The Future of … Rotterdam |
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Dana Linssen und Jan Pieter Ekker auf dem Podium zur »Nachhaltigen Filmkritik«, das am Mittwoch abgehalten wurde | ||
(Foto: Dunja Bialas) |
Von Dunja Bialas
Rotterdam, der größte europäische Hafen, hat sich selbst abgehängt. Die großen Containerschiffe werden jetzt Off-Shore, mitten in der Nordsee, abgefertigt, der Hafen erlebt damit einen Strukturwandel wie dereinst das Ruhrgebiet. Schon seit Jahren schießen rings um die Hafengegend poshe Design-Hochhäuser aus dem Boden. Diese sind keinesfalls urban-hafenstädtisch, mehr hyggelig-heimelig, very good taste, very Dutch. Im alten Hafengebiet machen sich jetzt in einer ehemaligen Schwimmhalle Start-ups breit, die junges, hippes und nicht zuletzt solventes Publikum anziehen sollen. Galt die Stadt einst als größtes Nagelstudio Europas, für das nicht einmal eine Ansichtskarte aufzutreiben war, hat es sich jetzt zu einer Architektur- & Design-Metropole gentrifiziert – heute noch zukünftig, aber morgen vielleicht schon: slick & lame?
In dieser Stadt des schnellen Umbruchs findet eines der größten Publikums-Festivals Europas statt, mit der Spannbreite von Crowd-Pleasern bis Experimentalfilm. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den unterrepräsentierten Länder Asiens, Afrikas und Latein-Amerikas. Asien hat die Stadt geprägt und dem Festival sein Logo, einen Tigerkopf, gegeben. In der Vergangenheit hat der Kontinent auch immer wieder für Schwerpunkte gesorgt, wie jetzt die Tamilen-Reihe »House On Fire«. Der frühere Rotterdam-Leiter Gertjan Zuilhof hatte einst ein Africa-Co-Produktionsprojekt gestartet, und auch dieses Jahr war Afrika wieder mit »Beyond Nollywood« und »Pan-African Cinema Today« im Fokus.
Das Gros der Filme, die auf dem Festival zu sehen sind, lässt sich insgesamt unter dem Stichwort »unvisible« oder »underrated« verorten. Viele der Filme touren auf den Festivals der Welt, manche von ihnen sind ausgesprochene Festivalfilme, die eigens für den »Festival-Zirkus« entstanden sind (oder auch nur deshalb entstehen konnten, weil es diesen gibt). Der seit fast dreißig Jahre bestehende »Hubert Bals Fund« leistet Produktionshilfe für Filmprojekte aus den benachteiligten Ländern der Kontinente, einschließlich Osteuropas, die dann auch wieder in Rotterdam Premiere haben und in den Festivalkreislauf eintreten.
Welche Lebensdauer aber haben diese Filme? Wer sieht sie? Wie kann sich die Entwicklungs-Arbeit des Festivals lohnen, wie die Arbeit der Filmemacher entlohnt werden? Nachhaltigkeit soll im Zentrum der neuen Streaming-Plattform IFFR Unleashed stehen, die jetzt der marketingversierte Leiter Bero Beyer vom Stapel gelassen hat. Ziel ist, die Independent-Filmemacher sichtbar zu halten und ihnen ganzjährig ein Online-Publikum zu ermöglichen. Rotterdam ist aber auch ein Festival der Vorpremieren und der großen Weltvertriebe, die betreffenden Filme wird man jedoch auf der Plattform – nicht nur aus rechtlichen Gründen – kaum finden. Idee ist vielmehr, so Beyer, »handverlesene Auteur-Highlights« zu präsentieren und Publikumslieblinge des Beyond-Arthouse-Sektors. Oder mit den Worten des Festivals: »Not your everyday films.«
Sieht man sich wenige Tage nach dem Release auf der Pay-per-View-Seite um (4€/1€ für Kurzfilm – Flatrate nur für die Benelux-Länder), so ist das Angebot mit ca. zwei Dutzend Titeln noch ziemlich übersichtlich. Überraschenderweise sind auch ein paar Filme dabei, die unlängst im Kino zu sehen waren und allgemein zugänglich sind, wie Only Lovers Left Alive (Jim Jarmusch), Eden (Mia Hansen-Love), A Girl Walks Home Alone At Night (Ana Lily Amirpur) oder Black Blood (Miaoyan Zhang). Die bekannten Titel sollen aber womöglich dem Publikum nur ein Setting geben für außerhalb Rotterdams noch nie gehörte Titel wie Amijima (Jorge Suárez-Quiñones Rivas), Los decentes (Lukas Valentas Rinner) oder Fat boy never slim (Sorayos Prapapan). Einige Autoren des Weltkinos sind dabei, die zumindest all jenen bekannt sein dürften, die ein wenig Einblick in die Filme der Festivals und entfernte Filmländer haben. So etwa von Matías Meyer, Milagros Mumenthaler (ja, viele Latinos sind hier auffindbar!), Andrea Arnold oder auch Alexander Payne.
Insgesamt sind es noch recht wenige Titel, die sich auf der Seite befinden, und leider kann man nicht nach Festival-Editionen suchen, was die Recherche ein wenig wie in einer analogen Buchhandlung gestaltet: man muss alle Titel durchgehen, um fündig zu werden. Die Suchmaske bietet als einzigen Filter »In the mood to« an, mit den äußerst schwammingen und gewollt subjektiven Unterabteilungen »reflect – think – feel – thrill – discover – indulge«. Sortiert man nach der letzten Kategorie kommt man übrigens zu den sehr empfehlenswerten Filmen Finisterrae (Sergio Caballero), Mouse Palace (Harald Hund & Paul Horn), The Hollow Coin (Frank Heath), Eden und Nebraska. Was aber, bitteschön, ist hier das gemeinsame »indulgent«?
Es bleibt noch einiges zu verbessern und vor allem auch auszubauen, bevor »IFFR Unleashed« wirklich mit Mubi oder gar der Profi-Plattform Festivalscope mithalten kann. Und: Einen Besuch des Festivals ersetzt das Angebot keineswegs.
Will »IFFR Unleashed« helfen, seltene Filme für jedermann zugänglich zu machen, den Regisseuren ein nachhaltiges Publikum zu verschaffen, so hatte ähnliches Dana Linssen und ihr Kollege Jan Pieter Ekker im Sinn, als sie 2015 die »Critic’s Choice« zurück auf das Rotterdamer Festival brachten. Dana Linssen, die den Begriff des »Slow Criticism« prägte, schrieb 2009 im Filmskrant: »The past year showed an alarming decline in the editorial space for film criticism in traditional media, whereas on the internet the speed of recycled opinions was approximating the grotesque. Critics were fired, others were syndicated, some were replaced by sports reporters since some distant marketing exec had the idea that, oh!, that scary anonymous reader was no longer interested in expert journalism. (…) As film criticism is becoming a commodity and a marketing tool, — you name it, we've got it —, it’s no longer the film critic who sets the agenda, it’s the festival calendar, the release schedule, the availability of stars and 'talents', and the favours of publicists. And of course we're not supposed to talk about this, because it’s not corruption, it’s pragmatism.« Dana Linssen ruft zu einer kontinuierlichen »counterbalance« auf, einem Gegengewicht gegen die Filmkritik der Beschleuning unter den Vorzeichen des Marketings. Dazu gehört auch, Filmtitel gegen den Strom zu besprechen, also gegen den Gedanken-Mainstream, aber auch gegen den Mainstream des Angebots unbekannte Filme mit Texten zu bedenken.
Im vierten Jahr der Critic’s Choice haben Dana Linssen und Jan Pieter Ekker noch einmal draufgelegt und den Sustainable Criticism ausgerufen. Sie wollen damit fortfahren, »beyond crisis of criticism« über letzteren nachzudenken und zu überlegen, welche Zukunft Filmkritik erwartet, abseits der beruflich desolaten Situation. Einen Terminus aus der Ökologie verwendend, wollen sie wissen, wie in der beschleunigten Text-Produktion und Filmverwertung / -Verwerfung ein respektvoller Umgang mit den Ressourcen – dem eigenen Text, dem besprochenen Film – gefunden werden kann: »Writing about mainstream films and blockbusters and reporting on stars have become ways to attract attention of a readership, in favour of this other and older journalistic function: an independent inquiry and evaluation of the news. Film journalis today has exchanged the 'new' for the 'known, tried and tested'.«
Wie in den Ausgaben zuvor haben sie vereinzelten Filmen prägnante Video-Essays vorangestellt, die gleichermaßen unterhaltsam wie erhellend sind. Kevin B. Lee beispielsweise (hier sein Beitrag auf einem Symposium zu zehn Jahren audiovisuelle Filmkritik, zu deren Boom er maßgeblich beigetragen hat) hat gar einen Essay zu James Bennings Readers erstellt, den er gar nicht gesehen, geschweige denn von dem er Snippets hatte (in Zusammenarbeit mit Chloé Galibert). Aufgrund von Reviews, die bereits im Netz erschienen waren, konstruiert er sich Bennings Film in faktischer Art: Wie viele Leser, wie lange dauern die Einstellungen, welche Titel? Auch die Frage, ab wann ein Film durch Spoiler kaputt gemacht werden kann, oder wie falsche Herangehensweisen den Blick auf einen Film verstellen können, macht dieser Essay prägnant deutlich. Das große Ziel ist, die Filmkritik in Worten oder audiovisuell, gegen ihre Indienstnahme von Verleihern oder World Sales Agents zu verteidigen, stark zu machen. Für Kevin B. Lee ist es daher auch wichtig, eher Fragen zu stellen, statt beim »filmsplaining« mitzumachen, bei dem meist junge weiße Männer das letzte Wort über die Filme haben wollen, die sie erklären. Seine dekonstruktivistischen Essays, die Bedeutungen zum Spielen bringen und Räume zwischen den Bildern eröffnen, sind dafür eine denkbar grandiose Form.