13.08.2018
71. Locarno Filmfestival 2018

Wider die Diktatur des Publi­kums­ge­schmacks

La Flor
Mariano Llinás' La Flor
(Foto: Grandfilm)

Ein Preis für Filmkunst und Stil, nicht für den Inhalt: Nur La Flor hat die Jury übersehen – Notizen aus Locarno, 5. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Chinesen in Singapur, Wander­ar­beiter aus dem armen Riesen­reich, die in dem reichen Stadt­staat im Süden als Bauar­beiter ihr Glück suchen. Einer von ihnen taucht – eher durch Zufall – ein bisschen in die Halbwelt der Spiel­höllen und Mafia­gangs ein, und verschwindet bald darauf. Damit ändert sich der Charakter des Films.
A Land Imagined vom Singa­purer Film­re­gis­seur Yeo Siew Hua, der am Sams­tag­abend in Locarno den Goldenen Leoparden gewann, verbindet genau­ge­nommen zwei komplett unter­schied­liche Elemente: Es beginnt als natu­ra­lis­ti­sche Darstel­lung der sozialen Verhält­nisse, die halb­do­ku­men­ta­risch von Ausbeu­tung, Boden­spe­ku­la­tion und Land­ge­win­nung in Singapur handelt – dann aber mutiert alles zum Genrefilm, bei dem das Publikum mit Hilfe eines Detektivs, als dessen Stell­ver­treter hinter die Kulissen der neorea­lis­ti­schen Ober­fläche schauen kann, und ins Taumeln kommt. Es gibt eine junge Femme Fatale, und allerlei Geheim­nisse.

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Wer die Filme des Jury­prä­si­denten des Chinesen Jia Zhang-ke, kennt, der ahnt: A Land Imagined hat den Preis nicht etwa für seine desil­lu­sio­nierte Darstel­lung heutiger Sklaverei gewonnen, sondern aus stilis­ti­schen Gründen: In der Tradition so großer chine­si­scher Regie-Meister wie John Woo und Wong Kar-wai, aber auch mit Nähen zur „sechsten Gene­ra­tion“ des chine­si­schen Kinos, der Jia Zhang-ke selbst angehört, mischt Yeo nost­al­gi­sche Neon-Ästhetik mit fließenden, musi­ka­li­schen Bildern, mischt Pathos mit Witz und genauer Beob­ach­tungs­gabe.

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Auch der Regie­preis ging verdient an den argen­ti­nisch-chile­ni­schen Film Tarde para morir joven von Dominga Sotomayor, einer Chilenin, die in Barcelona studiert hat und in Argen­ti­nien Filme macht. Sie erzählt von drei Jugend­li­chen nach Ende der Pinochet-Diktatur. Sie gehören eher den Wohl­stands­mi­lieus an, und entdecken eine Welt, die ihnen offen zu stehen scheint. Dazu gehört eine atem­be­rau­bende Natur, aber auch die Welt der Erwach­senen. In deren Gesprächen, beim Abend­essen, mit Personal, im Alltag des Lebens schreibt sich das Poli­ti­sche ein ins Private und umgekehrt – das beides nicht zu trennen ist, macht dieser Film besonders klug plausibel. In melan­cho­li­schem Ton erzählt der Film von einem bitter­süßen Desil­lu­sio­nie­rungs­pro­zess, einem Abschied von den Eltern und dem Scheitern sozialer Utopien.

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In den anderen Preisen domi­nierte leider das Kino-Spießertum, etwa in dem mise­ra­bi­lis­ti­schen briti­schen Wannabe-Mike-Leigh Ray & Liz oder in dem billig-speku­la­tiven israe­li­schen Film M, in dem – hört hört – schwule Orthodoxe einen der Ihren miss­brau­chen.
Eine einmalige Erfahrung wurde dagegen von der Jury übersehen – und das ist der echte Fehler dieser Preis­ver­gabe: La Flor vom Argen­ti­nier Mariano Llinás.

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Man sollte nicht die Länge zum Thema machen. Und die Episoden. Ein Film ist ein Film oder eben nicht. Und wenn er 14 Stunden lang ist, dann muss er so gezeigt und bespro­chen werden – denn man schreibt über Filmdauer ja auch nicht, wenn die Filme kürzer sind.
Insofern hat das Festival La Flor falsch program­miert, wenn auch publi­kums­freund­lich, denn man zeigte ihn einmal in sieben Teilen a zwei Stunden vormit­tags und ein zweites Mal in drei Teilen a 4-5 Stunden.
Ich sehe es ähnlich wie Frédéric Jaeger, der auf critic.de für La Flor die schöne, treffende Formel gefunden hat: »Eine Serie, die das Kino meint.« Trotz seiner Länge sei diese Geschichte von vier argen­ti­ni­schen Frauen, deren Schick­sale mitein­ander verknüpft sind, aber gar keine Serie, insis­tiert wiederum der Regisseur.

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Ein Bild: Eine junge Frau, lange braune Haare, ein roter Woll­pull­over mit Roll­kragen. Sie blickt nach vorne, knapp an der Kamera vorbei. Mein Gedanke: Wenn sie nicht sprechen würden, wie würde ich das zuordnen? Aus Deutsch­land könnte das Bild jeden­falls nicht sein, aus Skan­di­na­vien auch nicht, aus England und den USA kaum.
Die Frau ist Flavia, sie hat tiefe tolle braune Augen und bald hat sie eine weiße Haar­sträne im Haar, wie Susan Sontag.
Bald wird in der Wüste eine Mumie gefunden, und vieles erinnert von Anfang an an eine Film Noir-Detek­tivstory, an The Maltese Falcon viel­leicht, in der dann Flavia der Detektiv wäre. Sie trifft dann auch einen unan­ge­nehmen Mann, ein Ekelpaket, das Frank heißt, wie in Blue Velvet.
Der sinnliche Eindruck und die Stimmung in La Flor erinnern tatsäch­lich eher an Kino von David Lynch und von Carlos Saura – denn Musik und Gesang (und zwar Ohrwürmer, gute Schlager) spielen eine wichtige Rolle, wie die Atmo­sphäre der 70er Jahre.
Ein bisschen wirkt alles auch wie ein Kolpor­ta­ge­roman von Eugene Sue. Das Pathos ist das des 19. Jahr­hun­derts. Im Zentrum der Detek­tivstory steht ein obskurer Geheim­bund und die Suche nach einem geheim­nis­vollen Serum (ein »Metatoxin«), das ewige Jugend verleihen soll.
Ein Gespräch kreist um »Epiphanie«. Pathos – Romantik – Paranoia sind die Pole zwischen denen sich dieser einmalige Film entfaltet.

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Es war in allen Sektionen ein starkes Festival, mit zwei über­zeu­genden Wett­be­werben, geprägt von spürbarer Liebe zum Kino, von Mut zu konse­quenter Filmkunst, zum Spie­le­ri­schen, zum Genre, zur Jugend, fast ohne Kompro­misse gegenüber den spießigen Claqueuren des Main­stream.

Zugleich setzte der als Nach­folger Dieter Kosslicks zur Berlinale wech­selnde Locarno-Direktor Carlo Chatrian ein deut­li­ches Zeichen gegen den Publikums-Popu­lismus anderer Festivals, wo allen Zuschauern, nur damit sie viele Karten kaufen, nach dem Mund geredet, und nach dem Bauch program­miert wird. Chatrian und seine Auswahl­kom­mis­sion machen vielmehr deutlich: Kino kann und soll Vergnügen bereiten und zwar in seiner Vielfalt, also auch im verspielt Expe­ri­men­tellen und in produk­tiven Zumu­tungen ans Publikum.
Denn auch im Publikum gibt es sehr verschie­dene Segmente, und man sollte sich nicht an seinem kleinsten gemein­samen Nenner orien­tieren.

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Wenn Chatrian solche Gedanken nach Berlin mitbringt, wäre schon viel gewonnen. Denn das beste Publi­kums­fes­tival ist ein Festival, das aus persön­li­cher Passion program­miert ist – damit der Funke über­springt, muss er erstmal da sein.

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Nur die Öffent­lich­keit hat die Stärke Locarnos in den letzten Jahren weit­ge­hend übersehen. Weder Süddeut­sche noch FAZ noch taz hielten es 2018 für nötig, einen Bericht­erstatter ins Tessin zu schicken.
In der Phra­sen­dresch­ma­schine von dpa lesen wir dafür: »Der begehrte Publi­kums­preis von Locarno«. Wo ist ein Publi­kums­preis denn nicht begehrt? Und sind bitte die anderen Preise weniger begehrt? Nein: Jeder würde den Publi­kums­preis sofort gegen einen anderen Preis eintau­schen. Was sich hier zeigt, ist nur der in der deutschen Film­presse gras­sie­rende Popu­lismus.
Oder, ein anderes dpa-Lieb­lings­zitat von mir: »'Sibel' Favorit für Goldenen Leoparden«. »Zur Halbzeit Im Wett­be­werb der 15 Filme um den Haupt­preis, den Film­fes­tival Locarno, gilt bisher 'Sibel' als Favorit, eine Ballade um die Selbst­be­haup­tung einer jungen Türkin (Regie: Çagla Zencirci und Guillaume Giova­netti). An der Reali­sie­rung waren auch deutsche Produ­zenten beteiligt.«
Ich habe von Sibel, den ich nicht sehen konnte, Gutes und Schlechtes gehört. Für einen Favorit hielt ihn niemand. Die Formu­lie­rung steht bei dpa wegen der deutschen Produ­zenten, und weil man meint, dann fußball-fan-haft patrio­ti­sche Stimmung machen zu müssen. Ist das nicht etwas zynisch, oder wieder nur popu­lis­tisch?

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Wenn sie nicht dpa über­nehmen, schickt der »Münchner Merkur« Marco Schmidt. Der inter­viewt dann Meg Ryan und blubbert: »Mit Filmen wie Harry und Sally, Schlaflos in Seattle, French Kiss oder E-m@il für Dich wurde Meg Ryan in den Neun­zi­ger­jahren zur Königin der Liebes­komö­dien. Beim Festival von Locarno bekam sie nun einen Goldenen Leoparden für ihr Lebens­werk. Tags darauf, in einem Hotel mit traum­haftem Blick über den Lago Maggiore, treffen wir die 56-Jährige zum Interview. Sie trägt ein langes weißes Kleid und bequeme Sandalen, schüttelt ihre blonde Löwen­mähne und strahlt übers ganze Gesicht. Auf ihren linken Unterarm hat sie sich in Schreib­schrift den Satz ›Das Leben ist kurz‹ eintä­to­wieren lassen. Trotzdem nimmt sie sich viel Zeit, um mit erfri­schender Ehrlich­keit unsere Fragen zu beant­worten.«
Dann doch besser dpa.

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In der führenden Schweizer Tages­zei­tung wurden nicht nur um Samstag 15.30 Uhr, bereits die Preise gespoi­lert, schon zum zweiten Mal binnen weniger Wochen plädiert die deutsche Film­kri­ti­kerin der Schweizer Zeitung für eine Abschaf­fung der Festi­val­jurys und der Preis­tro­phäen, nur weil ihr die Jury­ent­schei­dungen nicht passen. Einmal kann das ja noch witzig sein, aber als »Ceterum censeo«...
Ihren Geschmack soll sie ja behalten, aber muss man seine legitime Wut auf eine Jury­ent­schei­dung gleich zu dieser Konse­quenz treiben? Viel­leicht sollte man besser so eine Form der Festi­val­be­richt­erstat­tung abschaffen – aber nein: Diese sarrazin-hafte Abschaffer-Gebärde selbst ist die Albern­heit.
Ein bisschen albern sind auch andere Bemer­kungen des Textes: »Wieder einmal zeigt sich, dass die Beur­tei­lung des Rich­ter­gre­miums diametral von jener des Gross­teils des Publikums abweicht« – mein Gott, was erlauben die sich!
Was soll auch die Bemerkung, der Jury­vor­sit­zende Jia Zhang-ke »nicht unum­strit­tenen« sei? Manche halten ihn immerhin für einen der besten Regis­seure der Welt. Und wer ist denn überhaupt dieses ominöse Publikum?
Eine solche gedank­liche Schlicht­heit und das implizite Plädoyer für eine Diktatur des Massen­ge­schmacks erstaunt bei dieser ansonsten hervor­ra­genden Zeitung nicht nur – sie ist der NZZ nicht würdig und beschä­digt ihren Ruf.

(to be continued)