71. Filmfestspiele Cannes 2018
Girls out of the sun |
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Einfach nur ein schlechter Film, was man sogar am Foto erkennt: Girls of the Sun | ||
(Foto: Elle Driver / Cannes Filmfestival) |
Von Till Kadritzke
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»Political Correctness: Cannes tappt in eine böse Falle«, so war ein Artikel der »Neuen Zürcher Zeitung« während des Festivals überschrieben. Susanne Ostwald bemühte den beliebten Kampfbegriff dabei zunächst gar nicht für eine Einschätzung der bislang gesehenen Filme des diesjährigen Wettbewerbs, ihr ging es erst einmal um die Zusammensetzung der Jury um Cate Blanchett. Da diese erstmals mehrheitlich mit Frauen besetzt war, und diese Besetzung als Reaktion des Festivals auf eine Kritik an seiner mangelnden Diversität interpretiert wurde, lauerte für viele von vornherein eine große Gefahr: dass diese Jury womöglich nicht im Dienste der Filmkunst stehe, sondern auch bei der Preisvergabe dem überall lauernden Diversity-Imperativ folge, dass sie also am Ende einen Film nicht wegen seines ästhetischen, sondern wegen seines politischen Programms auszeichnen würde – oder eben eine der nur drei weiblichen Regisseurinnen mit der Goldenen Palme bedenken.
Mancherorts mag man daher vielleicht sogar enttäuscht gewesen sein, dass die Goldene Palme schließlich an Hirokazu Koreedas Shoplifters (den ich in meinem Zwischenbericht besprochen habe) ging und damit an einen Film, der sich diesen Preis nicht nur ganz und gar verdient hatte, sondern auch hinsichtlich einer identitätspolitischen Einflussnahme eher unverdächtig erschien.
Noch schöner freilich wäre es gewesen, aber dafür war diese Jury vielleicht nicht cinephil genug, hätte Alice Rohrwacher mit ihrem tollen Lazzaro Felice den Hauptpreis gewonnen. Denn der beste Film des Festivals war ja tatsächlich der einer Regisseurin, und wer dann dort aus der Ferne gerufen hätte, »war ja klar, eine Frau«, hätte auch aus anderen Richtungen als den erwartbaren Gegenwind bekommen – und es wäre mehr über den Film geschrieben worden. Ein Preis für Rohrwacher jedenfalls hätte sich niemals mit jener These in Verbindung bringen lassen, dass das »Quotendenken« in Cannes Einzug hält und es in seinem »empfindlichen Kern«, der »Qualität«, treffe, wie es in der NZZ heißt.
Einen Film wie den von Rohrwacher anzuführen hieße aber auch schon, sich auf dieses Duell zwischen Quote und Qualität einzulassen, auf das derzeit vielerorts eine komplexe politische Konstellation reduziert wird. Dabei tappt man oft in eine andere »böse Falle«: Wenn Ostwald schreibt, das Festival habe sich nach viel Kritik an mangelnder Diversität womöglich aus rein politischen Gründen dafür entschieden, die afroamerikanische Regisseurin Ava DuVernay und die burundische Musikerin Khadja Nin in die Jury zu berufen, und diese Entscheidung sei in erster Linie gar eine »Beleidigung der beiden Künstlerinnen« und eine »Herabsetzung ihrer Leistungen«, so fragt man sich, ob es diese Künstlerinnen als Würdigung ihrer Kunst hätten verstehen sollen, wären sie nicht in diese Jury berufen worden.
Hauptsache quotenbefreit: Die Paranoia vor einer um sich greifenden Diversity-Politik, die Angst, dass bei Entscheidungen womöglich andere Kriterien als ein vermeintlich neutraler Kunst- und Qualitätsbegriff im Spiel sind, läuft im Endeffekt darauf hinaus, dass alles beim Alten bleibt. Wenn jede Frau, jede nicht-weiße oder sonstwie mit Diversity in Verbindung gebrachte Person erst mal unter dem Verdacht steht, eine Quotenperson zu sein, bleibt das Reich der »Qualität« jenen vorbehalten, die jeder politischen Einflussnahme unverdächtig sind und die ohnehin seit jeher in Jurys sitzen. Eine altbekannte Dynamik in neuem Gewand: Nicht nur weiße Männer können große Kunst machen, aber nur sie können große Kunst machen, deren allgemeine Wertschätzung jeglichen Eingriffs anderer Kriterien unverdächtig ist.
Dass eine gewisse Form des Quotendenkens und Filmkunst überhaupt nicht zu trennen sind, zeigte uns beim Festival etwa Spike Lees BlacKkKlansman, den die Jury mit ihrem Großen Preis bedacht hat. Lees Film ist in den 1970er Jahren angesiedelt und erzählt die Geschichte von einem schwarzen Polizisten, der eine Undercover-Operation im Ku-Klux-Klan von Colorado leitet, schlägt aber einen großartig großen Bogen: Der Film beginnt mit einer Szene aus Vom Winde verweht und endet mit You-Tube-Clips vom rechtsradikalen Anschlag in Charlottesville. Lee will Geschichte nicht einfach erzählen, sondern für die Gegenwart aufbereiten, und in dieser Hinsicht ist BlacKkKlansman ein großartiger Thesenfilm. In einer Kernsequenz klärt Harry Belafonte, der eine Nebenfigur spielt, über den so bekannten wie noch immer bezeichnenden Umstand auf, dass die Geburt des klassischen US-amerikanischen Erzählkinos mit »Birth of a Nation« vom für die Geburt dieser Nation konstitutiven Rassismus nicht zu trennen ist. US-Präsident Woodrow Wilson beschrieb D.W. Griffiths Film, der direkt und unmittelbar für die Wiederauferstehung des Ku-Klux-Klans in den 1910er Jahren verantwortlich war, einst begeistert als »writing history with lightning« und schenkte dem Kino damit eine seiner ersten großen Würdigungen als Filmkunst. Lees Film sollte uns also nicht zuletzt lehren, dass die Geschichte dieser Kunst nie eine neutrale, sondern immer eine des Ausschlusses war, und dass etwa die schwarzen Filme der Blaxploitation-Ära, deren Plakate nicht umsonst in BlacKkKlansman geschnitten sind, keinem neuen Quotendenken verhaftet waren, sondern eine Reaktion auf die selbstverständliche Quotierung der US-amerikanischen Kulturproduktion durch die weiße Mehrheitsgesellschaft.
Natürlich ist die Sache heute, wo das einst notwendige Gegenkino im Mainstream angekommen ist, obwohl wir von einer geschlechtergerechten und rassismusbefreiten Gesellschaft noch weit entfernt sind, ein bisschen komplizierter. Denn dass identitätspolitische Vereinnahmungen des Kinos, die sowohl der Filmkunst wie auch emanzipatorischer Politik schaden, kein völliges Hirngespinst sind, hat das diesjährige Festival auch gezeigt. Und es ist umso bemerkens- und begrüßenswerter, dass die Jury Eva Hussons doppelt und dreifach als Starke-Frauen-Film beschrifteten Girls of the Sun bei der Preisverleihung links liegen gelassen hat. Das Festival selbst hatte den Film um eine Brigade kurdischer Frauen, die gegen den IS kämpfen, als perfektes Setting für eine große symbolische Geste auserkoren: Vor der Premiere versammelten sich 82 von Cate Blanchett und Agnès Varda angeführte Frauen auf der berühmten roten Treppe – die Zahl aller bislang in den Wettbewerb von Cannes eingeladenen Filmemacherinnen, gegenüber 1.688 Filmemachern –, um den Kampf gegen dieses Missverhältnis auszurufen.
Hussons Film scheint für diesen Kampf dann aber keine besonders geeignete Waffe, nicht nur, weil Girls of the Sun einen ästhetisch biederen und überdeutlichen Kurs fährt, sondern gerade auch, weil er das Bild der bewaffneten Frau ausgerechnet über das Begehren nach Heim und Familie herstellt. Antrieb beider Protagonistinnen, Kämpferin Bahar und die französische Journalistin Mathilde, ist jeweils das eigene Kind, und der Film verwendet einen unglaublichen Aufwand auf Rückblenden mit schweren Schicksalsschlägen, um die weibliche Mobilmachung nachvollziehbar zu machen, ganz als könnte er sich diese anders gar nicht erklären.
Girls of the Sun mag ein sich für symbolische Gesten anbietender »Frauenfilm« sein, dem Feminismus erweist er aber geradezu einen Bärendienst – vor allem, wenn man auf seine radikale Variante blickt, wie sie gerade in Theorie und Praxis der kurdischen Befreiungsbewegung eine prominente Rolle spielt. Von dieser Rolle will Hussons Film mal so gar nichts wissen, umso mehr dafür von der Opferbereitschaft der Frauen, von ihrem Leid und davon, wie sie
trotz allem stark sind, wie sie Heimat- und Kriegsfront vereinen, angetrieben von Liebe und Schmerz, ganz wie im Melodram.
Susanne Ostwald mag in diesem Fall also tatsächlich Recht haben, dass sich die Teilnahme dieses »Machwerks« nur mit dem »neuen Quotendenken« erklären lässt. Wenn sie aber munter mutmaßt, dass aufgrund dieses Primats der Political Correctness fortan die Stars auf dem roten Teppich in Cannes rarer würden, vergisst sie die »Machwerke« von Gus Van Sant (Sea of Trees, 2015) und Sean Penn (The Last Face, 2016), deren einzige Daseinsberechtigung im Wettbewerb eben just die Lieferung von großen Stars für den roten Teppich war.
BlacKkKlansman und Girls of the Sun zeigen damit auf unterschiedliche Weise, dass vermeintlich neutrale Begriffe wie »Qualität« und »Filmkunst« niemals neutral sind, dass sich Kampfbegriffe wie »Quotendenken« und »Diversity-Zwang« kaum als Analyse-Werkzeuge eignen – und dass sich diese zwei Dynamiken nicht ohne gehörige blinde Flecken und Verallgemeinerungen einander gegenüberstellen lassen. BlacKkKlansman, indem er das Kino ganz bewusst und offensichtlich für den Kampf gegen einen neuen Rechtsradikalismus in den USA in den Dienst nimmt, also schamlos identitätspolitisch vereinnahmt, aber gleichzeitig auf die Tatsache verweist, dass am Anfang der Karriere dieses Kinos als Filmkunst eine weiße Identitätspolitik wirkte. Und Girls of the Sun, indem er ein ästhetisch-politisches Programm fährt, das sowohl aus feministischer wie aus filmkritischer Sicht auseinandergenommen gehört – sich nicht einfach als Film verstehen lässt, in dem die Gender-Mafia die Filmkunst unterdrückt.
Anstatt den Eingriff eines Quotendenkens ins Reich der Qualität anzuprangern, müssen wir genau hinsehen, müssen wir analysieren, wie der Diversity-Diskurs in unterschiedlichen Kontexten und mit welchen politischen Effekten wirkt und dürfen dabei nie in die Falle gehen, die Filmkunst, in die er angeblich machtvoll eingreift, als das unschuldige Reich des Schönen zu verstehen, das sie nie gewesen ist.