71. Locarno Filmfestival 2018
Das Schicksal der Schicksalslosigkeit |
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Auch diese Art von Erleichterung gehört zum Kino... | ||
(Foto: MGM) |
Es ist Herbst, die braunen Blätter fallen schon, doch vorerst nur auf der Leinwand der Piazza Grande: August Zirner und Barbara Auer stehen im Zentrum des Ensemblestücks Was uns nicht umbringt von der Deutschen Sandra Nettelbeck. Sie spielen ein Hamburger Ehepaar, das in aller Freundschaft getrennte Wege geht, sich aber noch immer nahesteht und austauscht – zum Beispiel über die neuen Liebhaber. Sie hat unter 30 Jahre Jüngeren ein Studium begonnen und der Junior-Professor ist in sie verliebt. Er ist Psychoanalytiker und kommt über all die leidenden Bestatter, Piloten mit Flugangst und ausgezogenen Beziehungseinzelteile, denen er Lebenshilfe spendet, kaum dazu, sich selbst Gutes zu tun. Dann sind da noch die Kinder in der Pubertätskrise, eine spröde Pinguinpflegerin, ein zugelaufener Hund und der totgeglaubte Vater, der pünktlich zum Sterben nach 30 Jahren aus dem Hades auftaucht.
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Man könnte sagen, Nettelbeck versuche in einer Art deutschem Short Cuts, die Welt oder jedenfalls ihre Generation der Fiftiesomethings in einen Reigen zu gießen. Die Leichtigkeit Robert Altmans erreicht sie aber zu selten, zu ernst nimmt sie ihre Figuren, um deren Lächerlichkeit in subversiven Dialogen und Szenen herauszuarbeiten und trotzdem dann – wie Altman – in der humanen, ganz unzynischen Einsicht zu landen, dass wir eben alle lächerlich sind, auf der Stelle treten, unsere Macken haben, Fehler wiederholen und dass nur Narren sich ganz ernst nehmen. Barbara Auers Charakter kommt dem noch am nächsten. Die anderen Figuren müssen hier alle irgendwelche Probleme lösen, Dinge einsehen, Fehler korrigieren, über ihren Schatten springen, reifer und weiser werden.
Neben dem herausragenden Ensemble sowie Michael Bertls Kamera ist die Stärke von Nettelbecks Film genau das Entgegengesetzte: Dass er untergründig vor allem Unsicherheit ausstrahlt, das Wissen darum, dass es keine perfekten Lebensregeln und für vieles keine Lösung gibt. Man muss aber so ehrlich sein, zuzugeben, dass viele Figuren hier auch ein untergründiger Narzissmus durchzieht, eine Wehleidigkeit und Ich-Fixiertheit, die nur unter bürgerlichen Wohlstandsverhältnissen überhaupt möglich ist, und heute schon ein bisschen aus der Zeit gefallen wirkt. Statt den Luxus der Schicksallosigkeit zu genießen, leiden diese Menschen unter einem diffusen Überdruss. Ob das jene »Ode an das Leben« ist, die die PR-Agentur des Films bejubelt? Etwas weniger Problematisieren und Moral, etwa mehr frivoles Spiel hätten dem Film jedenfalls gut getan. Seine bittersüße Mitte zwischen Humor und Melancholie findet Was uns nicht umbringt zwar immer wieder, verliert sie aber auch ebensooft – mit einer Tendenz zur Tristesse. Dem Beifall auf der Piazza taten solche Bedenken wenig Abbruch. Was uns nicht umbringt ist ein Film für das breite Publikum – und jene Kinogänger, die sich mit den Protagonisten identifizieren konnten.
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Von allem etwas – das passt auch zu den Filmfestspielen am Tessiner Lago Maggiore als Ganzem: In der ersten Liga der europäischen Filmfestivals ist Locarno zwar das kleinste in seiner Bedeutung, quantitativ aber mit über 300 internationalen Filmen und zwei Wettbewerben das zweitgrößte aller Festivals. Und auch das wohl Beliebteste, weil inhaltlich Unumstrittenste. Locarno ist ein Pop-Event mit seinen bis zu 9000 Zuschauern bei den allabendlichen Freiluftvorstellungen auf der mittelalterlichen Piazza Grande mit der größten Außen-Leinwand Europas, aber auch Profitreff, bei dem allerlei Weltpremieren gefeiert werden und auf dem kleinen, aber feinen Industriemarkt Filme verkauft und neue Projekte gehandelt werden.
Nicht zuletzt aber ist Locarno mit seiner prachtvollen Lage, der malerischen Altstadtkulisse und den mondänen Nachbarorten Ronco und Ascona seit dem 19. Jahrhundert ein teures Rentnerparadies und Fluchtort der europäischen Boheme. Vor hundert Jahren starb hier die wilde Gräfin Fanny zu Reventlow, in den Jahrzehnten zuvor die Königin der Schwabinger Künstlerszene, zur gleichen Zeit suchten die Abtrünnigen der Wiener Psychoanalyse um den Anarchisten Otto Gross, den britischen Dichter D.H.Lawrence (»Fanny Hill«) und die berühmt-berüchtigten Richthofen-Schwestern Else und Frida am Monte Veritá mit Nackttänzen in der Natur den »neuen Menschen«, in den Jahrzehnten danach hatten Künstler und Hollywoodgrößen wie Erich Maria Remarque, Paulette Goddard, Robert Siodmak und Douglas Sirk hier ihren letzten Wohnsitz.
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Der Glanz dieses 20. Jahrhunderts wirkt bis heute nach. Und so lud man sich zum Auftakt des Festivals erstmal den Allround-Denker Peter Sloterdijk und den rumänischen Regisseur Andrej Ujica ein, um über die Frage »Was geschah im 20.Jahrhundert mit den Bildern?« zu diskutieren. Da noch nicht mal diese Frage so richtig gestellt wurde, fielen auch die Antworten mager aus – immerhin kullerten zusammenhanglos einige kluge Sätze vom Tisch der Meisterdenker (»Das Sein selbst ist ausgestattet mit der Fähigkeit zu Bildproduktion« oder »Die Bilder lügen wie nie zuvor seit Platon« behauptete zum Beispiel Sloterdijk, der sowieso, wie man es von ihm kennt, in jeden fünften seiner Sätze ein altgriechisches Zitat einflocht, und immer mal wieder ein spontanes »Wie bei Ovid« oder »schon Homer erkannte ja« unter seinem Seelöwenbart hervorstieß), ansonsten lief alles auf die Behauptung hinaus, dass Bilder einst die Zeit aufhielten, Kinobilder sie aber darstellen, was nur dann keine banale Erkenntnis ist, wenn man Kino als Fortsetzung der Malerei mit anderen Mitteln versteht, und nicht als eigenes Medium, das wie Musik und Theater immer schon in Bewegung ist.
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Sloterdijk könnte gut einen Gastauftritt haben in Was uns nicht umbringt, denn auch er leidet ja unter der Schicksallosigkeit, darunter, dass er weder ein Platon ist, noch einen peloponnesischen Krieg analysieren kann, lässt es sich aber an der Tafel des letzten Menschen gutgehen.
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Die Hardware zu all dieser Gedankensoftware ist das Standortmarketing. Denn dieses Festival, einst geboren in den goldenen Jahren des europäischen Autorenkinos, ist heute vor allem Attraktion und Werbeträger der lokalen Tourismusbehörde, deren inzwischen 73-jähriger Chef Marco Solari in Personalunion auch – honi soit qui mal y pense – der Präsident des Filmfestivals ist. »Früher sagte man mir, Personen sind nicht wichtig, wichtig sind die Strukturen«,
sagte Solari in diesen Tagen. »In meinem langen Berufsleben habe ich gelernt: Personen sind das einzige, was wichtig ist, Strukturen sind völlig egal.«
Unter Solari wechseln alle paar Jahre die künstlerischen Direktoren, dieser häufige Wechsel bedeutet Unsicherheit und gelegentliche Zickzackkurse, er tut dem Festival aber auch gut, denn er hält eine Institution frisch, die sich selbst als »Ort der Jugend und der Neuentdeckungen« beschreibt.
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Jüngster Abgang ist Carlo Chatrian, der seit 2012 amtierte, und im Frühjahr 2019 als Nachfolger von Dieter Kosslick die Leitung der Berlinale antritt. So lässt es sich nicht vermeiden, das diesjährige Programm auch ein bisschen im Licht der Berlinale und als Vorschein auf zukünftige Veränderungen zu analysieren.
Zugleich scheint es, als würde Chatrian in seinem letzten Locarno-Jahr sehr bewusst alle derartigen Erwartungen geschickt unterlaufen: So betonte der 46-jährige bei der
Vorstellung des Programms, dass die Wettbewerbsfilme in seiner Abschiedssaison vor allem persönliche Geschichten erzählen würden, die großen Konflikte unserer Gegenwart dagegen in den Hintergrund rücken – das klingt wie ein Gegenentwurf zu der auf das politische Profil ihres Programms immer sehr bedachten Berlinale. Auch in einer anderen Hinsicht erscheint das diesjährige Locarno-Programm als Anti-Berlinale: Entgegen aller Forderungen politischer Korrektheit stammen von
den 15 Filmen im Wettbewerb nur drei von einer Frau, und auch im populäreren Rahmenprogramm der Piazza Grande finden sich unter den 18 Filmen nur vier Filmemacherinnen. Da hilft es auch wenig, dass betont wird, viele Geschichten der Filme erzählten von Frauen oder kreisten um weibliche Hauptfiguren.
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Dafür zeigte man Jane Campions Film In the Cut – Wenn Liebe tötet, in dem Meg Ryan die Rolle ihres Lebens spielt – in diesem Film über eine Frau und über Verhältnisse, die sich nicht in Opfer und Täter unterteilen lassen, ist die Regisseurin allen Me-Too-Vereinfachungen weit voraus und zeigt sich als wahre Feministin: Denn Kino darf Phantasien nicht zensieren, es soll Männerphantasien zeigen, es sollte allerdings, wie in diesem Fall, auch Frauenphantasien genauso allen Platz der Welt bieten.
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Diversität propagiert das Festival noch in anderer Hinsicht: Gleich drei schwarze Hauptfiguren sah man an den ersten Tagen auf der Piazza, in zwei Fällen führten auch Schwarze Regie. Hinzu kommt das Wagnis, mit dem argentinischen Beitrag La Flor von Mariano Llinás, einen Film im Wettbewerb zu zeigen, der fast 14 Stunden dauert. Aber wo, wenn nicht auf einem Filmfestival ist der
Ort für solche Herausforderungen?
Eine weitere Antwort, die Locarno in diesem Jahr auf die grassierenden gesellschaftlichen Nervositäten und politischen Krisen gibt, lautet: Lachen. So lief die so alberne wie subversive komödiantische Fernsehserie »Coincoin and the Extra Humans« des französischen Autorenfilmers Bruno Dumont, in der ein Jugendlicher zum fanatischen Nationalisten wird und Außerirdischen begegnet. Und die diesjährige Retrospektive ist Leo
McCarey gewidmet, einem heute fast vollkommen vergessenen Regiestar des klassischen Hollywood der 1920er bis 1950er-Jahre. Berühmt wurde er nicht nur mit Stan Laurel und Oliver Hardy, sondern auch mit Cary Grant-Komödien. Auch diese Art von Erleichterung gehört zum Kino.
(to be continued)