeschichte Chinas: Jia Zhang-kes Asche ist reines Weiß | ||
(Foto: Neue Visionen) |
»Tomorrow is a day for Victory«
aus: »Les Filles du Soleil«
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»Schau dich doch mal um, Cannes ist ein Greisenheim« meinte Carlos vom BR durchaus gutgelaunt heute Morgen, als wir auf die erste Vorstellung warteten. Was er meinte: Das Alter vieler Filmkritiker und Einkäufer, die mit uns in den Reihen saßen. Und die Filme werden von älteren Leuten für diese älteren Leute ausgewählt. Ich glaube, Carlos irrt sich. Denn tatsächlich sind viele Filmkritiker und Fachbesucher bereits jünger als wir, die wir auch schon 15 oder mehr Jahre herkommen.
Es ist nur so, dass die (noch) nicht alle eine so gute Akkreditierung haben, wie wir, und daher nicht auf den besonders guten Plätzen im »Orchestre« des »Grand Théâtre Lumière« sitzen, sondern oben im Balkon. Ich erinnere mich noch an mein erstes Cannes, 2003, wie ich dort oben völlig unausgeschlafen »Matrix Reloaded« geguckt habe, und trotz des infernalischen Krachs immer wieder wegnickte.
Und die Filmemacher? Die sind auch eher jung. Gerade in diesem Jahr versucht Cannes, nicht
nur die Filme der üblichen Verdächtigen zu zeigen, sondern auch Neues zu entdecken. Und junge Regisseure zu pflegen.
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Zum Beispiel Alicia Rohrwacher. Ich bin es unseren Lesern sowieso noch schuldig, die Ergebnisse der alljährlichen Auftaktwette nachzureichen. Diesmal haben nur sechs Leute mitgemacht – was auch damit zu tun hatte, dass das Festival in diesem Jahr einen Wochentag früher begonnen hat, und viele Freunde erst am Eröffnungstag angereist sind. Nächstes Mal also Online. Im Topf sind damit diesmal nur 30 Euro – mal sehen, wer sie bekommt.
Nil aus Istanbul tippt auf Jia
Zhang-ke – »das mache ich einfach immer. Denn irgendwann wird er gewinnen und ich damit auch«. Ernesto aus Chile wettet auf Matteo Garrone. Engin aus Istanbul auf Nadine Labaki – im Ernst? fragen wir anderen. Michael aus Berlin auf den Franzosen Stéphane Brizé – ein sehr guter Tipp, dachte ich dann bei den Ausschnitten bei der Eröffnungsfeier einen Tag später. Torsten, Verleiher aus Berlin, hatte mich erstmal zur Brust genommen, weil ich »unseren« Bauhaus-Film auf artechock
verrissen habe – worauf ich ihm erklärte, »was sein muss, muss sein.« Dann setzt Torsten auf den Kasachen Sergeij Dvortsevoy, dessen Tulpan ich vor etwa zehn Jahren ganz und gar nicht gemocht hatte. Er bringt Dvortsevoys neuen Film aber heraus, insofern ist der Tipp auch einer der Hoffnung. Was sein muss, muss sein.
Und mein eigener Tipp? Eben Alicia Rohrwacher
– deren Nachnamen man auf dem A betont, wie ich seit einem gemeinsamen Abend in Buenos Aires weiß. Ich gebe zu, dass ich mich im Vorfeld des Festivals mehr auf andere Filme gefreut habe, am meisten natürlich auf den Godard. Aber wenn in diesem Jahr mit »Me Too«&Sexskandalen und einer weiblich majorisierten Jury nicht eine Frau die Goldene Palme gewinnt, wann dann? Vielleicht wenn wieder einmal ein richtig guter Film von einer Frau zu sehen ist. Unter den diesjährigen vier
Regisseurinnen im Cannes-Wettbewerb ist Rohrwacher aber ohne Frage die interessanteste und beste.
In Rohrwachers neuen Film bin ich dann am Sonntag nicht reingekommen – den muss ich also am Samstag bei den Wiederholungsvorstellungen vor der Preisverleihung eben nachholen.
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Ist es eigentlich gut, dass man jetzt immer, wenn irgendwo keine Frau beteiligt ist, oder Frauen mehrheitlich beteiligt sind, nicht mehr nur an Selbstverständlichkeiten wie Gleichberechtigung und Emanzipation und womöglich Feminismus denkt, sondern immer auch »Me Too«, Sexismus, schmierige Annäherungen mitdenkt? Ich glaube nicht. Ich glaube, es wird mittelfristig den Frauen eher schaden, sie in ein eher noch geschlosseneres Wahrnehmungs-Ghetto sperren. Denn Gleichberechtigung ist ja nicht etwa wegen Sexismus nötig.
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Die Weisheit, dass in der Filmindustrie Frauen zu wenig zum Zuge kommen, ist nicht neu: Doch auch Cannes wurde jetzt dazu genutzt, die Sichtbarkeit des Problems und der eklatanten Ungleichbehandlung zu erhöhen. 82 berühmte Filmfrauen demonstrierten am Wochenende auf dem Roten Teppich – keine Kritik am Festival, sondern am Zustand des Kinos.
Ein bisschen ist der Auftritt natürlich auch Selbstvermarktung der Beteiligten und wohlfeile Sonntagsrede.
Gerade 50 Jahre
nach dem Mai ‘68 darf man daran erinnern: »the revolution will not be televised«!
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Aber was erzählen uns nun die Filme? Sie zeigen zum Beispiel eine Frau in einer Männerwelt. Eine Mafiabraut. In den ersten Minuten des chinesischen Wettbewerbsbeitrags »Ash is the purest White« wird sie schnell charakterisiert: Qiao kommt aus der Provinz, ihr Vater ist ein Gewerkschaftsführer, der einen aussichtslosen Kampf für die Minenarbeiter führt. Qiao ist hart, sie kann kämpfen. Ohne Waffen. Und sie kämpft für ihren Freund, Bin, einen Gangsterboss. Aber sie hat eher
konventionelle Träume, sie will Familie mit Bin, Sicherheit, aus der Stadt herausziehen. Als sie doch einmal, um Bin bei einem Angriff vor dem Tod zu retten, eine Waffe benutzt, wird dies ihr Verhängnis – fünf Jahre Haft für Waffenbesitz.
Dies ist auch ein Einschnitt in diesem Film. Regisseur Jia Zhang-ke erzählt danach davon, wie Qiao sich ihr Leben, oder was davon übrig blieb, zurückholt. Wie aus der, die nie eine Mafiafrau sein wollte, eine wird.
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Der Anfang ist großartig: Die erste Szene zeigt einen vollbesetzten Bus. Die zweite Qiao in einer Spielhölle ihres Freundes. Männer spielen Mahjong. Qiao bewegt sich souverän, sie ist Herrin der Situation. Aus dem Off fällt im Gespräch das Datum: 2.4.2001. Dann will einer geliehenes Geld von anderen, der leugnet, dass er es lieh, Bin fragt nach, lässt ihn dann vor der alten Buddha-Statue schwören: Da sagt er die Wahrheit. Die alten Mythen funktionieren noch, erzählt diese
Szene.
Zuvor zog er drohend eine Waffe. Die kassiert Bin ein – da kommt also jene Knarre her, die Qiao zum Verhängnis werden wird.
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Dann erst kommen die Anfangscredits: Zur Musik von John Woos The Killer – in China offenbar auch 12 Jahre danach und nach wie vor ein Knaller –, eine subtile Anspielung vielleicht auch an das Jahr der Entstehung des Films: 1989, das Jahr von Tiananmen.
Zu den Credits sehen wir die Jungs der Mafia. »Wir sind alle Brüder« – China im Aufbruch.
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Wäre der ganze Film so ausgezeichnet wie sein Anfang, wäre er der eindeutig beste des bisherigen Wettbewerbs. Aber er hält den guten Anfang nicht ganz, franst am Schluss etwas aus. Nicht dass die zweite Hälfte irgendwie schlechter wäre, sie ist nur weniger zwingend, dokumentarisch suchend und zeigend, weniger Spielfilmkino.
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Wir sehen Chinesen in einer Disco tanzen zu »YMCA«. Wir erleben, wie die Mafia mit Immobilien handelt, und bekommen eine Ahnung vom Immobilienboom jener Jahre.
Wir sehen eine Unterhaltung: Qiao und Bin gucken über ein Tal auf einen Vulkan. Ob er wohl noch aktiv ist, fragt sie. Sie will Familie, aufs Land ziehen. »Enjoy the Moment« sagt er. Die uralte Mann-Frau-Geschichte.
Wir sehen zwei Handvoll Mafiatypen, die einen Film sehen. Es soll m.E. The Killer sein, weil dessen Musik wieder kommt, es könnte A Better Tomorrow sein, es ist aber Tragic Hero von Taylor Wong – so oder so eine Erinnerung an den Charme der alten Filme, ihre Grazie.
Sie reden über die Waffe. »Armed men tend to die first.« sagt er. Aber
auch: »For people like us it’s always kill or be killed.« Sie: »Was heißt das: people like us?« Darauf Bin: »Jianghu – Unterwelt. Wo immer es Menschen gibt, gibt es Mafia.«
Dann kommt der Tag, der ihr Leben ein für allemal ändert, an dem sie die Waffe zieht und dreimal in die Luft schießt. Erst später nach dem Frauengefängnis und nach einem Wiederaufstieg unter hohen Risiken sagt sie: »Jetzt bin ich Jianghu«.
Sie hat gelernt, dass ihr nichts geschenkt wird. Die
chinesische Lektion.
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Jia Zhang-ke, mit 47 immer noch jung, ist eine der profiliertesten Stimmen des chinesischen Gegenwartskinos, und gewann bereits vor 12 Jahren in Venedig den Goldenen Löwen. In seinem neuen Film erzählt Jia von einer kühlen, nur halb glückenden Amour Fou, die sich über einen Zeitraum von 18 Jahren erstreckt und so zu einem sensiblen, facettenreichen Porträt der Zeitgeschichte Chinas wird. Zudem ist Jia ja auch ein sehr guter Dokumentarfilmregisseur, und hier arbeitet er
wieder semi-dokumentarisch, kehrt zudem an den »Dreischluchtenstaudamm«, den Schauplatz eines seiner größten Erfolge, Still Life, zurück.
Im Einzelnen ist »Ash is the purest White« ein bissiger und satirischer Film, im Ganzen sehr zeitgenössisch, weil er vom rohen Kapitalismus erzählt. Indem er 2001 beginnt und 2018 endet, führt sein Film einen Wettbewerb endlich in unsere
Gegenwart, dessen Geschichten zuvor fast sämtlich in den unterschiedlichen Vergangenheiten des 20. Jahrhunderts angesiedelt waren.
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Pure Gegenwart ist dann Eva Hussons Film »Les Filles du Soleil«, ebenfalls aus unerklärlichen Gründen (oder als »böser Witz« des Festivaldirektors, wie die ihm offenbar nicht so wohlgesonnene Hannah Pilarczyk im »Spiegel« anmerkt) im Wettbewerb – dieser in Spielfilmform verfilmte Zeitungsartikel über ein Frauenbataillon der kurdischen Peshmerga im Krieg gegen die ISIS ist zu pathetisch und naiv heroisierend, um auch nur politisch zu überzeugen. Die Zukunft des
Kinos findet man hier nicht, und sich über einen Kriegsfilm zu freuen, weil er nun Frauen statt Männern die Kalaschnikoffs in die Hand drückt, dürfte auch nicht die letzte Weisheit des Feminismus sein. Wenn jedenfalls dies das Ergebnis aller Bemühungen um mehr Frauen im Kino sein sollte – dann lässt man es besser, auch wenn selbstverständlich nicht nur Männer das Recht haben, schlechte Filme zu machen. Nachdenkenswerter als diese mit Musik zugeschmierte Peinlichkeit war da
die Demonstration der 82 Frauen. Was von ihr wirklich bleibt, außer wohlfeilen Gesten wird man aber erst in den nächsten Jahren sehen.
Nach noch nicht einmal der Hälfte des Wettbewerbs sucht die diesjährige Konkurrenz zwischen vielen guten Beiträgen also noch ihre Konturen.
(to be continued)