71. Locarno Filmfestival 2018
Bittersüßer Vogel Jugend |
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Persönlicher Höhepunkt dieses Festivals: Philippe Lesages Genesis | ||
(Foto: Productions L’Unité Centrale) |
»Sort!!!!« schreit der Geschichtslehrer in der Schule, flippt regelrecht aus, und schmeißt den Schüler Guillaume kurzerhand aus dem Klassenzimmer. Zuvor war es darum gegangen, ob man eine Debatte mit rhetorisch Überlegenen, bei der man folglich nur verlieren kann, überhaupt führen und nicht besser verlassen sollte – und Guillaume (Théodore Pellerin) hat es wieder einmal besser gewusst.
Guillaume ist klug, zu klug für seine 16 Jahre, er ist fasziniert von dem
charismatischen Geschichtslehrer, aber er erkennt auch dessen Schwächen und provoziert ihn durch zynisch-arroganten Spott. Dabei hat Guillaume genug mit sich selbst zu kämpfen. Er ist Außenseiter in der Klasse und in seinen besten Freund verliebt.
Wir befinden uns an einer Boarding-School für Jungen in Kanada. Guillaume ist dort Schüler, er ist eine der Hauptfiguren in Genesis, dem Film des Frankokanadiers Philippe Lesage im Wettbewerb von Locarno
– meinem persönlichen Höhepunkt in diesem Festival, sieht man mal von Filmen wie Finchers Se7en ab, der so gut ist wie vor 23 Jahren, als ich ihn die ersten zwei Mal gesehen habe, und Jane Campions In the Cut – Wenn Liebe tötet, den ich ganz schwach in Erinnerung hatte –
vollkommen zu Unrecht.
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Die zweite Hauptfigur von Genesis ist Guillaumes Schwester Charlotte (Noée Abita, bereits in Ava großartig), die noch zuhause bei Vater und Stiefmutter lebt. Sie verbringt viel Zeit mit ihren Freundinnen, hat auch einen Freund, der sie aber langweilt, beginnt ein Liebesverhältnis mit einem wesentlich älteren alleinstehenden Mann, dessen Schwächen dem klugen Mädchen keine
Sekunde lang verborgen bleiben, und hat wie ihr Bruder einen gewissen Hang dazu, Situationen zu provozieren, die sie in Schwierigkeiten bringen, fast, so könnte man sagen, eine masochistische Ader.
Ein dritter Erzählstrang zeigt die etwa 12-jährigen Beatrice und Félix, die in einem Ferienlager ihre erste Liebe erleben: Eine Choreographie der Unschuld der Blicke, der Angst auch nur vorm Händchenhalten, ein unglückliches Glück zwischen erstem Erleben und Einsicht in die eigene
Unfähigkeit.
En passant öffnet Lesage damit auch die Tür zu einem selbstkonstruierten Universum, das den Film überschreitet: Félix war die Hauptfigur in seinem ersten Spielfilm Les démons.
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Regisseur Philippe Lesage hat bisher mehrere Dokumentarfilme gemacht und den autobiographisch geprägten Spielfilm Les démons. Und auch Genesis ist aus den Erlebnissen des Autors entstanden.
Lesage hat diese eigene oder imaginierte Jugend zeitlich sehr unpräzise verortet, sie spielt irgendwie heute, irgendwie auch vor 20 Jahren.
Er erzählt hier in bewusst überhöhten Szenen, musikalisch und traumwandlerisch schwebend. Ein Film
der Sehnsucht und Sehnsüchte, voller visueller, sinnlicher Reize, der versucht, das unklare Erleben Heranwachsender in eine filmische Erfahrung zu verwandeln.
Genesis ist ein Film, der bewusst nicht auf den Punkt, auf einen bestimmten Punkt kommen will, sondern der kleine und große Katastrophen, kleine und große verlorene Paradiese der Kindheit aneinanderreiht zu einem Reigen der Erfahrungen. Zu dem gehört widersprüchliches Verhalten, Unordnung, Unlogik. Aus ihm lässt Lesage vier antikonformistische Helden entstehen. Sie haben Angst. Sie sind schüchtern. Aber sie alle haben in diesem Film mindestens einen Moment, in dem, sie sich trauen, sich zum Narren zu machen – und der gibt ihnen recht. Und er ist schön.
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Laut seiner Selbstbeschreibung ist das Filmfestival im Tessiner Rentnerparadies Locarno ein »Ort der Jugend und der Neuentdeckungen«. Das meint junge Filmemacher, es meint aber auch junge Figuren und Stoffe, die mit Erwachsenwerden, Weltentdeckung, aber auch Verlust der Unschuld und der Illusionen zu tun haben. Man darf also fragen, und die Filme legen es nahe: Was treibt sie um die Jugendlichen und jungen Erwachsenen knapp 20 Jahre nach der Jahrtausendwende? Harte Schale, weicher Kern könnte man sagen. Alle Menschen spielen Rollen, halten sich mit kleinen und größeren Alltagslügen die schlimmsten Zumutungen des Lebens vom Leib – aber wer sich selbst erst noch finden muss, nicht weiß, wer er ist und was er will, der kann zwischen Wahrheit und Lüge auch nicht so klar unterscheiden, wie die Erwachsenen.
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Die drei Freundinnen, die gerade ihr Abitur gemacht haben und in dem italienischen Film Likemeback von Leonardo Guera Seragnoli auf eine Bootstour in der adriatischen See gehen, leben nicht nur wie alle Jugendlichen in ihrer eigenen Welt, sondern jede von ihnen auch noch in ihrer ganz persönlichen Filterblase.
Permanent hängen sie an ihren Smartphones, nehmen ihre Umwelt kaum wahr, bis sich die beiden Welten dann doch plötzlich wieder vermischen, und
virtuelles Handeln sehr reale Folgen hat.
Likemeback ist ein sensibles Porträt verschiedener Facetten der Weiblichkeit und zeigt vor allem in starker Weise die Wechselbeziehungen zwischen den drei jungen Frauen.
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Wenn man in Israel aufwächst, wird man sowieso auch schon als Jugendlicher permanent mit der realen Welt und dem sogenannten »Ernst des Lebens« konfrontiert. Quasi spiegelbildlich zu den drei Mädchen in Likemeback zeigt Hatzlila von Yona Rozenkier drei junge Männer, drei Brüder, die sich in dem Kibbuz treffen, in dem sie aufgewachsen sind, um ihren Vater zu beerdigen. Zwei Tage später muss der jüngste von ihnen, der gerade seinen
Militärdienst leistet, an eine gefährliche Front. Er holt sich Rat bei den Brüdern – aber allmählich eskalieren die Gespräche.
Und so zeichnet dieses israelische Debüt ein subtiles, manchmal humorvolles Porträt der komplexen israelischen Gesellschaft, die sich von ihrem alten Staatsmodell – säkular, liberalsozialistisch, westlich-orientiert – längst innerlich verabschiedet, und sich mehrheitlich ins Konservativ-Autoritäre wandelt: Am Horizont
erscheinen die Konturen eines jüdischen Gottesstaats.
(to be continued)