75. Filmfestspiele von Venedig 2018
Die Vertreibung aus dem Cinema Paradiso |
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Roma: Der beste Goldene Löwe seit mindestens zehn Jahren... | ||
(Foto: Netflix) |
Roma – das stark autobiographische Familienportrait des Mexikaners Alfonso Cuarón gewinnt den Goldenen Löwen von Venedig.
Es war keine echte Überraschung, als dieser Preis am Samstagabend verkündet wurde. Denn in dem wohl stärksten Wettbewerb seit einem Jahrzehnt gab es zwar keinen klaren Favoriten. Aber das lateinamerikanische Kino war mit zwei mexikanischen
und zwei argentinischen Beiträgen besonders prägnant vertreten, und Roma – benannt nicht etwa nach der italienischen Hauptstadt, sondern nach einem Stadtviertel in Mexico-City – war unter all den herausragenden Filmen am ehesten derjenige, auf den sich alle einigen konnten. Zum zweiten Mal hintereinander gewinnt in Venedig also ein Mexikaner, zum dritten Mal in vier Jahren
ein Film aus Lateinamerika.
Auch die zwei Preise für Yorgos Lanthimos The Favourite waren erwartet worden. Und dass die einzige Frau im Wettbewerb, die Australierin Jennifer Kent, trotz schlechter Rezensionen im Jahr von »Me Too« und einer von Schauspielerinnen dominierten Jury nicht leer ausgehen würde, war auch schon klar, bevor das Festival begonnen hatte.
Am
schwersten nachvollziehbar waren die zwei Preise für die beiden Wild-West-Filme. Sowohl die Coen-Brüder als auch der Franzose Jacques Audiard boten hier eher Kino-Hausmannskost, Western von Gestern, die weder grandios unterhielten, noch tiefere Bedeutung boten – vermutlich galten die Preise hier den Namen und dem Gesamtwerk der Regisseure. Schade dass dagegen die mutigsten bildkräftigen Werke, der ungarische Sunset (immerhin der FIPRESCI-Preis ging an ihn), der italienische Suspiria und Vox Lux aus Amerika gar nicht gewürdigt wurden.
Es waren vielleicht doch zu viele Schauspieler in der Jury, da ist selten ein gutes Juryergebnis zu erwarten. Trine Dyrholm,
Nicole Garcia, Naomi Watts, Sylvia Chang, Christoph Waltz. Immerhin haben Garcia und Chang schon Regie geführt.
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Das beherrschende Gesprächsthema an dieser Preisvergabe war aber etwas ganz anderes: Dass mit »Roma« erstmals ein Film einen der bedeutendsten Filmpreise erhielt, der von Netflix finanziert wurde, spaltet die internationale Kinoszene.
Unter den Streamingportalen, den neuen Playern im globalen Filmmarkt, ist Netflix der aggressivste und gefährlichste. Er hat dem Kino selbst den Kampf angesagt, setzt nicht auf Koexistenz, sondern auf dessen Vernichtung. Hier liegt der
Unterschied zu anderen Streaming-Diensten. Daher ist der Preis für einen Netflix-Film ein Politikum.
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Für das Festival von Venedig beginnen damit erst die Probleme. In diesem Jahr nutzte man aus, dass sich das Festival von Cannes durch den öffentlichen Boykott von Netflix-Produkten scheinbar eine Blöße gegeben hatte.
Aber auch in Italien und auf europäischer Ebene gab es heftige Kritik an dieser Venezianer Einladungspolitik – und keineswegs nur von jenen Ewiggestrigen, die den Cinema-Paradiso-Traum weiterträumen wollen.
Vergessen wir nicht: Filmfestivals wie Venedig
oder die Berlinale werden mit massiven öffentlichen Geldmitteln gefördert. Sie sollen damit eine Feier des Mediums Kino zelebrieren, und nicht zuletzt Autorenfilmen Raum geben, solchem Kino, das mutig, schwierig und experimentell ist.
Sie sollen aber nicht Produktionsfirmen und Marktteilnehmern den Roten Teppich ausrollen, die mit unfairen Mitteln agieren und eben dieses gewünschte, förderungswürdige Medium Kino zerstören wollen.
Zwar hat Netflix scheinbar eingelenkt und versprochen, Filme wie Alfonso Cuaróns Siegerfilm zunächst im Kino herauszubringen. Ob sich damit aber die grundsätzliche Netflix-Strategie, dem Kino den Krieg zu erklären, verändert, bleibt erstmal offen.
Gut möglich, dass Netflix ein paar hippe Kinoregisseure und ein paar Beispiele kunstvollen Autorenkinos nur benutzt, um seine eigentlichen Absichten nur etwas geschickter zu kaschieren.
Die Filmbranche muss wachsam bleiben und zusammenhalten, um sich gegen die aggressiven Netflix-Populisten zu wehren, um den Vorrang der Kinokunst und ihrer Räume gegenüber den neoliberalen Geldhaien aus Amerika zu verteidigen.
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Daran, dass Alfonso Cuarón ein wunderschöner, mitreißender preiswürdiger Film und der beste Goldene Löwe seit mindestens zehn Jahren, ja vermutlich sogar seit den Gold-Löwen für Takeshi Kitano und Zhang Yimou Ende der 1990er gelungen ist, ändern solche Bedenken nichts.
Und gegenüber Cannes hat Venedig weiterhin Terrain gutgemacht. Hier laufen nicht nur US-Amerikaner, hier sieht man Herausragendes aus der ganzen Welt. Autorenfilm mischt sich mit Genrekino, digitale Streamingfilme mit Kino, das auf klassischem analogem 35mm-Material gedreht wurde, und das entgegen allen Technik-Apokalyptikern seinen festen Platz im Weltkino behauptet.
(to be continued)