71. Locarno Filmfestival 2018
Wider die Diktatur des Publikumsgeschmacks |
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Mariano Llinás' La Flor | ||
(Foto: Grandfilm) |
Chinesen in Singapur, Wanderarbeiter aus dem armen Riesenreich, die in dem reichen Stadtstaat im Süden als Bauarbeiter ihr Glück suchen. Einer von ihnen taucht – eher durch Zufall – ein bisschen in die Halbwelt der Spielhöllen und Mafiagangs ein, und verschwindet bald darauf. Damit ändert sich der Charakter des Films.
A Land Imagined vom Singapurer Filmregisseur Yeo Siew Hua, der am Samstagabend in Locarno den Goldenen Leoparden gewann,
verbindet genaugenommen zwei komplett unterschiedliche Elemente: Es beginnt als naturalistische Darstellung der sozialen Verhältnisse, die halbdokumentarisch von Ausbeutung, Bodenspekulation und Landgewinnung in Singapur handelt – dann aber mutiert alles zum Genrefilm, bei dem das Publikum mit Hilfe eines Detektivs, als dessen Stellvertreter hinter die Kulissen der neorealistischen Oberfläche schauen kann, und ins Taumeln kommt. Es gibt eine junge Femme
Fatale, und allerlei Geheimnisse.
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Wer die Filme des Jurypräsidenten des Chinesen Jia Zhang-ke, kennt, der ahnt: A Land Imagined hat den Preis nicht etwa für seine desillusionierte Darstellung heutiger Sklaverei gewonnen, sondern aus stilistischen Gründen: In der Tradition so großer chinesischer Regie-Meister wie John Woo und Wong Kar-wai, aber auch mit Nähen zur „sechsten Generation“ des chinesischen Kinos, der Jia Zhang-ke selbst angehört, mischt Yeo nostalgische Neon-Ästhetik mit fließenden, musikalischen Bildern, mischt Pathos mit Witz und genauer Beobachtungsgabe.
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Auch der Regiepreis ging verdient an den argentinisch-chilenischen Film Tarde para morir joven von Dominga Sotomayor, einer Chilenin, die in Barcelona studiert hat und in Argentinien Filme macht. Sie erzählt von drei Jugendlichen nach Ende der Pinochet-Diktatur. Sie gehören eher den Wohlstandsmilieus an, und entdecken eine Welt, die ihnen offen zu stehen scheint. Dazu gehört eine atemberaubende Natur, aber auch die Welt der Erwachsenen. In deren Gesprächen, beim Abendessen, mit Personal, im Alltag des Lebens schreibt sich das Politische ein ins Private und umgekehrt – das beides nicht zu trennen ist, macht dieser Film besonders klug plausibel. In melancholischem Ton erzählt der Film von einem bittersüßen Desillusionierungsprozess, einem Abschied von den Eltern und dem Scheitern sozialer Utopien.
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In den anderen Preisen dominierte leider das Kino-Spießertum, etwa in dem miserabilistischen britischen Wannabe-Mike-Leigh Ray & Liz oder in dem billig-spekulativen israelischen Film M, in dem – hört hört – schwule Orthodoxe einen der Ihren missbrauchen.
Eine einmalige Erfahrung wurde dagegen von der Jury übersehen – und das ist der
echte Fehler dieser Preisvergabe: La Flor vom Argentinier Mariano Llinás.
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Man sollte nicht die Länge zum Thema machen. Und die Episoden. Ein Film ist ein Film oder eben nicht. Und wenn er 14 Stunden lang ist, dann muss er so gezeigt und besprochen werden – denn man schreibt über Filmdauer ja auch nicht, wenn die Filme kürzer sind.
Insofern hat das Festival La Flor falsch programmiert, wenn auch publikumsfreundlich, denn man zeigte ihn einmal in
sieben Teilen a zwei Stunden vormittags und ein zweites Mal in drei Teilen a 4-5 Stunden.
Ich sehe es ähnlich wie Frédéric Jaeger, der auf critic.de für La Flor die schöne, treffende Formel gefunden hat: »Eine Serie, die das Kino meint.« Trotz seiner Länge sei diese Geschichte von vier argentinischen Frauen, deren Schicksale miteinander verknüpft sind, aber gar keine Serie, insistiert
wiederum der Regisseur.
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Ein Bild: Eine junge Frau, lange braune Haare, ein roter Wollpullover mit Rollkragen. Sie blickt nach vorne, knapp an der Kamera vorbei. Mein Gedanke: Wenn sie nicht sprechen würden, wie würde ich das zuordnen? Aus Deutschland könnte das Bild jedenfalls nicht sein, aus Skandinavien auch nicht, aus England und den USA kaum.
Die Frau ist Flavia, sie hat tiefe tolle braune Augen und bald hat sie eine weiße Haarsträne im Haar, wie Susan Sontag.
Bald wird in der Wüste eine Mumie
gefunden, und vieles erinnert von Anfang an an eine Film Noir-Detektivstory, an The Maltese Falcon vielleicht, in der dann Flavia der Detektiv wäre. Sie trifft dann auch einen unangenehmen Mann, ein Ekelpaket, das Frank heißt, wie in Blue Velvet.
Der sinnliche Eindruck und die Stimmung in La Flor erinnern tatsächlich eher an Kino von David Lynch und von Carlos Saura – denn Musik und Gesang (und zwar Ohrwürmer, gute Schlager) spielen eine wichtige Rolle, wie die Atmosphäre der 70er Jahre.
Ein bisschen wirkt alles auch wie ein Kolportageroman von Eugene Sue. Das Pathos ist das des 19. Jahrhunderts. Im Zentrum der Detektivstory steht ein obskurer Geheimbund und die Suche
nach einem geheimnisvollen Serum (ein »Metatoxin«), das ewige Jugend verleihen soll.
Ein Gespräch kreist um »Epiphanie«. Pathos – Romantik – Paranoia sind die Pole zwischen denen sich dieser einmalige Film entfaltet.
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Es war in allen Sektionen ein starkes Festival, mit zwei überzeugenden Wettbewerben, geprägt von spürbarer Liebe zum Kino, von Mut zu konsequenter Filmkunst, zum Spielerischen, zum Genre, zur Jugend, fast ohne Kompromisse gegenüber den spießigen Claqueuren des Mainstream.
Zugleich setzte der als Nachfolger Dieter Kosslicks zur Berlinale wechselnde Locarno-Direktor Carlo Chatrian ein deutliches Zeichen gegen den Publikums-Populismus anderer Festivals, wo allen Zuschauern, nur damit sie viele Karten kaufen, nach dem Mund geredet, und nach dem Bauch programmiert wird. Chatrian und seine Auswahlkommission machen vielmehr deutlich: Kino kann und soll Vergnügen bereiten und zwar in seiner Vielfalt, also auch im verspielt Experimentellen und in
produktiven Zumutungen ans Publikum.
Denn auch im Publikum gibt es sehr verschiedene Segmente, und man sollte sich nicht an seinem kleinsten gemeinsamen Nenner orientieren.
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Wenn Chatrian solche Gedanken nach Berlin mitbringt, wäre schon viel gewonnen. Denn das beste Publikumsfestival ist ein Festival, das aus persönlicher Passion programmiert ist – damit der Funke überspringt, muss er erstmal da sein.
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Nur die Öffentlichkeit hat die Stärke Locarnos in den letzten Jahren weitgehend übersehen. Weder Süddeutsche noch FAZ noch taz hielten es 2018 für nötig, einen Berichterstatter ins Tessin zu schicken.
In der Phrasendreschmaschine von dpa lesen wir dafür: »Der begehrte Publikumspreis von Locarno«. Wo ist ein Publikumspreis denn nicht begehrt? Und sind bitte die anderen Preise weniger begehrt? Nein: Jeder würde den Publikumspreis sofort gegen einen anderen Preis
eintauschen. Was sich hier zeigt, ist nur der in der deutschen Filmpresse grassierende Populismus.
Oder, ein anderes dpa-Lieblingszitat von mir: »'Sibel' Favorit für Goldenen Leoparden«. »Zur Halbzeit Im Wettbewerb der 15 Filme um den Hauptpreis, den Filmfestival Locarno, gilt bisher 'Sibel' als Favorit, eine Ballade um die Selbstbehauptung einer jungen Türkin (Regie: Çagla Zencirci und Guillaume Giovanetti). An der Realisierung waren auch deutsche Produzenten
beteiligt.«
Ich habe von Sibel, den ich nicht sehen konnte, Gutes und Schlechtes gehört. Für einen Favorit hielt ihn niemand. Die Formulierung steht bei dpa wegen der deutschen Produzenten, und weil man meint, dann fußball-fan-haft patriotische Stimmung machen zu müssen. Ist das nicht etwas zynisch, oder wieder nur populistisch?
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Wenn sie nicht dpa übernehmen, schickt der »Münchner Merkur« Marco Schmidt. Der interviewt dann Meg Ryan und blubbert: »Mit Filmen wie Harry und Sally, Schlaflos in Seattle, French Kiss oder E-m@il für Dich wurde Meg Ryan in den Neunzigerjahren zur Königin der Liebeskomödien. Beim Festival von Locarno bekam sie nun einen Goldenen Leoparden für ihr Lebenswerk. Tags darauf, in einem Hotel mit traumhaftem Blick über den Lago Maggiore, treffen wir die 56-Jährige zum Interview. Sie trägt ein langes weißes Kleid und bequeme Sandalen, schüttelt ihre blonde Löwenmähne und strahlt übers ganze Gesicht. Auf ihren linken Unterarm hat sie sich in Schreibschrift den Satz
›Das Leben ist kurz‹ eintätowieren lassen. Trotzdem nimmt sie sich viel Zeit, um mit erfrischender Ehrlichkeit unsere Fragen zu beantworten.«
Dann doch besser dpa.
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In der führenden Schweizer Tageszeitung wurden nicht nur um Samstag 15.30 Uhr, bereits die Preise gespoilert, schon zum zweiten Mal binnen weniger Wochen plädiert die deutsche Filmkritikerin der Schweizer Zeitung für eine Abschaffung der Festivaljurys und der Preistrophäen, nur weil ihr die Juryentscheidungen nicht passen. Einmal kann das ja noch
witzig sein, aber als »Ceterum censeo«...
Ihren Geschmack soll sie ja behalten, aber muss man seine legitime Wut auf eine Juryentscheidung gleich zu dieser Konsequenz treiben? Vielleicht sollte man besser so eine Form der Festivalberichterstattung abschaffen – aber nein: Diese sarrazin-hafte Abschaffer-Gebärde selbst ist die Albernheit.
Ein bisschen albern sind auch andere Bemerkungen des Textes: »Wieder einmal zeigt sich, dass die Beurteilung des Richtergremiums
diametral von jener des Grossteils des Publikums abweicht« – mein Gott, was erlauben die sich!
Was soll auch die Bemerkung, der Juryvorsitzende Jia Zhang-ke »nicht unumstrittenen« sei? Manche halten ihn immerhin für einen der besten Regisseure der Welt. Und wer ist denn überhaupt dieses ominöse Publikum?
Eine solche gedankliche Schlichtheit und das implizite Plädoyer für eine Diktatur des Massengeschmacks erstaunt bei dieser ansonsten hervorragenden Zeitung nicht nur
– sie ist der NZZ nicht würdig und beschädigt ihren Ruf.
(to be continued)